Terapolis. Tom Dekker

Terapolis - Tom Dekker


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Unterbewusstsein wunderte sich, wieso die beiden in solcher Eile waren, da er aber weit und breit keine weitere Menschenseele erblicken konnte, die einen verbrecherischen Hintergrund erkennen ließ, beschloss sein Bewusstsein, sich nicht weiter um die Sache zu kümmern. Es durfte schließlich jeder seine eigenen Prioritäten setzen und wenn die beiden zu spät losgelaufen und nun in Hektik verfallen waren, war das kein Problem der Polizei. Bobbys Unterbewusstsein machte sich noch eine kurze Notiz, dass ihm der alte Mann irgendwoher bekannt vorkam, dann setzte er seine Patrouille fort, ohne noch einmal an die beiden Vorkommnisse zu denken. Es gab ja auch so viel Wichtiges zu beobachten.

      V

      Nick packte Greg erneut am Handgelenk und zerrte ihn weiter. Als sie das Industriegelände verließen, entdecke Greg auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Polizisten, der seelenruhig dahinschlenderte und mit wachem Blick die Umgebung beobachtete. Gregs Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Jetzt war alles gelaufen. Der Bobby schaute in ihre Richtung. Gleich würde er sie anhalten und dann würde es für Greg keinen Ausweg mehr geben. Nick zerrte ihn weiter und wedelte gleichzeitig mit seiner freien Hand. Winkte er etwa dem Polizisten zu? Wollte er ihn noch mehr auf sie aufmerksam machen? Doch zu Gregs großer Verwunderung wandte der Polizist seinen Blick ab und schien überhaupt keine Notiz von ihnen zu nehmen. Zum Nachdenken blieb ihm jedoch keine Zeit, denn Nick zog ihn immer weiter in einem wilden Lauf durch das Geschäftsviertel der City.

      Gregs Lungen brannten, die Beine wollten ihm den Dienst versagen, aber Nick ließ nicht locker und zwang ihn zu laufen, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gelaufen war. Erst, als sie die dampfenden Schornsteine der Fabrikhallen schon weit hinter sich gelassen hatten, ließ Nick sich auf eine Bank in einem kleinen Innenstadtpark fallen und zerrte Greg zu sich hinunter.

      „So, Junge. Und jetzt erzählst du mir erstmal, was das alles sollte!“, keuchte er und blickte Greg bohrend aus seinem gesunden linken Auge heraus an.

      „Fingrey.“, keuchte Greg und hielt sich die stechende linke Seite. „Er ist tot.“

      „Ja, das habe ich bemerkt.“, knurrte Nick.

      Greg sah ihn von der Seite her an. Sie kannten sich aus der Zeit, in der Greg noch nicht in der Gemeinschaft gelebt hatte. Für beide war der Markt ein lohnendes Revier gewesen und manchmal hatte der alte Nick, wie ihn alle nur nannten, dem elternlosen Straßenjungen einen Happen zugesteckt, wenn er gar zu hungrig gewirkt hatte.

      „Was hast du in der Fabrik gesucht?“, fragte ihn Greg misstrauisch.

      Nicks Haltung versteifte sich. „Ich wollte mit Fingrey sprechen.“

      „Worüber? Du arbeitest doch gar nicht bei ihm.“, hakte Greg nach.

      Nick machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Erzähl mir lieber, was passiert ist!“

      Greg zuckte mit den Schultern, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ja, was war eigentlich passiert? „Ich war gerade dabei, mit Smitty ein paar Rohre zu reparieren, als plötzlich eine Frauenstimme über Megaphon ausrief, dass ich sofort zu Mister Fingrey kommen sollte.“, begann er stockend zu erzählen. „Komisch eigentlich.“, fügte er nachdenklich hinzu.

      „Was ist komisch?“, wollte Nick, der sich interessiert nach vorn gebeugt hatte, wissen.

      „Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals jemand über Megaphon ausgerufen wurde. Normalerweise sagen einem die Vorarbeiter Bescheid. Und man sollte doch zumindest denken, dass Molly die Sache übernehmen würde und nicht irgendeine Frau, die niemand kennt.“

      Nick wurde hellhörig. „Wie meinst du das?“

      „Naja, Molly ist Mister Fingreys Sekretärin. Smitty hat sich auch gewundert, warum er plötzlich eine neue hat.“ Greg rief sich noch einmal die Situation in Erinnerung. Wie er mit Smitty dagestanden und sich über die Ansage gewundert hatte. Wie sein Name gefallen war und Smitty ihn schließlich gedrängt hatte, endlich loszugehen, bevor der Chef noch sauer würde. „Irgendetwas ist eigenartig.“, murmelte er gedankenversunken vor sich hin.

