Heine hardcore II - Die späten Jahre. Freudhold Riesenharf

Heine hardcore II - Die späten Jahre - Freudhold Riesenharf


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Hand unterm Tisch letztmalig befriedigt. Sie verlässt den Ort, doch er folgt ihr durch die Stadt, sie flüchtet in ihre Wohnung und nimmt aus einer Schublade die Pistole ihres Vaters. Er fragt nach ihrem Namen, und noch während sie ,Jeanne' sagt, gibt sie einen Schuss auf ihn ab. Er bleibt tot auf dem Balkon, und sie murmelt Sätze vor sich hin, die sie später der Polizei gegenüber aussagen wird: dass sie ihn nicht kenne, dass er ein Verrückter gewesen sei, der sie verfolgt und vergewaltigen habe wollen. „Ich weiß nicht, wie er heißt.“ –

      So kreist der Film thematisch um den Daseinsschmerz und die Unterdrückung des Individuums durch gesellschaftliche Institutionen und Erwartungen. Er polarisiert die Kritik, einige Sexszenen werden als erniedrigend und inakzeptabel empfunden. Die Bewertungen reichen von der Anerkennung als Meisterwerk bis hin zu entsetzter Ablehnung. Vorübergehend Opfer der Zensur, gerät der Film zu einem kassenträchtigen Skandalerfolg, der dem verblassten Starruhm Brandos wieder aufhilft. Bertolucci erlaubt ihm, in einigen Szenen zu improvisieren und Erfahrungen aus seinem Leben einfließen zu lassen. Marlon ist einer der wenigen Weltstars, die sich für ein so freizügiges Spiel zur Verfügung stellen. Harry kennt die meisten seiner klassischen Filme und wundert sich, wie er es sich leisten kann. Er versteht nicht alles in dem Film, hat aber das Gefühl, als müssten sich die Probleme darin auch anders lösen lassen. Marlon, der bereits seit längerer Zeit an Lungenfibrose leidet, stirbt 2004 im Alter von 80 im UCLA Medical Center in Los Angeles an Lungenversagen. Im Kreise der engsten Angehörigen wird er vier Tage darauf an unbekannter Stelle in LA eingeäschert. Unter Aufsicht von Tarita, Maria Christina Ruiz, deren Schwester Angela, und seinen Kindern Miko, Teihotu und Tuki wird die Hälfte seiner Asche im Death Valley vom Wind verweht. Die andere Hälfte nimmt Tarita mit und verstreut sie 2005 auf Tetiaroa in einer Lagune. Wie Storm auf Plattdeutsch schrieb:

       Geliek as Rook un Stoof verswindt,

       Also sind ock de Minschenkind.

      Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt,

      Also sind auch die Menschenkind.

      Ein vorläufiger Höhepunkt der sexuellen Emanzipation ist es, als in den Siebzigerjahren das Sexualstrafrecht liberalisiert wird. Der Pornografieparagraph wird abgeschafft, und der Pornofilm für Erwachsene freigegeben.

      Das ist eine epochemachende Wendung. Harry erscheint es wie die bedeutendste Neuerung seit der Erfindung des Rades. Plötzlich sind die pornografischen Motive, die sich bislang in einschlägigen Magazinen verstecken mussten, zum ersten Mal offen als Hardcore im Film zu sehen. Hardcore ist eine explizite Darstellung der Sexualität, wobei der Geschlechtsakt in allen Details gezeigt wird. Dabei kommt es nicht auf die Handlung, sondern nur auf die sexuellen Aktivitäten an. Schon in der pornografischen Literatur ja war die Handlung stets auf eine Verkettung von Klischees beschränkt geblieben. Stil, Struktur, Bildhaftigkeit sollten den Leser nie von seiner Sinnenlust ablenken. So muss jetzt auch der Film aus einem Wechsel sexueller Szenen bestehen. „Die Passagen zwischen ihnen dürfen“, schrieb Nabokov über den pornografischen Roman, „nicht mehr sein als Verbindungsnähte für das Verständnis, logische Brücken einfachsten Entwurfs, kurze Ausführungen und Erklärungen, die der Leser vermutlich nur überfliegen wird, auf deren Vorhandensein er aber nicht verzichten will, weil er sich, wenn sie fehlten, betrogen fühlen würde (eine Denkweise, die auf die Gewöhnung an die ,wahren' Märchen der Kindertage zurückgeht).“ Überdies müssen die sexuellen Szenen im Film einer ansteigenden Linie folgen, neue Varianten bringen, neue Kombinationen, neue sexuelle Partner und damit ein stetiges Anwachsen der Zahl der Beteiligten (in mehr als einem Film wird gar der Gärtner hinzugerufen), so dass der Film gegen Ende mehr Unzüchtigkeiten enthält als in den ersten Sequenzen. Die Handlung hat fast immer nur eine Alibifunktion und geht schnell in den eigentlichen Sex über. Pornokinos des Typs PAM – ,Pa auf Ma' – schießen plötzlich wie die Pilze aus dem Boden.

      Damit ist die Ära des Sexfilms, jetzt rückblickend Softcore genannt, an ihrem historischen Ende. Der Sexfilm stirbt geradeso aus, wie in der biologischen Evolution eine Spezies dadurch ausstirbt, dass eine neue Tierart auftritt und ihr die Ressourcen wegnimmt; wie die Saurier ausstarben, als die Säugetiere auf den Plan des Lebens traten.

