Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen


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steht auf und ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Bus hält gerade an unserer Haltestelle. Schnell greife ich nach meiner Tasche und schiebe mich durch den Gang des Busses zum Ausgang, in den Gesichter prüfend, ob jemand meinen Anfall mitbekommen hat.

      Aber keiner sieht mich schräg an und ich bin etwas beruhigt. Erst als wir den Bus verlassen haben und ich zufällig noch einmal aufsehe, überkommt mich das ungute Gefühl, dass alle mich anstarren. Und als der Bus an uns vorbeizieht, trifft es mich wie ein Schlag. Von der hintersten Sitzreihe starrt mich der Junge mit den schwarzen Augen und den dunklen Haaren an, dem ich vor unserer Schule begegnet war.

      Erschrocken blicke ich dem Bus hinterher.

      „Was ist nun schon wieder? Hast du einen Geist gesehen?“ Christiane ist wirklich genervt. „Der Friedhof ist dir wohl nicht bekommen?“

      Um sie milde zu stimmen, denn ich will ihr auf keinen Fall etwas von dem Jungen sagen, antworte ich ihr mit einem gekonnten Augenaufschlag: „Ach Chrissi! Das ist doch Quatsch. Es ist alles in Ordnung.“

      Sie schlägt mir freundschaftlich auf den Rücken und grinst. In dem Moment hält der dunkle Volvo ihrer Mutter neben uns und wir beschließen später zu telefonieren, weil Christiane mir noch nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie am Nachmittag noch wegdarf.

      So gehe ich zu meinem Fahrrad und schließe das Schloss auf. Dabei merke ich erst, dass meine Hände zittern. Ist schon verrückt. Erst träume ich mitten im Schulbus, dass ich in einem Kriegsgebiet durch den Schlamm robbe und dann sitzt auch noch dieser Junge in meinem Bus. Und wie der mich ansah …

      Tief in meinem Inneren flattert etwas aufgeregt hin und her, was sich nur schwer ignorieren lässt. Daher versuche ich es erst gar nicht.

      Dieser Junge berührt mich irgendwie und weckt daher mein Interesse.

      Am Abend, als ich mit meinen Eltern und Julian am Tisch sitze und Abendbrot esse, erkläre ich: „Wir nehmen jetzt in Geschichte den Zweiten Weltkrieg und Hitler durch.“

      Ich habe von allem eigentlich gar keine Ahnung und hoffe, dies nicht mit diesem einen Satz schon zu verraten.

      „Aha!“, meint mein Vater nur und Julian sieht mich seltsam an.

      Ich ärgere mich, dass ich in Geschichte, als wir wirklich das Thema hatten, nicht besser aufgepasst habe.

      Einige Zeit vertue ich mit brotschmieren, bis ich damit rausrücke, was ich eigentlich will. „Waren von unserer Familie eigentlich auch welche im Krieg dabei? Wir sollen nach Verwandten suchen, die in diesem Krieg verwundet wurden oder sogar starben."

      Papa sieht Mama an und Mama Papa. „Muss das wieder sein?“, brummt sie und schüttelt den Kopf. Dann murmelt sie: „Naja … bestimmt.“

      Einen Augenblick habe ich das Gefühl, meine Mutter will wieder einmal nicht über die Vergangenheit reden.

      „Wer denn?“, frage ich nach und bemühe mich, nicht zu neugierig zu klingen. Ich will schließlich keinen Argwohn bei meinen Eltern schüren.

      „Also, von meiner Seite gab es bestimmt welche. Mein Opa war, glaube ich, sogar etwas Höheres. General oder so“, sagt mein Vater und grinst, den nötigen Ernst beiseitelassend.

      „Ja, ganz sicher.“ Meine Mutter lacht auf und stößt ihm in die Rippen. Dann legt sich ihre Stirn in Falten und denkt nach. „Braucht ihr denn wirklich auch die Namen und so?“, fragt sie resigniert.

      Ich nicke und sehe sie mit nach Hilfe heischendem Blick an.

      Unschlüssig, ob sie mir helfen soll, seufzt sie auf. Doch dann antwortet sie eine Spur zu leise, als dass man hätte glauben können, dass es sie eigentlich nicht berührt: „Naja, von meinem Onkel, … ähm… Vater, der Vater starb im Krieg. Also mein Opa. Mein richtiger Opa.“

      Ich sehe sie verständnislos an und auch Julian und mein Vater vergessen zu essen.

      Mein Vater wirft ein mürrisches: „Dein Opa starb im Krieg? So ein Quatsch! Ich habe ihn doch noch kennengelernt. In unserem ersten Jahr“, in die Runde.

