Terapolis. Tom Dekker

Terapolis - Tom Dekker


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dem Boden aus.

      Pater Elia, Hanson, Mav und einige andere Neugierige scharten sich um ihn und betrachteten die Karte. „Kovalzcyk?“, hörte Greg hinter seinem Rücken raunen. Er meinte, auch ein paar zustimmende Grunzer zu erahnen, während er sich konzentrierte, um zwischen den vielen Punkten und Strichen die Stelle wiederzufinden, die Nick ihm bezeichnet hatte. Endlich entdeckte er den Punkt mit der Markierung 95B457 und tippte mit dem Finger darauf. „Ich komme von dort.“, war alles, was er sagte.

      Pater Elia nickte Hanson zu. „Pack die Karte erst einmal weg, Greg!“, meinte er. „Wir werden sie uns später noch einmal genauer anschauen.“ Die Leute um ihn herum zogen sich wieder zurück, so dass er mit Mav allein in der Mitte des Saales stehen blieb. Hastig faltete Greg die Karte zusammen und schob sie zurück in die Innentasche seiner Jacke.

      „Also, nach allem, was wir bisher herausbekommen haben, ist Greg Hals über Kopf aus seiner City geflohen, nachdem er einen reichen Fabrikbesitzer tot aufgefunden hat.“, begann Hanson, die Situation für alle zusammenzufassen. „Möglicherweise hat das Ganze etwas mit Collin Rand zu tun, von dem einige Kunde sogar bis zu uns vorgedrungen ist,“ - zustimmendes Murmeln ließ ihn kurz innehalten - „aber dessen können wir nicht sicher sein. Greg reiste nach Art der Tramps unter einem Nachtzug, wurde auf offener Strecke losgeeist und dann von dieser tapferen Schar“, bei diesen Worten zeigte er auf Nici, Mara und Stan, die zusammen auf einer der Bänke saßen, „gerettet.“ Alle Augen richteten sich auf die Jugendlichen. Stan reckte die Brust heraus heraus, Nici winkte fröhlich in die Runde und Mara rollte so angewidert mit den Augen, dass die meisten schnell wieder zu Hanson und den beiden Jungen in der Mitte des Raums schauten. „Dann haben sie ihn hierher gebracht und wir müssen nun entscheiden, wie wir weiter vorgehen sollen.“

      Die Männer und Frauen saßen mit angespannten Mienen auf den Bänken. Greg konnte die Intensität des Nachdenkens, dass sich in den Köpfen abspielte, förmlich mit Händen greifen. Es kam ihm vor, als ob alle Blicke auf ihn geheftet waren. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in seinem gesamten Körper aus. Hilfesuchend schaute er sich um und blieb wieder an diesem Paar grün-brauner Augen hängen, die ihn unverwandt musterten. Wie wunderschön, faszinierend, tiefgründig und zugleich erschreckend verwirrend diese Augen waren.

      „Woher sollen wir wissen, ob wir ihm glauben können?“, brach eine krächzende Männerstimme die Stille.

      „Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Wir müssen uns auf unseren Instinkt und unseren Menschenverstand verlassen.“, antwortete Pater Elia ruhig.

      Greg riss sich von den Augen des Mädchens los und versuchte, der sich entspinnenden Diskussion zu folgen. Hauptsächlich ging es darum, ob Gregs Anwesenheit in der Kolonie eine Gefahr für die Menschen darstellte. Der lange Schatten Collin Rands schien sogar bis hierher zu reichen, denn sein Name fiel häufiger. Bald konnte Greg die Redner in drei Fraktionen einteilen. Es gab diejenigen, die den arroganten, eingebildeten und unfähigen City-Regenten gern eins auswischen wollten und schon aus Prinzip Greg auch aufgenommen hätten, wenn er tatsächlich ein feiger Mörder gewesen wäre. Dann gab es eine ängstliche Gruppe, die der Meinung war, dass eine kleine Kolonie unmöglich einer City die Stirn bieten könne. Diese Leute hatten Angst um ihr Leben und den Fortbestand der Kolonie, sollte Greg hier gefunden werden. Und dann gab es eine Fraktion, die der Meinung war, was in den Cities vorging, ginge sie nichts an. Sie pochten auf die Unabhängigkeit der Kolonie, waren aber uneins in der Frage, ob sie sich deshalb am besten aus allem heraushalten oder doch eher ihre Werte und Vorstellungen schon fast offen missionarisch nach Außen tragen sollten.

      Je länger die Diskussion lief, umso verworrener wurden die Argumente. Schon bald kam es Greg so vor, als ob es hier gar nicht so sehr um ihn ging. Eher schienen die Menschen eine grundlegende Diskussion darüber zu führen, wie ihr Gemeinwesen aussehen sollte. Die Behauptungen und Annahmen wurden immer theoretischer und irgendwie gewann Greg den Eindruck, als hätten sie Spaß an dieser Art Debatte. Er hatte das Gefühl, völlig fehl am Platze zu sein, obwohl es hier doch in erster Linie um seine Zukunft gehen sollte.

