Heine hardcore II - Die späten Jahre. Freudhold Riesenharf

Heine hardcore II - Die späten Jahre - Freudhold Riesenharf


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stirbt einen sinnlosen Tod.

      Ihre Diskussion während der Pause ist kontrovers. Während Harry gefühlsmäßig auf der Seite Antigones steht, nimmt die junge Giselle paradoxerweise den Standpunkt des materialistischen Kreon ein. Auf dem Platz vor dem Theater, der mit runden glatten Steinen gepflastert ist, die nur zur Hälfte im Boden stecken, bleibt der Stöckel ihres linken Schuhs zwischen zwei Kieseln hängen. Währenddem er niederkniet, um den Schuh loszumachen und ihn ihr wieder anzuziehen, steht sie wie ein Reiher auf einem Bein und hält den Fuß hoch, um nicht den Nylonstrumpf zu beschmutzen. Er kommt, als er ihr den Schuh wieder anpasst, nicht auf den Gedanken, sie kniend um die Gunst zu bitten, ihren weißen, blühenden Lilienfuß küssen zu dürfen, den er doch gläubiger an die Lippen gepresst hätte, als er es mit dem Fuß des Papstes getan haben möchte.

      Ein Mitschüler seiner Klasse hat Ingmar Bergmans Film TynstadenDas Schweigen – gesehen und erzählt ihm aufgeregt davon. Eine Frau, Anna, irrt durch eine fremde Stadt in einem fremden Land, deren Sprache sie nicht versteht, und sieht in einem Varieté, wie ein Paar während der Vorstellung kopuliert. Der Mann sitzt zurück in den Sitz gelehnt, die Frau hat ihren Schlüpfer ausgezogen und reitet ihm zugewandt mit entblößten Brüsten auf ihm, wobei ihre Unterleiber gegeneinander rammeln. Beide bäumen sich orgiastisch hintüber, so dass die Stühle knarzen. So etwas Geiles, beteuert der Kamerad, dem dabei förmlich der Speichel im Mundwinkel zusammenläuft – und angesichts seines Gesabbers glaubt Harry es ihm aufs Wort –, habe er im Leben noch nicht gesehen!

      In einer anderen Szene des Films sieht man von vorn von oben, wie die umwerfend schöne Ingrid Thulin, eine sichtlich sinnliche Frau, auf ihrem Bett mit hintübergeworfenem Kopf, während sie dem Zuschauer in die Augen blickt, sich in den Schlüpfer greift und sich, die Augen nicht vom Betrachter lassend, sexuell selbst befriedigt. Das ist womöglich sogar noch geiler. Sie hat dieselbe Lage wie Chrisis auf Agostinos Stich und hat den gleichen honigsüßen Orgasmus wie Hedy Lamarr, die hier als Pionierin wirkte, in Ekstase. Oder doch nicht den ganz gleichen?

      Durchaus nicht den ganz gleichen, denn irgendwie ist Mariannes Ekstase noch viel überzeugender und einleuchtender als der Lamarrs. Der Unterschied ist, dass Mariannes Orgasmus nicht beim Geschlechtsakt eintritt, sondern in der Onanie. Die erste Szene weiblicher Onanie in der Filmgeschichte! Das ist unerhört. Wann hat man je eine Frau auf der Leinwand oder sonstwo masturbieren sehen? Das ist etwas absolut Neues und sorgt zu der Zeit für den hanebüchensten Skandal. Man muss die Thulin für ihren Mut bewundern.

      Also auch die Frauen onanieren und haben ihren Orgasmus! Wieso aber auch nicht? Warum sollen ihnen die Männer da etwas voraus haben? Zwar ist auch Ingrids Orgasmus nur gespielt, doch ist er menschlich noch überzeugender als der Hedys. Der Grund ist, dass der Orgasmus aus der Onanie, im Unterschied zu dem beim Koitus, jedem halbwegs normalen Menschen vertraut ist, so dass an seiner Wirklichkeit kein Zweifel besteht. Ingrid spielt also nur nach, was alle bestätigen können. Diese für die damalige Zeit unerhörten Szenen rufen einen der größten Filmskandale der 1960er Jahre hervor und lösen eine erbitterte Zensurdebatte aus. Seitdem kommt weibliche Onanie auch im Film immer wieder vor. Seit Jean-Luc Godard gehört sie fast mit zum kinematografischen Standard.

      Von Ingmar Bergman sieht er den Film Die Jungfrauenquelle von 1960, in dem die junge Karin, gespielt von Birgitta Pettersson, brutal von zwei Hirten vergewaltigt und getötet wird. Die Jungfrau – so beschreibt es der Spiegel – reitet, in ein gelbseidenes Hemd gewandet, auf dem Weg zur Kirche durch einen Wald. Augenblicke später beginnt die gewagteste Vergewaltigungsszene in der Geschichte des Films: Zwei Unholde packen das Mädchen, zerren es zu Boden, reißen seine Glieder auseinander und schänden es. Zwei Minuten lang starrt das Kamera-Auge fast gierend auf die drei verschlungenen Gestalten. Nur Keuchen dringt aus den Lautsprechern im Kinosaal. ,Wo sonst erfuhr man', fragt Die Zeit beeindruckt, ,dass hörbares Atmen von solch dramatischer Wirkung sein kann?' Besonders in der frenetischen, wie elektrisierten Wollust, mit der einer der Täter sich auf dem Mädchen windet, wird Harry fortan zum Beispiel paradigmatischer Wollust.

