Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
dem Oben, um das Wunder des einen Prozesses zu erreichen … heißt es da. Oder: Der eine Prozess steigt von der Erde zum Himmel und wieder hinunter zur Erde, um in einem größeren Oben und Unten wiedergeboren zu werden, um das Licht der ganzen Welt zu erben und alle Dunkelheit zum Weichen zu zwingen.
Ich verstehe nicht viel von dem, was da geschrieben steht. Aber ich verstehe auch nicht viel von dem, was die wahre Natur eines Alchemisten ausmachen soll. Sie waren Mischer von verschiedenen chemischen und biologischen Stoffen, immer auf der Suche nach einer neuen, großen Entdeckung. Sie hatten Laboratorien, in denen sie experimentierten, um lebenserhaltende Stoffe zu erfinden oder Gold herzustellen. Sie erforschten die Kräfte der Natur und versuchten sie sich zu Eigen zu machen. Sie suchten nach anderen Dimensionen und erforschten die Formen des Sterbens und der Wiedergeburt. Es gab Alchemisten, die als Hexer verbrannt wurden, weil sie blutjunge Mädchen töteten, um aus ihnen Lebenssaft für ein längeres Leben zu gewinnen.
Alles klang außergewöhnlich, aufregend und zum Teil auch völlig verrückt und gruselig.
Ich bin so in die Seiten vertieft, dass ich erst gar nicht bemerke, wie sich jemand unserem Garten über das angrenzende Maisfeld nähert. Erst als ich plötzlich eine seltsame Unruhe in mir spüre, sehe ich auf und fahre erschrocken zusammen.
Da ist wieder dieser Junge mit den dunklen Haaren und den dunklen Augen. Er kommt direkt auf unseren Garten zu, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass jemand über das Feld in unseren Garten marschiert. Doch er hält sich am untersten Ende unserer Rasenfläche auf und läuft zwischen der Bruchsteinmauer und den ersten Beeten mit der jungen Kastanie und den halb hohen Stauden auf das Grundstück des Nachbarn zu, das dieser als verwahrlostes Feuchtbiotop unbeachtet lässt. Der Junge scheint sich brennend für dieses letzte Stück unseres Gartens zu interessieren und sieht sich noch nicht einmal um, ob ihn vielleicht jemand beobachtet.
Ich liege hinter einem Blumenbeet, in dem die ersten Blumen, die Mama gepflanzt hatte, sich öffnen und überlege, was ich tun soll. Irgendwann wird er mich entdecken und das wäre mir wirklich peinlich, weil es so aussieht, als würde ich mich verstecken. Aber ich kann auch nicht so tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt.
Mit klopfendem Herzen krieche ich erst einmal weiter hinter das Beet und hoffe, er kommt nicht näher.
Doch den Gefallen tut er mir nicht. Er sucht weiter den Boden mit den Füßen ab und tritt an einigen Stellen mehrmals fest auf. Dabei kommt er mir bedenklich nahe. Er klettert sogar unter Mamas Wildrosenbusch, der an mein Beet grenzt und bleibt ein paar Mal an den langen Stacheln hängen.
Mir wird das Ganze langsam zu blöd. Was bildet sich der Typ eigentlich ein?
Gerade als er mir den Rücken zudreht, nehme ich allen Mut zusammen und springe auf. „Hey, was machst du hier?“
Ich will eigentlich ganz energisch klingen, doch meine Stimme kommt mir eher wie das Piepsen einer Maus vor.
Der Junge dreht sich langsam um. Hatte ich erwartet, dass er schnell das Weite suchen wird, so habe ich mich getäuscht. Stattdessen kommt er langsam auf mich zu.
Ich starre ihm entsetzt entgegen. Das kann er doch nicht machen!
Einen Moment überlege ich, ob ich nicht besser weglaufen soll. Doch diese dunklen Augen halten mich an meinem Platz. Er sieht entsetzlich gut aus und ich ertappe mich dabei, das auch noch zu bemerken. Er ist groß und schlank, trägt eine schwarze Jeans und einen dunkelblauen Pullover und seine schwarzen Haare glänzen in der Sonne.
Mein Herz pocht in meiner Brust, als wolle es herausspringen.
Als er nur noch einige Meter von mir entfernt ist, sagt er mit einer unglaublich wohlklingenden Stimme: „Und warum versteckst du dich hinter einem Blumenbeet?“
Ich spüre, wie ich rot wie eine Tomate werde. Umso wütender antworte ich ihm: „Weißt du nicht, was PRIVATGRUNDSTÜCK heißt? Da haben UNGEBETENE keinen Zutritt!“
Ein heiseres Lachen ertönt und ich fühle mich diesem Typ knietief unterlegen. „Also verschwinde hier!“, keife ich deshalb verbissen.