      Die Zeit schien endlos langsam zu verstreichen, die Schatten in dem Raum wurden länger, die Buntglasfenster verloren an Glanz und die Feuerbecken, deren Flackern sich in den Gesichtern der Menschen spiegelte, waren bald die einzige Lichtquelle. Greg taten alle Knochen weh und seit einiger Zeit spürte er ein rhythmisches Pochen in seinem geschwollenen Auge. Alles begann, sich um ihn zu drehen und er musste sich an Mav festhalten, um nicht hinzustürzen. Ob Hanson seinen Zustand bemerkt hatte, konnte Greg nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls klopfte dieser plötzlich laut mit dem Stein auf das Pult. Die Redebeiträge und das permanente Getuschel und Gemurmel, das die ganze Zeit über einen unterschwelligen Klangteppich gebildet hatte, verebbten.

      „Bürger. Es ist schon spät. Es wird Zeit, dass wir eine Entscheidung treffen. Es kann heute nur darum gehen, ob wir Greg vorläufig Unterschlupf gewähren. Ich schlage vor, dass wir zunächst entscheiden, ob er für drei Tage bei uns bleiben darf. Bis dahin sollte es uns gelungen sein, genauere Informationen einzuholen. Dann können wir unser weiteres Vorgehen besprechen.“

      Zustimmendes Gemurmel erhob sich. „Wie üblich bei solch wichtigen Entscheidungen, werden wir das Verfahren des Rösselsprungs anwenden. Diejenigen von euch, die mit Ja stimmen, verlassen das Gemeindehaus durch den Haupteingang, die Gegner des Antrags gehen durch die Seitenpforte.“ Dabei zeigte er auf eine der Türen in der linken Wand, die sogleich von zwei Frauen geöffnet wurde. „Pater Elia und ich werden die Stimmen zählen und dann das Ergebnis verkünden.“

      Greg hatte erwartet, dass nun ein wildes Chaos oder Gerangel entstehen würde. Doch die Menschen erhoben sich langsam und gingen in beinahe würdevoller Ruhe auf die beiden Türen zu. Auf beiden Seiten bildeten sich Schlangen von Wartenden. Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Greg die Männer und Frauen. Es war auf die Schnelle nicht zu erkennen, welche Seite mehr Anhänger hatte.

      Greg spürte einen sanften Zug an seinem rechten Ärmel und schaute sich um. Nici stand neben ihm und strahlte ihn an. „Komm!“, sagte sie freundlich und winkte mit ihrer freien Hand. „Wir gehen auch raus. Dort kannst du dich hinsetzen und verschnaufen.“

      Greg fand keinen Grund, der gegen diesen Vorschlag sprechen konnte und ließ sich bereitwillig von Nici und Mav durch eine weitere Tür in die anbrechende Nacht führen. Stan und Mara schlossen sich der kleinen Gruppe an. Sie kamen auf einer Nebenstraße aus dem Gebäude und liefen um eine Ecke zurück auf den großen Platz. Einige der wahlberechtigten Männer und Frauen waren bereits zu der Menge getreten, die draußen der Debatte gelauscht hatte, aber viele schienen noch hinter den Türen darauf zu warten, ihre Stimme abgeben zu können. Erschöpft ließ sich Greg neben Nici und Mav auf den Boden sinken und blickte mit banger Erwartung auf die beiden Türen, durch die die Wähler traten. „Das sind alles unsere Repräsentanten.“, riss ihn Nici aus seinen Gedanken. Sie betonte das letzte Wort mit dem ganzen Stolz eines Kindes, das ein sehr schwieriges Wort gelernt hatte und sich sicher war, etwas zu wissen, was anderen noch fremd war. „Weißt du, es können ja nicht immer alle wählen. Das würde viel zu lange dauern. Darum bestimmt jedes Doppelhaus einen Vertreter, der in den Versammlungen mit abstimmen darf. Jedes Jahr muss es ein neuer sein, damit jeder mal mitmachen darf.“, sagte sie aufgeregt. „Irgendwann bin ich auch dabei.“, warf sie sich in die Brust.

      „Aber lange nach mir.“, prahlte Stan.

      „Wenn ihr überhaupt alt genug werdet, das zu erleben.“, raunte Mara theatralisch.

      Greg sah Nici an, dass sie eine patzige Antwort auf den Lippen hatte, aber Stan legte ihr die Hand auf den Arm. „Psssst! Sie sind fertig.“, flüsterte er.

      In der Tat legte sich das aufgeregte Gemurmel auf dem Platz. Alle Köpfe wandten sich in die Richtung des Haupteingangs des Gemeindehauses, vor dem Hanson und Pater Elia standen und sich berieten. Dann hob Pater Elia feierlich die Hände und auch die letzten Gespräche verstummten.

      „Wir haben darüber abgestimmt, ob Greg für drei Tage unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen darf. Alle Wahlberechtigten haben das Gebäude verlassen. Das Ergebnis lautet wie folgt. Dafür stimmten 53 Repräsentanten, dagegen 42. Damit stimmt die Versammlung dafür, Greg zunächst Unterschlupf zu gewähren.“

      Es


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