Terapolis. Tom Dekker

Terapolis - Tom Dekker


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Lederhose gesteckt worden und seinen Oberkörper bedeckte ein weites Baumwollhemd. Ein Blick durch das Zimmer bestätigte seinen nächsten Verdacht – auch die Schuhe vor dem Bett waren nicht seine. Trotzdem setzte er sich auf die Bettkante und zog die Schnürstiefel, die man ihm hingestellt hatte und die sich, wie er zugeben musste, äußerst bequem an seine Füße schmiegten, an. Am Fußende des Bettes entdeckte er noch eine Lederweste und eine Zeitungsjungenmütze, die wohl ebenfalls zu seinem neuen Aufzug gehören sollten. Aber wo um alles in der Welt waren seine alten Sachen? Nicht, dass Greg an der Tuchhose oder der Wolljacke sonderlich gehangen hätte oder dass ihm seine alten, ausgetretenen Schuhe lieber gewesen wären als diese neuen, wunderbar angenehm zu tragenden Stiefel. Aber in seiner Jacke steckte alles, was er noch besaß. Und ohne Karte und Passierschein würde er es nie bis zur Terapolis schaffen und könnte so auch nie seine Unschuld beweisen.

      Mit einem energischen Ruck öffnete er die Tür der kleinen Kammer und stieg mühsam und unter Schmerzen eine Stiege hinab, über die man offenbar das Erdgeschoss erreichen konnte. Unten hörte er Töpfe klappern, es musste also jemand im Haus sein. Er lauschte kurz, das Geklapper kam eindeutig von rechts. Also beschloss er, dem Krach zu folgen und kurz darauf stand er in einer engen, verrauchten Küche. An einem einfachen Ofenherd stand eine Frau und versuchte, in mehreren Töpfen gleichzeitig zu rühren. Sie trug ein feuerrotes, enges Kleid mit Korsett und eine Lederjacke. Ihre blau-schwarzen Haare lugten unter einem breitkrempigen Sommerhut hervor, womit sie einen deutlichen Kontrast zu der eher dunklen, stickigen Atmosphäre der Küche schuf. Mehrere Nietenarmbänder lagen um ihren linken Unterarm. Sonst war niemand zu sehen.

      Greg wollte nicht unhöflich sein, deshalb räusperte er sich geräuschvoll.

      „Ah, bist du endlich wach?“, fragte die Frau gelassen, ohne den Blick von den Kochtöpfen zu wenden.

      „Äh, ja.“, brachte Greg hervor. „Wo sind meine...“

      „Auf der Kommode gleich neben der Tür.“, beantwortete die Frau seine unausgesprochene Frage. „Ich habe alles aus der Jacke genommen, bevor ich sie gewaschen habe. Du solltest aber lieber die Sachen anbehalten, die wir dir gestern Abend angezogen haben.“ Ohne sich umzudrehen, deutete sie auf eine kleine Holzschale, die neben Gregs zusammengelegten Kleidern auf der Kommode stand und in der er seine Habseligkeiten erkannte. Dann hob sie einen schweren Topf vom Herd und balancierte ihn vorsichtig zu einem großen runden Tisch, der das Zentrum der Küche einnahm. Endlich erkannte Greg, dass sie noch gar keine Frau war. Es handelte sich um das Mädchen, das er gestern im Gemeindehaus gesehen und das ihn am Abend verarztet hatte. Schlagartig spürte er, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Ihr habt mich umgezogen? Heißt das, du..., also..., naja..., du hast...“

      Das Mädchen hatte den Topf auf den Tisch gestellt, die Hände in die Hüften gestemmt und bedachte ihn mit einem spöttischen Grinsen. „Ob ich dich ausgezogen habe? Gott bewahre! Das haben die Jungs erledigt.“, sagte sie mit einer beschwichtigenden Handbewegung. „Wie geht es dir?“, fragte sie und kam einige Schritte auf Greg zu.

      „Es geht schon etwas besser.“, antwortete er. „Alles tut mir noch weh. Aber besonders schlimm ist das Auge. Es brennt noch immer furchtbar.“

      Sie nickte, als wüsste sie genau, wie es sich in seinem Gesicht gerade anfühlte. „Ja, das ist normal. Ich hoffe, es ist nicht zu schlimm verletzt. Grub wird es sich bald ansehen, dann wissen wir mehr.“

      Ach ja, das war ja der Erfinder und Arzt. Mav und Stan hatten über ihn geredet. „Wer ist denn dieser Grub?“, fragte Greg, um das Gespräch am Laufen zu halten.

      „Oh, er ist der größte Erfinder, den du jemals getroffen hast.“, begann sie zu schwärmen. „Und er hat heilende Hände, genau wie ich.“, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.

      „Bist du so eine Art Hexe?“, fragte Greg skeptisch und spürte, wie sich sein Körper verspannte.