      Trotz ungekürzter Freigabe durch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft sowie der Prädikatisierung ,wertvoll' wird der Film der expliziten Vergewaltigungsszene wegen durch das Amtsgericht München als ,unzüchtig' beschlagnahmt. Die Schändung werde, so der federführende Richter, in einer Ausführlichkeit gezeigt, die zum Verständnis der Filmhandlung absolut nicht erforderlich und daher überflüssig sei – die Untat werde ersichtlich nur zu dem Zweck dargeboten, dem Geschmack eines gewissen Filmpublikums entgegenzukommen und ihm sexuell anreizenden, die Lüsternheit befriedigenden Filmstoff zu bieten. Als die Schlagzeilen über die Polizei-Aktion im nach-eucharistischen München das Publikum rechtzeitig zum Wochenende erreichen, schnellen in den anderen Erstaufführungsstädten, wo der Film noch gezeigt werden darf, die Besucherzahlen sprunghaft in die Höhe. Samstags notieren die Kinobesitzer 90 Prozent Kapazitätsausnutzung, am Sonntagabend 100 Prozent. In Hamburg begutachtet eine Horde Staatsanwälte, von der Münchner Quelle alarmiert, die Jungfrauenquelle in einer Sonderveranstaltung, nimmt aber keinen Anstoß an den 16 Metern Vergewaltigung. Harry kann es dem Münchner Richter nachempfinden, ist nichtsdestoweniger aber der Meinung, dass die Freiheit der Kunst nicht so beschnitten werden darf. Im Kino geht es eben nicht nur um das Verständnis der Handlung. Die Filmkunst lebt von der direkten Veranschaulichung der Dinge und damit vom unmittelbaren Erlebnis des Zuschauers. Würde die Vergewaltigung der Jungfrau nicht so brutal gezeigt, wäre der Eindruck eben nicht mehr derselbe – und damit nicht die drastische Rache des Vaters, Max von Sydows, verständlich, mit der dieser, wie Odysseus einst Penelopes Freier, die drei Brüder, auch den jüngsten mit zwölf, erschlägt. Damit wäre dann aber der ganze Film nicht mehr im Gleichgewicht. Als Karins Leichnam geborgen wird, entspringt aus dem Boden eine Quelle. – Später bekommt der alte Schwede, wie zur Wiedergutmachung, sogar einen jahrelangen Vertrag als Regisseur am Münchner Residenztheater.

      Mit sechzehn beeindruckt ihn tief der Film La guerre est finie von Alain Resnais, wieder mit der hinreißend schönen Ingrid Thulin. Diego Mora, gespielt von Yves Montand, lebt als Mitglied der kommunistischen Partei Spaniens im Pariser Exil. Als Verbindung zwischen den spanischen Exilanten in Frankreich und den im Spanien Francos verbliebenen Genossen passiert er unter falschem Namen immer wieder die Grenze. Gerade geht er über Irún nach Frankreich. Bei einem heiklen Identitätscheck kommt er dank einer jungen Frau frei. Nadine, gespielt von Geneviève Bujold, ist die Tochter des Mannes, dessen Identität er fälschlicherweise annahm. Die junge Revoluzzerin ist so fasziniert von ihm, dass sie sich ihm beim ersten Treffen in ihrer Wohnung spontan hingibt – ein poetisch verklärend gefilmter, mit elegischer Musik unterlegter Liebesakt, der im beiderseitigen Orgasmus endet, bei dem der jungen Frau schier die Sinne schwinden. Wie Hedy und Ingrid hat es auch Geneviève darauf, wie man wollüstige Ekstasen simuliert. Danach nehmen sie voneinander Abschied, um sich, da Diego eine feste Geliebte hat, nicht wiederzusehen.

      Yves Montand ist ein so überzeugender Verführer, dass man Nadine ihren Orgasmus durchaus abnimmt. Harry ist ziemlich von der Rolle: Also ist die freie Liebe doch möglich? Denn was Diego Mora in Paris kann, das kann ein anderer ein andermal natürlich auch in jeder anderen Stadt. Wie kann ein Mann eine so erotische Ausstrahlung haben, dass er ein Mädchen gleich bei der ersten Begegnung herumkriegt? Warum kann er, der sechzehnjährige Poet, das nicht? Warum ist das nicht auch mit Giselle oder Béa möglich? Warum kommt diese freie Liebe in seinem Leben nicht vor?

      Betty, die die Szene später im Fernsehen sieht, nennt Nadine eine ,so eine Freche'. Sogar seinen Lehrer im Kunstunterricht, zu dem er ein besonders vertrautes Verhältnis hat, lotst er zu dem Film ins Kino und gesteht ihm seine pubertäre Verblüfftheit: dass er nicht versteht, wie man eine Frau so einfach verführen kann. Er empfindet seine Schüchternheit wie eine Art männlicher Unterlegenheit …

      Viel später erst wird ihm klar, dass es nicht allein an seiner pubertären Unreife lag – es ist überhaupt sein Problem, die Anarchie des Blutes mit der vernunftgeordneten Einrichtung der Welt in Übereinstimmung zu bringen. Tatsächlich dürften solche One-night-stands im wahren Leben, zumal in bürgerlichen Milieus, eine extreme Seltenheit sein. Und es ist eher eine Verzerrung der Realität durch den Film, eine sexuelle Freizügigkeit zwischen Mann und Frau vorzuspielen, die es in Wirklichkeit so nicht gibt. Es ist eine pure poetic license in der Sexualmoral,


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