      „Inwiefern?“, fragte Nick und ließ Greg nicht aus den Augen.

      „Irgendwoher kannte ich die Stimme, aber mir will nicht einfallen, wer es war.“ Wütend schlug Greg die rechte Hand in die linke Faust.

      „Gut, du bist also zu Mister Fingrey gerufen worden.“, stellte Nick fest und versuchte, den Faden weiterzuspinnen. „Was ist dann passiert.“

      Greg zuckte mit den Schultern. „Ich bin zu seinem Büro gegangen, aber er hat nicht auf mein Klopfen reagiert. Dann habe ich es bei Molly probiert, aber die war nicht da. Durch die Verbindungstür bin ich in Mister Fingreys Büro gelaufen und habe ihn tot in seinem Sessel gefunden.“ Er zuckte noch einmal mit den Schultern und schaute Nick aus unschuldigen Augen an. „Und dann bist du gekommen.“

      „Verdammt!“, fluchte Nick und spuckte einen gelblichen Fladen auf das Pflaster vor ihnen. „Das ist ein ganz schönes Schlamassel. Und du steckst bis Oberkante Unterlippe drin.“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf Greg.

      „Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Greg in weinerlichem Tonfall. „Soll ich zur Polizei gehen.“

      Nick schüttelte energisch den Kopf. „Um Gottes Willen. Auf keinen Fall. Weißt du, wonach deine Geschichte für einen Bobby klingt?“

      Greg überlegte kurz und schaute ihn dann aus großen Augen ungläubig an.

      „Genau.“, nickte Nick zustimmend. „Für sie und die meisten Leute in dieser Stadt wird es so aussehen, als ob du Jesua Fingrey umgebracht hast. Du wirst zu ihm gerufen, einige Leute sehen, wie du der Aufforderung Folge leistest. Es ist sehr ungewöhnlich, dass man so gerufen wird, also musst du etwas schlimmes ausgefressen haben. Kurze Zeit später verlässt du fluchtartig die Fabrik und Fingrey wird tot in seinem Büro gefunden. Keine Tatwaffe, keine Zeugen, nur der geflüchtete Greg.“ Er atmete kurz durch. „Fall gelöst, würde ich sagen.“, stellte er mit kategorischem Tonfall fest. Als er Gregs fassungsloses Gesicht sah, dessen Farbe sich in ein ungesundes Weiß gewandelt hatte, legte er ihm eine Hand auf den Unterarm und fügte hastig hinzu: „Keine Sorge, Greg. Ich kenne dich schon lange. Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du es nicht warst. Aber im Moment hilft dir das sehr wenig. Du musst untertauchen.“

      Allmählich wurde Greg bewusst, in welcher Situation er sich befand. „Aber, wie soll ich das denn machen?“, fragte er ängstlich. Er hatte bereits die schlimmsten Geschichten von den Gefängnissen und Untersuchungszellen der Polizei gehört, und er wollte gar nicht wissen, was ihn erwartete, wenn er unter Mordverdacht dort hinein geriet.

      „Du musst verschwinden.“, sprach Nick die unangenehme Wahrheit aus. „Am besten, du verlässt für einige Zeit die Stadt. Geh in die Terapolis und suche Inspektor Freydt. Wir kennen uns. Wenn du ihm sagst, dass ich dich schicke und ihm das hier gibst,“ bei diesen Worten zeigte Nick Greg eine kleine kupferfarbene Münze, „wird er dir helfen.“

      Greg nahm die Münze so vorsichtig entgegen, als handle es sich um einen brennenden Span. „Danke.“, murmelte er.

      „Und noch etwas.“, sagte Nick mit ernster Miene. „Du kannst nicht zurück zu deiner Gemeinschaft.“

      Gregs Augen weiteten sich noch ein Stück.

      „Es ist zu gefährlich.“, erklärte ihm Nick. „Dort werden sie zuerst nach dir suchen.“ Er legte Greg einen Arm um die Schulter. „Ich werde Suri suchen und ihr Bescheid geben. Am Bahnhof gibt es einen alten Schuppen mit einem grünen Tor. Warte dort heute Abend.“ Er drückte Gregs Schulter noch einmal und erhob sich von der Bank.

      Greg war viel zu verwirrt, um zu protestieren. Stattdessen rutschte ihm eine Frage heraus, die schon seit dem Tag, an dem er Nick das erste Mal getroffen hatte, an ihm nagte. „Was ist eigentlich mit deinem Auge passiert, Nick?“

      Nick hielt in seiner Bewegung inne und drehte Greg sein Gesicht so zu, dass dieser sowohl die gesunde linke Hälfte als auch die aus einem Drahtgestell bestehende rechte Seite sehen konnte. „Das ist eine lange Geschichte.“, antwortete Nick nachdenklich.


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