Heine hardcore II - Die späten Jahre. Freudhold Riesenharf
lauter Männer – isoliert und in weitem Abstand voneinander auf den Plätzen sitzen. Der Grund dafür wird ihm bald klar: Sie wollen allein für sich bleiben.
Deep Throat – ,Tiefer Schlund' – ist ein amerikanischer Porno von anno 1972. Der – fast surrealistische – Inhalt ist schnell berichtet. Die hübsche Hauptdarstellerin, die etwa 20-jährige Linda, hat sexuelle Probleme. Dem Vernehmen nach hatte sie noch nie einen Orgasmus, in ihrem Alter natürlich ein ganz unerträglicher Zustand. Aber auch ihre Freundin Helen kann ihr nicht helfen, und der von ihr organisierte Gruppensex befriedigt nur sie selbst. Also begibt Linda sich in ärztliche Untersuchung. Da entdeckt Doktor Young mit Hilfe gezielter Auskultationen, dass Linda keine Klitoris hat – will sagen, zumindest nicht da, wo die Frauen sie normalerweise haben, so dass sie beim Koitus das männliche Genital nicht entsprechend spüren kann. (Einmal abgesehen davon, dass selbst beim Koitus die Frauen Probleme damit haben dürften, den Mann an der Klitoris zu spüren.) Das ist die Erklärung für den fehlenden Orgasmus. (Dass die Klitoris auch beim normalen Geschlechtsverkehr nicht ohneweiters gereizt wird, so dass die Frau womöglich auch dabei unbefriedigt bleibt, bleibe hier einmal außer Betracht.)
Der Onkel Doktor lokalisiert das verirrte Organ bald an einem Ort, wo man es vermutlich nicht vermutet hätte: in Lindas Kehle. Daraufhin probiert sie, um den männlichen Penis zu spüren, versuchsweise Fellatio, indem sie tief erigierte Penisse schluckt, sie gewissermaßen inhaliert – und findet prompt ihre sexuelle Erfüllung. Während Linda ihren palatalen Orgasmus hat, ejakulieren die Männer happy in ihren Hals – deep throat. Sie beginnt als Dr. Youngs Assistentin und beglückt so nicht nur sich selbst, sondern auch andere bedürftige Patienten. Die absurde Story endet damit, dass sie mit einem Mann schläft, der ihr einen Heiratsantrag macht. Wir erfahren nicht, wie ihr weiteres Eheleben verläuft.
Geradeso unrealistisch wie der Inhalt sind die Szenen des Films. Das gilt für alle Pornofilme: indem all das, was in Wirklichkeit nie und nirgendwo möglich wäre, auf der Leinwand realisiert wird, wird die Realität auf krasse Weise verzerrt. Es ist, als würden die verrücktesten erotischen Phantasien und sexuellen Tagträume plötzlich zu delirierender Wirklichkeit. Es kommt wie gesagt nie auf die ,Handlung' an, nur auf die sexuellen Handlungen, und diese erscheinen in Cinemascope mit sensationeller Deutlichkeit. Die einsamsten sexuellen Phantasien werden direkt und unverstellt auf die Leinwand projiziert. Bisher war nur das Papier geduldig. Jetzt ist es nicht minder auch das Zelluloid.
Die Absicht ist klar. Kaum sind ein paar der Aktionen über die Leinwand geflimmert, da spürt er es unverkennbar schon zwischen den Beinen. Nicht lang, und sein Ding ist unterschwellig so erregt, dass er es feucht in sein Unterzeug gehen spürt. Auf die Dauer des Films ist es ein wahres Drangsal der Lust; sein drangsäliges Glied will sich versteifen, ist aber so eingezwängt, dass kein Raum dafür ist. Einmal, verstohlen um sich blickend, ob ihn keiner der Nächstsitzenden sehen kann, greift er sich heimlich in die Hose, um es wenigstens der Länge nach auszurichten. Je mehr der aufreizenden Bilder und Szenen er von der Leinwand auf sich einströmen fühlt, desto größer wird die Spannung in seinen Lenden. Vom Scheitel bis zur Sohle erfüllt ihn ein einziges großes Jucken, wie er es kaum je kannte, sowie der unwiderstehliche Drang, sich durch die nötigsten Manipulationen davon zu befreien. Es ist das elektrochemische Feld von Millionen und Abermillionen angeregter Zellen in seinem Gehirn, die zum endgültigen Feuern gebracht werden wollen.
Das geht aber nicht. Er kann ja nicht im öffentlichen, wie auch immer abgedunkelten Raum seinen Ständer aus der Hose nehmen und rücksichtslos masturbieren. Spätestens da hat die moderne moralische Freizügigkeit ihr Ende, da spätestens schnappt die bürgerliche Zensur wieder zu. Ertappt man ihn, wird er wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in polizeilichen Gewahrsam genommen und eingebuchtet. So muss er es, ob er will oder nicht, auf später verschieben.
Als er das Kino verlässt, ist es wie eine Offenbarung für ihn: Das ist eine sexuelle Revolution ohnegleichen. Das ist die Befreiung des Triebes aus all seiner bisherigen Verdrängung und Unterdrückung. Das ist eine neue Zeit, eine neue Welt.
