Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
Sessellehne baumeln und sagt, als spräche sie über das Brotbackrezept ihrer Oma: „Papa hat mal so was erzählt. Ich fragte ihn mal, das war noch bevor ihr hierhergezogen seid, warum das Haus immer noch leer steht und er meinte, dass hier einige glauben, dass in dem Haus Leute umgebracht wurden. Das fand ich erst ganz interessant. Aber Papa wollte mich nur verulken. Er sagte, man hätte früher mal jemanden hier verbrannt und der wäre dann als Geist über die hergefallen, die das Haus nach ihm bewohnten. Eine Mutter und ihr Kind sollen hier gestorben sein. Mama hat gleich gesagt, dass alles gelogen ist und Papa mir nur Angst machen will. Und dann hat er auch gesagt, dass alles nur auf dummes Geschwätz beruht und die Menschen sich so was nur ausdenken, um dummen Leuten etwas interessant erscheinen zu lassen.“
Das hatte Christianes Vater gut eingefädelt. Hätte Christiane ihn weiter ausfragen wollen, hätte sie sich gleich als dumm abstempeln können.
Ich glaube, dass sie mich auch für dumm halten wird, weil ich auf so eine Geschichte hereingefallen war. Sie weiß ja nichts von den Hintergründen und ich überlege, was ich ihr noch alles sagen soll. So hole ich erst einmal aus dem alten Schrank eine Flasche Limonade, die noch von der letzten Karnevalsfeier übriggeblieben ist, und zwei Plastikbecher.
„Glaubst du etwa an den Quatsch?“, fragt Christiane da auch schon und sieht mich mit forschem Lächeln an, das mir zeigt, was ich zu hören bekomme, wenn ich das bejahe.
So lasse ich es lieber und versuche es auf einem anderen Weg.
„Ach weißt du, eigentlich nicht, obwohl, gestern hatten wir Vertretung bei so einem alten Professor und der hat mich nach der Stunde zu sich gerufen, als alle andere schon gingen. Ich sage dir, der war vielleicht verrückt! Der sagte mir, er sähe genau, dass ich von diesem Kurt abstamme, der hier verbrannt wurde und dass er glaubt, dass ich auch so wie dieser Kurt bin und er mich verbrennen will, sobald er das beweisen kann“, sage ich so ganz nebenbei.
Ich sehe an Christianes Blick, dass ich ihr gerade das Verrückteste erzählt habe, was sie je gehört hat. Ihr Mund steht weit offen und ihre Augen sind so groß wie Wagenräder.
„Du spinnst!“, bringt sie entsetzt hervor.
„Nein, im Ernst! Dann musste ich heute Morgen zum Rektor und mir eine Predigt anhören, dass dieser Professor nie mehr in meine Nähe gelangen wird. Toll was? Dabei kann doch keiner darauf aufpassen, ob so ein alter, durchgeknallter Opa sich irgendwo auf mich stürzt, um aus mir eine lebende Fackel zu machen.“
Ich wählte diese Worte extra so, um Christiane ein wenig zu schocken, und genau das erreiche ich auch.
„Mensch Carolin, du willst mich doch jetzt verschaukeln?“, raunt sie aufgebracht und setzt sich auf.
„Nein, ich schwöre, so war’s! Deshalb habe ich dich gefragt, ob du was von der Geschichte von früher weist?“, und nicht, weil ich dumm bin, füge ich besser nicht hinzu. Denn ich bin mir selbst nicht ganz sicher, ob ich nicht langsam dem Ganzen zu viel Aufmerksamkeit entgegenbringe.
Christiane sitzt nun nicht mehr locker im Sessel, sondern kerzengrade auf der vordersten Kante, als wolle sie gleich aufspringen und weglaufen.
„Du meinst, das ist alles wirklich hier passiert und dieser Lehrer will dir deswegen an den Kragen?“
Ich hebe unwissend die Schultern. Schließlich weiß ich doch auch nicht genau, was der Alte von mir wollte. Aber zumindest habe ich Christiane jetzt da, wo ich sie haben will.
„Aber kannst du vielleicht etwas darüber herausbekommen?“, frage ich sie und sie nickt, sich schaudernd umsehend.
Nun ist sie diejenige, die voll auf die Geschichte anspringt. „Wenn das stimmt, dann sind hier wirklich Menschen ermordet worden … von einem Geist!“ Sie schüttelt sich und sieht gar nicht mehr gut gelaunt und über die dumme Geschichte ihres Vaters erhaben aus.
