Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
dasselbe denkt. Sie hat Handschuhe an und einen Eimer und einen Hecker in der Hand und macht sich nun daran, das Rosenbeet vom Unkraut zu befreien.
„Wenn du so erpicht auf den Garten bist, dann kannst du mir ja helfen, die Beete durchzuhacken.“
Ich winke schnell ab und laufe zu meiner Decke, auf der sich durch den aufkommenden Wind die Zettel schon breit verteilt haben. Mama darf auf gar keinen Fall sehen, was ich da so intensiv studiere. Sie würde das bestimmt nicht gutheißen. Gerade weil ich auch in der Schule in der letzten Zeit ziemlich nachlasse.
So packe ich alles schnell zusammen und bemerke gerade noch wie Julian mit seinem Fahrrad in die Garage fährt.
Ich eile hinter ihm her, weil ich darauf brenne, mehr über diesen Jungen zu erfahren.
Aber ich treffe Julian erst in seinem Zimmer an, in dem er abgekämpft seine Sporttasche abwirft.
„Puh, ich muss erst einmal duschen“, sagt er, statt einer normalen Begrüßung. Augenscheinlich hat er keinen Bock auf ein Gespräch mit mir.
Dennoch werfe ich hinter uns seine Zimmertür zu, um unnötige Gesprächsteilnehmer auszuschließen, was mir einen überraschten Blick meines Bruders einbringt.
„Gibt’s was?“, fragt er.
Ich weiß nicht so recht, was ich ihm nun sagen soll. Soll ich ihn gleich zusammenfalten oder vorsichtig an das Thema herangehen?
In meiner heftigen Art komme ich gleich zur Sache, was meistens unklug ist. „Da war heute ein Typ in unserem Garten, der wohl ein ganz dicker Busenfreund von dir ist“, spuke ich ihm wütend entgegen.
„Was? In unserem Garten? Wer war das? Michael oder Marcel? Ach nein, die waren doch mit mir beim Training.“
„Nicht Michael oder Marcel. Einen, den ich nicht kenne, der aber eine ganze Menge von mir weiß.“
Julian sieht mich seltsam an. „Du kennst doch alle meine Freunde. Davon war es keiner?“
„Nein, den habe ich noch nie bei dir gesehen“, antworte ich und werde unsicher. „Aber er weiß von meinen Träumen. Das kannst doch nur du ihm erzählt haben, oder?“
Julian wird augenblicklich hellhörig und ich bin mir sicher, den Schuldigen gefunden zu haben. Doch dann sieht er mich nur irritiert an und packt mich an den Schultern. Seine braunen Augen funkeln mich böse an. „Er weiß von deinen Träumen? Woher?“
„Das frage ich dich!“, schnauze ich ihn an.
„Ich habe niemanden davon erzählt.“ Er lässt mich los und scheint zu überlegen. „Vielleicht haben Mama oder Papa …?“
Das erscheint mir ziemlich unwahrscheinlich, muss aber in dem Fall, dass Julian es nicht gewesen war, stimmen. Doch von Julians Unschuld bin ich noch nicht überzeugt und außerdem weiß ich noch immer nicht, wer der Junge ist.
So beschreibe ich Julian den Typ, in der Hoffnung, er kann das Geheimnis um ihn lüften.
„Er ist in etwa so groß wie du, hat schwarze Augen und ganz dunkle, kurze Haare. Dabei ist er aber ziemlich blass und er ist schlank und …“ Ich verstumme, weil ich das Gefühl habe, dass jedes weitere Wort einer Art Schwärmerei gleichkommt.
„Kenne ich nicht. Schwarze Augen und dunkles Haar mit blasser Haut? Ich weiß nicht, wer das sein soll. Vielleicht ein Vampir? Hatte er auch etwas großgeratene Zähne?“ Julian grinst und nimmt mich nicht für ganz voll. „Und was suchte der in unserem Garten?“, fragt er, sich ein Lachen verkneifend. „Vielleicht einen Unterschlupf?“
„Tja, wenn ich das wüsste“, antworte ich schnippisch.
Julian sieht mich seltsam an und sein Grinsen verschwindet plötzlich. „Hast du ihn denn nicht angesprochen? Schließlich hat der doch nichts in unserem Garten zu suchen.“
Ich will Julian nicht erzählen, wie ich hinter dem Busch gehockt hatte und dann plump und dümmlich den Jungen anquatschte. So weiche ich etwas in meiner Antwort aus. „Klar! Natürlich wollte ich wissen, was er da sucht. Aber er meinte nur, dass ich das aus meinen Träumen wissen müsste.“
In dem Moment dreht Julian ruckartig seinen Kopf zu mir herum und seine braunen Augen wirken plötzlich erschreckend dunkel, dass ich einen Moment glaube, in die Augen des Jungen aus unserem Garten zu schauen.