      „Iwo.“, brummelte die Stimme eines alten Mannes hinter ihm. Greg machte einen Schritt zur Seite, um die Tür freizugeben und erblickte einen hageren, alten Mann mit langen grauen Haaren und einem Bart, in dem eine ganze Eichhörnchenfamilie ihr Nest hätte bauen können. Seine Kleidung ähnelte stark Gregs neuem Aufzug, nur dass sie in einem eher ungepflegten Zustand war und der Mann einen schweren Ledermantel trug. Der dadurch entstehende heruntergekommene Eindruck wurde aber durch das offene, fröhliche Leuchten seiner blauen Augen mehr als wettgemacht.

      „Trisha ist keine Hexe.“, berichtete der Mann unbekümmert. „Sie ist ein aetherisches Wesen. Das ist alles.“, fügte er mit einer freundlichen Stimme hinzu, so als würde er sich mit einem Bekannten über alte Kochrezepte austauschen.

      „Sie ist was?“, fragte Greg nach.

      „Ein aetherisches Wesen.“, wiederholte der Mann besonders langsam und mit starker Betonung. „Sie kann den Aether spüren und mit ihm arbeiten. So wie ich.“ Er strahlte Greg an, der auf der Stelle einen Schritt zurück machte und mit der Ferse eine leere Milchkanne umstieß, die auf dem Boden gestanden hatte.

      „Sind Sie ein Zauberer?“, fragte er ehrfurchtsvoll.

      „Ein Zauberer?“, kicherte der alte Mann. „Die gibt es doch nur im Märchen. Aber wo bleiben nur meine Manieren.“ Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich bin Grub. Erfinder und Arzt. Der Herr hat in meinem Haus genächtigt und ich hoffe doch, er hat sich vortrefflich erholt.“ Bei diesen Worten streckte er Greg mit einem weiteren strahlenden Lächeln seine Rechte entgegen.

      Greg schüttelte die Hand und blickte zwischen Grub und Trisha hin und her. „Aetherische Wesen?“, fragte er ungläubig, ohne auf die Frage seines Gastgebers zu reagieren. „So wie Feen?“

      Trisha schnaubte missbilligend. „Wir sind weder Hexen, noch Zauberer und schon gar keine Feen. Wir können einfach das Aether, das uns überall umgibt, erspüren und zum Nutzen der Menschen einsetzen. Das könnte jeder, aber die meisten sind ja viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um es überhaupt zu versuchen.“ Sie machte eine kleine Kunstpause, um ihren Worten das nötige Gewicht zu verleihen. „Essen ist fertig.“, rief sie dann so laut, als müsste sie noch eine Kompanie Erntejungen vom Feld in die Küche rufen und ließ sich an dem Tisch nieder.

      Greg setzte sich an den Tisch, auf dem drei Holzschalen mit Löffeln und drei Keramikbecher standen. Offenbar waren doch keine weiteren Gäste eingeladen. Greg versuchte, einen Blick in die drei Töpfe, die Trisha in die Mitte des Tisches gestellt hatte, zu erhaschen. In dem größten befand sich ein orangefarben leuchtender Brei, die beiden kleineren schienen gekochtes Wurzelwerk und eine rote Soße zu enthalten. Es roch köstlich, wenn auch sehr fremdartig. Greg überkam ein plötzliches Hungergefühl. Er hatte seit seiner Flucht aus der City noch nicht viele Möglichkeiten gehabt, etwas zu essen. Begierig blickte er zwischen den Töpfen hin und her. Es wäre unhöflich gewesen, sich in einem fremden Haus selbst zu bedienen, aber weder Trisha noch Grub machten Anstalten, sich etwas aufzutun. Stattdessen hatten sie die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände vor der Stirn gefalten und die Augen geschlossen.

      „Greg, würdest du den Tischsegen für uns sprechen?“, fragte Grub, ohne die Augen zu öffnen.

      „Den Tischsegen?“, antwortete Greg verdattert. Was für ein eigenartiger Brauch konnte das wieder sein.

      Trisha öffnete ein Auge und beobachtete Greg neugierig. In ihrem Blick sah er eine Faszination, wie sie ein Erfinder beim Betrachten einer ihm unbekannten Metalllegierung empfinden musste. „Du hast wirklich keine Ahnung, oder?“, flüsterte sie belustigt.

      Als Greg nur den Kopf schüttelte und die Schultern hob, bedeutete sie ihm, einfach die Augen zu schließen. Dann begann sie mit melodischer Stimme: „Herr, vielen Dank für die reichlichen Gaben, die du uns hast zuteil werden lassen. Segne dieses Mahl und diese kleine Gemeinschaft und hilf auch allen, denen es schlechter als uns geht. Amen.“

      „Amen.“, brummte Grub. Greg zögerte einen Augenblick, dann tat er es ihm gleich und öffnete vorsichtig das gesunde Auge. Trisha zwinkerte ihm zu. Grub hatte sich inzwischen eine große Kelle geschnappt und füllte Gregs Schüssel mit dem orangefarbenen Brei. „Morgum.“, erklärte er. „Einen besseren hast du noch nie gegessen.“,


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