„Ich kenne nur die Story von meinem Ururgroßvater, der einige Jahre in Ägypten war und von dort irgendwelche seltsamen Praktiken mitgebracht haben soll. Als ein Mädchen in der Gegend starb … oder verschwand, hat man diesen Mann angeblich verbrannt, weil man ihn für einen Hexer hielt. Mehr weiß ich auch nicht.“
„Poor, das ist ja alles voll gruselig. Und das war dein Urgroßvater? Dann ist das doch noch gar nicht so lange her?“
„Doch! Mindestens fünfzig Jahre. Und das war mein Ururgroßvater.“
Christiane sieht mich wieder mit weit aufgerissenen Augen an. „Unglaublich, dass der alte Lehrer davon noch etwas weiß? Das ist doch schon Urzeiten her!“ Sie lässt sich zurück in ihren Sessel fallen.
Wir sehen uns eine Zeit lang unschlüssig an und scheinen beide auf etwas zu warten. Plötzlich flüstert Christiane: „Ist ja doch etwas gruselig. War der denn schuld wegen dem Mädchen?“
Ich ziehe die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht, dass er als Geist in unserem Haus herumspukt.“
Christiane setzt sich wieder auf und sieht mich verunsichert an. „Papa meint, dass hier schließlich auch noch mehr Leute gestorben sind. Aber ich weiß auch nicht genau. Ich habe nicht weiter nachgefragt. Aber er sagte etwas von einer Frau und einem Kind. Vielleicht meinte er aber auch das Mädchen?“
„Also interessieren würde mich die ganze Geschichte schon. Ich meine, so Sherlock Holms mäßig“, erwidere ich und hoffe inständig, Christiane stimmt mir zu.
Mit leuchtenden Augen starrt sie mich einen Augenblick unschlüssig an. Dann ruft sie wie aus der Pistole geschossen: „Echt, mich auch. Ich muss Papa noch einmal fragen. Der hält sich doch immer für so schlau.“
Ich beglückwünsche mich und bin irgendwie unendlich froh, dass ich Christiane nun auf meiner Seite habe. Es ist beruhigender, wenn man nicht allein mit seiner Angst vor der Vergangenheit dasteht. Und dass ich doch etwas Angst habe, das wird mir jetzt erst richtig bewusst.
Es ist schon toll, wie sehr Christiane sich für das Thema begeistern kann.
Wir treffen uns täglich in unserem Kornspeicher und legen sogar ein Buch an, in dem wir alles aufschreiben, was wir herausfinden.
Christiane hatte ihren Vater noch einmal auf die Geschichte dieses Hauses angesprochen und nur zu hören bekommen, dass sie sich um ihre Schulsachen kümmern soll, statt sich mit anderem Blödsinn zu beschäftigen. Sie meinte, dass er darüber wohl nicht mehr sprechen will, weil wir nun dieses Haus des Schreckens bewohnen. Natürlich kann er sich ausmalen, dass sie mir darüber Bericht erstatten wird, und das ist wohl nicht in seinem Sinne. Sie war richtig wütend darüber und schimpfte über ihn und schallt ihn einen Feigling.
Mich wundert es fast, dass er ihr den Umgang mit mir nicht verbietet.
Also haben wir bisher nur das, was der Professor und Julian von sich gaben. Das Gequatsche meiner Eltern hatte dem nichts Neues hinzugefügt. Mehr haben wir noch nicht und dass, obwohl wir schon Stunden damit zugebracht hatten, in der Schulbibliothek und im Internet nachzuforschen. Wir fanden nichts, außer in einer Familienchronik über Ankumer Familien den Namen Rosa und Ewald Gräbler und deren Kinder Kurt, Marie, Josefine, Hans und Heinrich. Die Schwestern von Kurt Gräbler hatten scheinbar keine eigenen Familien. Von dem Bruder Heinrich fanden wir eine Heiratsurkunde mit seiner Frau Maria und eine Geburtsurkunde seines Sohnes in dem Stadtarchiv aus dem Jahr 1950. Christiane hatte mich dorthin gezerrt, weil ihre Tante dort arbeitet, und die unterstützte uns dann sogar bei unserer Suche nach brauchbarem Material. Christiane hatte ihr erzählt, dass ich für die Schule einen Stammbaum ausarbeiten soll und dafür einige Unterlagen brauche. Zu meiner völligen Verblüffung gab es hier schon ein voll technisiertes Netz von Unterlagen, das bis 1900 zurückreicht.
Christianes Tante ist unglaublich stolz auf dieses Programm, in das sie selbst viele der Unterlagen eingegeben und die Originale dazu einscannt hatte. Sie zeigte uns sogar genau, wie sie dabei vorging und erklärte uns, wie wir verschiedene Unterlagen „schnell und präzise“ finden können. Schnell und präzise sind wohl ihre Lieblingswörter, denn sie gebrauchte sie so oft wie möglich.
Leider haben wir uns einen Tag für unsere Recherchen ausgesucht,