      „Ich weiß“, brummt Mama und sieht ihn böse an.

      „Willst uns wohl verulken?“, brummt Papa zurück. „Das hilft Carolin auch nicht weiter. Da kann sie das auch mit meinem Opa als General schreiben.“

      Mama wendet sich an mich und ignoriert meinen Vater. „Na, du weißt doch! Onkel Otto war doch mein ´biologischer´ Vater. Und dem sein Vater fiel im Krieg. Das war somit eigentlich mein richtiger Opa.“ Scheinbar wird ihr dieser Zusammenhang heute das erste Mal richtig bewusst.

      „Dann ist Opa Willys Vater nicht der von Opa Otto“, bringt Julian das Ganze auf seine trockene Art auf den Punkt.

      „Nein, Ottos Vater war ein junger Mann, der aus irgendeiner Hafenstadt stammend als Soldat in unsere Gegend kam und hier fiel“, antwortet Mama ihm.

      Oh Mann! Gibt es in dieser Familie eigentlich irgendwelche normalen familiären Verwandtschaftsverhältnisse? Das ist der Hammer! Ich freue mich schon darauf, dass Christiane zu erzählen und es kribbelt mir jetzt schon in den Fingern, dieses Ereignis in unseren Familienstammbaum einzuzeichnen. Nur zu dumm, dass Christiane den Schreiblock mit unseren Aufzeichnungen und dem Stammbaum mit nach Hause genommen hat, weil wir blöderweise ihren genommen hatten.

      Papa ärgert: „Also gibt es in deiner Familie keinen General?“, und Julian frotzelt: „Naja, wieder so ein Sodom und Gomorrha.“

      „Wie alt war dieser Vater von Otto damals?“, frage ich nach kurzem Zögern.

      Mama denkt angestrengt nach. „Keine Ahnung. Ich denke so um die Zwanzig. Papa war nur ein Jahr jünger als Otto und wurde 1945 geboren. Also muss Otto 1944 geboren worden sein. Als Papa auf die Welt kam, war Ottos Vater schon tot.“

      Mama hat immer noch die größten Schwierigkeiten, ihren biologischen Vater als Vater zu sehen und ihren Ziehvater als Onkel.

      Ich grübele nach, wie ich meine nächste Frage formulieren kann, die mich dichter an mein Ziel bringen soll. Dann fällt mir das Richtige ein. Ich frage Mama: „Mussten deine Urgroßväter oder ihre Brüder nicht auch in den Krieg ziehen?“

      Julian sieht mich mit einem seltsamen Ausdruck an. Er scheint erstaunt zu sein, was ich für Fragen stelle und welche Zusammenhänge ich scheinbar sehe. Zumindest bilde ich mir ein, dass sein Blick genau das aussagen soll.

      Mama scheint wieder nachzudenken und sagt langsam, als müsse sie jedes Wort erst in ihrem Kopf suchen: „Ja … doch … die mussten bestimmt auch. Ich glaube, dass von ihnen einer sogar extra wieder von weit her anreiste, um für sein Vaterland zu kämpfen.“

      „Für sein Vaterland kämpfen … So ein geschwollener Mist!“, regt Papa sich auf. „Das waren doch damals Zustände wie im alten Rom!“

      Wir ignorieren ihn.

      „Woher kam der denn?“, frage ich schnell und werfe Julian einen Blick zu, der plötzlich hellwach zu sein scheint. Er sieht mich immer noch groß an und ich weiß, dass er mein Spiel durchschaut hat.

      „Der lebte lange Zeit angeblich in Ägypten“, sagt Mama und nimmt sich noch eine Tasse Tee, wobei sie meinem Vater einen beunruhigten Blick zuwirft.

      „Wow!“, rufe ich aus und hoffe, dass sie einfach weiterplaudert. Doch sie sagt nichts mehr und so frage ich weiter: „Und, fiel der auch im Krieg?“

      Mama sieht von ihrer Tasse auf, in der sie laut klimpernd herumrührt. Erst trifft ihr Blick mich, dann wieder meinen Vater.

      Der schmiert sich ein neues Brot und scheint unser Gespräch beleidigt nicht weiter verfolgen zu wollen.

      Ich warte auf Mamas Antwort.

      „Ich denke …“, kommt diese dann auch, „dass man die alten Zeiten ruhen lassen sollte. Genau weiß ich das ja auch alles nicht und bevor ich dir Blödsinn erzähle …“

      Sie richtet sich an Julian und fragt, ganz abrupt das Thema wechselnd:


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