      Damit flimmert, was früher ,Unzucht' hieß, jetzt allenthalben über die Leinwand, so dass man eigentlich gar nicht mehr weiß, was das Wort noch für einen Sinn haben kann. Der Begriff Unzucht bezeichnete bislang abwertend ein menschliches Sexualverhalten, das gegen das in einem speziellen kulturellen oder religiösen Kontext empfundene, angenommene oder vorgegebene allgemeine Sittlichkeits- und Schamgefühl verstößt. Das konnte ebenso von einem säkularen wie religiösen Umfeld geprägt sein und war durch die Sittengeschichte hindurch nicht einheitlich definiert. Bis in die 1960er Jahre galten in den westlichen Ländern die Masturbation, der voreheliche Geschlechtsverkehr, Homosexualität und Ehebruch als Unzucht. Im Rahmen der gesellschaftlichen Liberalisierung nun wird Unzucht als Rechtsbegriff in Deutschland aufgegeben. Der Bundesgerichtshof entschied letztmals 1962, dass der Beischlaf unter Verlobten Unzucht und deren Förderung durch das Zurverfügungstellen einer Wohnung als Kuppelei strafbar sei. Mit der Großen Strafrechtsreform 1969 wurden u. a. die Straftatbestände des Ehebruchs und der Kuppelei abgeschafft. In der gegenwärtigen deutschen Rechtsprechung taucht der Begriff nicht mehr auf. Im Strafgesetzbuch ist „Unzucht mit Minderjährigen“ durch „Sexueller Missbrauch von Kindern“ ersetzt.

      Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist in Deutschland nicht grundsätzlich verboten. Es kommt aber auf das Alter des Teenagers und des älteren Sexualpartners an – und darauf, in welchem Verhältnis sie stehen. Die Regelung ist penibel durchdacht und höchst differenziert. Sexuelle Handlungen mit jungen Minderjährigen bis 13 Jahre sind generell verboten. Sie gelten laut Paragraph 176 des Strafgesetzbuches als sexueller Missbrauch von Kindern und werden mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft. Verboten ist nicht nur Geschlechtsverkehr mit den Kindern, man darf vor ihnen auch selbst keine sexuellen Handlungen vornehmen oder ihnen Pornos zeigen. – Sexuelle Kontakte mit 14- oder 15-Jährigen sind erlaubt, vorausgesetzt, der ältere Sexualpartner ist höchstens 21. Ist er älter, können sexuelle Kontakte nach Paragraph 182 des Strafgesetzbuches als sexueller Missbrauch von Jugendlichen geahndet werden, wenn die „fehlende Fähigkeit des Opfers zu sexuellen Selbstbestimmung“ ausgenutzt wird. Der berühmte polnische Filmregisseur Roman Polanski hat in Amerika angeblich eine 14-Jährige vergewaltigt. Sein Pech ist, von der fraglichen Gewalt einmal abgesehen, offenbar, dass er schon älter als 21 war. Unter 18-Jährige dürfen von Erwachsenen außerdem nicht für Sex bezahlt werden. Besondere Regeln gelten für Schutzbefohlene wie Schüler, Auszubildende oder Konfirmanden. Nach Paragraph 174 des Strafgesetzbuches sind sexuelle Handlungen mit 14- oder 16-Jährigen verboten, wenn man sie erziehen, ausbilden oder betreuen soll. – Sex mit 16- oder 17-Jährigen dagegen ist auch älteren Erwachsenen erlaubt. Allerdings ist es nach Paragraph 182 des Strafgesetzbuches verboten, dafür eine Zwangslage auszunutzen, worauf bis zu fünf Jahre Haft stehen. Wer älter als 18 ist, darf unter 18-Jährige auch nicht für Sex bezahlen. Auch hier gelten wieder besondere Vorschriften für Schutzbefohlene: Paragraph 174 des Strafgesetzbuches verbietet Ausbildern, Betreuern oder Arbeitgebern sexuelle Kontakte mit 16- oder 17-Jährigen, wenn sie das Abhängigkeitsverhältnis ausnutzen. –

      Die so genannte Neosexuelle Revolution seit den späten 1970ern ereignet sich gleichwie still und schleichend hinter den Kulissen des öffentlichen Lebens. Auch für Harry ist die Hardcorepornografie eine revolutionäre Erfahrung. Oder sollte es heißen, es ist die erste sexuelle Revolution, von der er auch selber was hat?

      Zum ersten Mal nämlich bekommt er, schon in seinen Zwanzigern, das weibliche Geschlecht unverstellt in Cinemascope auf der Leinwand zu sehen. Zum ersten Mal wird da die weibliche Anatomie in allen Einstellungen und Perspektiven ausgeleuchtet. Heutzutage, da das fast jedes Kind auf dem PC-Bildschirm hat, kann man sich kaum mehr vorstellen, wie sehr die Freigabe der Pornografie das Bild des menschlichen Sexus revolutioniert. Zigtausende von Generationen lang haben die Männer sich fast ein Bein ausreißen müssen, um eine fremde Vagina in natura zu sehen; und manche haben vielleicht nie eine zu Gesicht bekommen. Jetzt sieht man mit einem Mal so viele davon wie ein vielbeschäftigter Gynäkologe. Dabei ist es damals aber noch nicht so weit, dass der Sex durch YouPorn und Co. sein letztes Mysterium verloren hat.

      Er


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