Doch er hört nicht auf mich, kommt näher, bis er vor mir steht und greift nach den Zetteln, die ich in den zitternden Händen halte. Er starrt mich erneut mit einem Ausdruck an, den ich nur schwer deuten kann. Leise raunt er: „Du interessierst dich für Alchemie?“
„Siehst du doch“, antworte ich biestig und reiße ihm die Zettel aus der Hand. Mit meinem aggressiven Verhalten versuche ich den seltsamen Tumult in meinem Inneren zu überspielen. Und da ist einiges, das überspielt werden muss.
„Hier wohnte mal ein Alchemist“, raunt er und seine dunklen Augen scheinen mich durchbohren zu wollen.
„Ich weiß“, murre ich und fühle mich unter seinem Blick wie eine Maus im Sichtfeld eines Bussards.
„Und ich weiß, dass du das weißt“, antwortet der Junge und dreht sich langsam um. Ich sehe ihm hinterher, wie er wieder die Rasenfläche zu dem Rosenbusch hinuntergeht.
Ich folge ihm vorsichtig und frage: „Was suchst du eigentlich?“, zu weiteren Feindseligkeiten nicht mehr fähig.
Der Junge sieht mich kurz an und scheint meine Frage nicht beantworten zu wollen. Das finde ich wieder extrem unhöflich und frage ihn noch einmal barsch: „Was suchst du in meinem Garten?“
Diesmal geht er einfach, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen, wieder Richtung Feld und murmelt, dass ich es noch gerade verstehen kann: „Haben dir deine Träume das noch nicht verraten?“
Ich will ihm folgen, bleibe aber wie angewurzelt stehen. Habe ich richtig gehört? Weiß dieser Kerl von meinen Träumen?
Ach Quatsch! Ich muss mich verhört haben.
Dennoch werde ich erneut wütend. Lässt mich der Kerl hier einfach ohne Erklärung stehen. Ich weiß immer noch nicht, was er in unserem Garten wollte und woher er Dinge weiß, die eigentlich nur ich und mein Bruder wissen können.
Ich flüstere zu mir selbst: „Das kann doch nur einer von Julians blöden Kumpels sein, dem Julian davon erzählt hat“, und beschließe, meinem Bruder am Abend gehörig die Meinung zu sagen.
Aber nun stehe ich nur mitten im Garten und starre dem Jungen hinterher, der über das Feld verschwindet. Die Sonne funkelt in seinen dunklen Haaren. Mir erscheint es fast so, als käme er von einem anderen Stern.
Ich kehre verwirrt zu meinem Platz zurück und werfe mich auf die Decke. Mein Herz schlägt immer noch bis zum Hals und ich schiebe es darauf, dass dieser Typ mich so wütend gemacht hat. Ich muss unbedingt abends Julian fragen, wer er ist.
In Gedanken sehe ich seine dunklen Haare erneut in der Sonne glänzen und wie er sich zu mir umdrehte und seine glühenden Augen auf mich richtete. Ich wünsche mir sofort, ihn bald wiederzusehen und mehr über ihn zu erfahren.
Schnell die Zettel greifend, versuche ich mich wieder der Studie über Alchemie zu widmen, muss mich aber geschlagen geben. Ich bin nicht in der Lage, diesen Jungen aus meinem Kopf zu verbannen. Weiß er wirklich von meinen Träumen?
Ich springe auf und beginne den Garten abzusuchen. Ich weiß nicht, was ich suche. Dennoch halte ich meine Augen auf den Boden vor mir gerichtet, um irgendetwas zu tun, was mich mit dem Jungen verbindet. In meinen Gedanken höre ich mich erneut fragen: „Was suchst du hier?“ Und seine Antwort durchdringt meinen Kopf wie eine Droge mit Horrorwirkung: „Haben dir deine Träume das noch nicht verraten?“
Die Sonne brennt auf mich hinunter und ich schwitze, obwohl ich nichts Anstrengendes tue. Ich krabbele auch unter den Rosenbusch und schreie auf, als die Dornen in meinem Haar festsitzen und mich nicht mehr freigeben wollen.
„Verdammt!“, schnauze ich und höre meine Mutter hinter mir sagen: „Nah, warte mal! Du hängst ja hoffnungslos fest. Ich helfe dir.“
Als sie mich befreit hat, sieht sie mich seltsam an. „Was suchst du unter dem Busch? Ostern ist echt schon eine Weile her.“
„Haha!“, fauche ich wütend darüber, mich in eine so missliche