In seinem bisherigen Leben lag alles Geschlechtliche wie hinter einem undurchdringlichen Schleier gesellschaftlicher Tabus verhängt. Jetzt hebt sich der Schleier. Der Pornofilm reißt den neblichten Vorhang auf und zeigt den Sex erstmals in seiner unverstellten Nacktheit. Was bedeutet das für ihn und seine Poesie? Was bedeutet das für die erotische Literatur allgemein?
Auch er persönlich stand bisher unter dem sexuellen Tabu. Indem ein so unverbrüchliches Element des Menschlichen aus der visuellen Erfahrbarkeit ausgeblendet blieb, wurde es in den Bereich der Phantasie verdrängt und öffnete allen Spekulationen Tor und Tür. Der Schlaf des Gesetzes weckte die Ungeheuer des Triebes. Das Tabu der Erfahrung weckte die Wunder und Weihen der romantischen Phantasie. Auch seine Dichtung lebte von der romantischen Phantasie, und seine romantische Phantasie verdankte sich im Wesentlichen dem repressiven Charakter der Liebe wie der Verdrängung und Unterdrückung des Triebs unter entsprechender gesellschaftlicher Repression. Erscheint die Epoche der Romantik nicht überhaupt als eine Zeit, in der die unterdrückte Sinnlichkeit nach einem Ausdruck sucht? Abgeschnitten von der Realität, musste er seinen erotischen Sehnsüchten und Phantasien einen indirekten, verklausulierten Ausdruck geben; jetzt sieht er sie eins-zu-eins auf der Leinwand.
Indem der Pornofilm den Sexus aus seiner phantastischen Quarantäne herausnimmt, befreit er ihn aus dem Ghetto romantischer Träumerei und rückt ihn so den Bereich nüchterner, mithin auch ernüchternder, wenn auch nur visueller Erfahrung. Was man direkt sehen kann, davon muss man nicht immer nur spekulativ träumen. Beschränkt man sich auf das Sehen, kann man auf das Träumen verzichten. Wieviel von seiner Lyrik sich wohl dadurch erübrigt? Es ist klar, das revolutioniert auch die erotische Literatur; auch sie muss dadurch, wo immer sie es noch nicht genügend sein sollte, ernüchtert werden. De Sade, Joyce, Nabokov, Miller sind nur noch harmlose Pioniere, wenn man sie mit den Freizügigkeiten heutiger Leinwand vergleicht. Wie beeinflusst das die erotische Literatur? Sicher wird es sie bis auf die Knochen ernüchtern. Auch in den Werken der darstellenden Kunst war die Liebe – mit Ausnahme weniger Künstler: Carracci – um die körperliche Seite verstümmelt; jetzt sieht man den Liebesakt dreidimensional bei lebendigem Leibe. Meist beschränkt der Porno sich auf die geschlechtliche Seite, denn was die Liebe ist, weiß man sowieso schon.
Er war, wie die Besucherzahlen zeigen, mit seinen Phantasien nicht allein, Millionen anderer haben die gleichen, und die Darsteller führen sie originalgetreu aus. In den Pornofilmen gilt kein geschlechtliches Tabu mehr, alles liegt unverstellt zutage. Um so hedonistischer die Filme aber sind, desto unrealistischer ist ihre Handlung. Hat diese krasse Verfälschung der Realität, fragt er sich skrupelhaft, keinen negativen Einfluss auf das Weltbild der Besucher? Muss nicht Otto Normalverbraucher dadurch an der realen Realität verzweifeln? Hat der sogenannte Hays Code, der seit den 20er Jahren die filmische Darstellung von Sex in den USA verbot, nicht vielleicht damit Recht, dass die Filme Personen, die zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht unterscheiden könnten, zu Unmoral und Kriminalität verleiten?
Aber nein, lieber Harry, natürlich nicht, da kannst du ganz unbesorgt sein! Denn erstens sind die Zuschauer, die ab 18 eingelassen werden, sowieso schon alle erwachsen, so dass sie längst ein gefestigtes Weltbild haben; und außerdem erfahren sie das sofort, sobald sie aus dem Kino auf die Straße kommen, aufs Neue. Zum andern ist keiner der Zuschauer auch nur im entferntesten so naiv, die illusionären Vorspiegelungen der Leinwand für bare Münze zu nehmen. Jeder weiß, was ihm da vorgeflunkert wird. Umgekehrt dient der Porno, als ihr Zerrbild, ex negativo dazu, das eigentliche Wesen von Liebe und Sex schärfer zu beleuchten und konturieren. Also, was soll's. Auch ihn stört es nicht. Es sind eben nur täuschende Phantasien, träumerisches Wunschdenken, käufliche Träume!
Nach Auschwitz, heißt es, kann man kein lyrisches Gedicht mehr schreiben. Kann man im Zeitalter der Pornografie noch ein Liebesgedicht schreiben?
Aber natürlich kann man das. Ändert die über die Leinwand flimmernde Promiskuitivität doch auch heute nicht das Geringste an der Einsamkeit des Einzelnen! Wird der Sex dem Einsamen visuell verfügbar, so dadurch doch noch lange nicht wirklich. Mit Recht sagt der Dichter: Wenn man auch seiner Krücken spottet, so kann man darum doch nicht besser gehen. Noch immer bleibt er selbst in seiner sexuellen Misere befangen. Der Unterschied betrifft