„Das hat er gesagt?“, fragt Julian verdattert und sieht mich betroffen an. Dann flüstert er mehr zu sich selbst: „Das gibt es doch gar nicht. Wer ist dieser Kerl?“
Das hätte ich auch zu gerne gewusst. Aber Julian kann mir das augenscheinlich nicht sagen.
Dicht an mich herantretend, raunt er mit eindringlicher Stimme: „Wenn du den irgendwo noch einmal siehst, dann sagst du mir sofort Bescheid. Hast du verstanden?“ Dabei packt er mich an den Armen und schüttelt mich durch, als müsse er mich dazu zwingen.
„Ja! Schon gut!“, antworte ich ihm schnell und verziehe vor Schmerzen das Gesicht. Dass Julian sich plötzlich so aufregt, hatte ich nicht erwartet. Fast habe ich etwas Angst, ihm den Jungen wirklich zu zeigen, wenn ich ihm noch einmal begegne. Wer weiß schon, was Julian mit ihm anstellt? Und eines wird mir auf einmal klar. Ich will auf gar keinen Fall, dass Julian ihm auch nur ein Haar krümmt.
Als ich am Abend ins Bett falle, kann ich wieder nicht einschlafen. Doch diesmal sind es nicht die Geschichten der Vergangenheit, die schwer auf meiner unruhigen Seele lasten, sondern der Gedanke an diesen seltsamen Jungen, der angeblich über meine Träume Bescheid weiß. Ein Zustand, der mich äußerst beunruhigt. Denn wenn Julian ihm nichts davon erzählt hat, wer dann? Es weiß doch sonst niemand davon. Nicht mal Christiane.
Ich schließe nach langem Hin und Her meine Eltern aus. Die sind in dieser Sache so querdenkend, dass sie bestimmt mit niemanden darüber sprechen. So drängt sich mir der Gedanke auf, dass dieser Junge vielleicht mit diesem alten Professor Knecht zu tun hat, der ihn über die Vergangenheit meines Vorfahren informierte und ihn ausschickte, um mehr darüber zu erfahren. Aber der kann unmöglich etwas über meine Träume wissen. Oder hatte ich mich verhört und dieser Junge hatte etwas ganz anderes gesagt?
So sehr ich auch grübele, ich weiß es nicht. Das Einzige, was ich genau weiß, ist - ich will diesen Jungen wiedersehen. Aus irgendeinem Grund bekomme ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf.
Irgendwann muss ich dann doch eingeschlafen sein. In meiner Traumwelt werde ich von Julian in einen dunklen Wald geführt. Ich starre auf die Gestalt meines Bruders, der vor mir geht und mich an der Hand hinter sich herzieht. Dabei verwandelt er sich immer mehr in einen dunklen, angsteinflößenden Mann. Als wir auf eine Lichtung kommen, dreht er sich zu mir um und ist plötzlich ein alter Mann mit gehässigem Gesichtsausdruck.
Ich versuche mich loszureißen und höre mich rufen: „Kurt, lass mich los! Hilfe! Was willst du von mir?“
Doch der Mann grinst nur böse und zerrt mich auf eine Lichtung hinaus. Dort sehe ich im hohen Gras ein riesiges Holzkreuz liegen, auf dem eine Gestalt festgenagelt ist.
Vollkommen entsetzt erkenne ich den Jungen aus unserem Garten, der in diesem Moment die Augen öffnet und schreit: „Lauf! Carolin, verschwinde von hier! Julian ist besessen!“
Nass geschwitzt und völlig verängstigt schrecke ich aus dem Traum hoch und reiße das Licht an.
Am Ende meines Bettes sitzt mein Bruder und starrt mich an.
„Julian!“, rufe ich erschrocken und versuche mir bewusst zu machen, dass ich in meinem Bett liege, nur geträumt habe und Julian mein mich liebender Bruder ist.
Verstört raune ich: „Mensch, ich hatte wieder so einen schrecklichen Traum. Wenn das doch bloß mal aufhören würde.“ Dabei wische ich mir den Schweiß von der Stirn.
„Was hast du geträumt? Du riefst meinen Namen“, fragt Julian und klingt lauernd.
Ich schüttele nur den Kopf, die Verständnislose spielend. Es erscheint mir unmöglich, Julian von diesem Traum zu erzählen. „Ach, ist doch egal“, erwidere