Heine hardcore II - Die späten Jahre. Freudhold Riesenharf
AIDS, Tuberkulose und Malaria finanziert allein 2014 die Verteilung von 5,1 Milliarden Kondome weltweit … – Man stelle sich einmal deren gleichzeitigen Gebrauch vor. Immer aber noch hat ein junger Spund wie Harry vom Produkt seines Genossen, außer im Bordell, eigentlich nichts, solange nicht auch eine Partnerin mitmacht! Außerdem würde er es, sobald er die Gelegenheit bekäme, als ziemlich störend empfinden, zwischen sich und die Frau eine spanische Wand aus Gummi zu ziehen.
Letzteres erübrigt sich durch die Erfindung der Antibabypille, oder einfach ,Pille' genannt. Diese ist ein oral einzunehmendes Präparat zur modernen Empfängnisverhütung. Es enthält die weiblichen Hormone in unterschiedlicher Kombination und ist ein sicheres Mittel gegen unbeabsichtigte Schwangerschaft. Lamettries Maschine Mensch zeigt sich unfehlbar auch hier: Sogar der weibliche Körper ist, so unromantisch es sich anhört, eine Maschine – genauer, eine Reproduktionsmaschine; so ist es kein Wunder, dass auch die Maschinerie der Fortpflanzung durch technische Eingriffe manipuliert werden kann. Im Nachkriegsdeutschland ist die Pille umstritten und im Konflikt mit den Moralvorstellungen. Die Firmen verkaufen sie deshalb zuerst als ein ,Mittel zur Behebung von Menstruationsstörungen', das zunächst nur verheirateten Frauen zukommen soll. Offenbar befürchtet man, dass man die noch Ledigen zu solcher Promiskuität verführen könnte, dass sie am Ende gar nicht mehr heiraten wollen.
Die römisch-katholische Kirche, die es moderner Wissenschaft ungeachtet inzwischen immer noch gibt, lehnt die Verwendung künstlicher Verhütungsmethoden sowieso ab. Der Papst, ihr römischer Oberhirte, steht nach wie vor auf dem vorsintflutlichen Standpunkt, dass aufgrund des natürlichen Sittengesetzes jeder eheliche Akt „auf die Erzeugung menschlichen Lebens ausgerichtet bleiben“ müsse. Das wäre aber, da die Welt allmählich auf die Bevölkerungsexplosion zutreibt, praktisch gleichbedeutend mit totaler Enthaltsamkeit oder Masturbation.
Indem die Pille den Sex von zwangsläufiger Nachkommenschaft befreit und praktisch frei verfügbar macht, ist sie eine das 20. Jahrhundert maßgeblich prägende Neuerung. Fünf Jahre nach ihrer Zulassung, 1965, nehmen sie in den Vereinigten Staaten 41 % der verheirateten Frauen unter 30 Jahren. Erst 1972 erhalten auch die unverheirateten Frauen der Vereinigten Staaten freien Zugriff darauf. 1976 verhüten bereits drei Viertel der 18- und 19-jährigen Frauen mit oralen Kontrazeptiva. Inzwischen sind es nahe 100 % der ab 16-Jährigen.
Mit der Pille gehen die Geburtenraten in den Industrienationen merklich zurück: der ,Pillenknick'. – Damit können die Frauen ihre Geschlechtlichkeit jetzt theoretisch nach Belieben ausleben, ohne Angst vor ungewollter Schwangerschaft haben zu müssen. Die ,frei Liebe' wird möglich. Der Papst ist wie gesagt dagegen. Er hat aber auch, wenn man ihm glauben darf, selber nichts zu verhüten.
Das ist nun aber eine ganz unerhörte Neuerung! Früher mussten Mann und Frau, wenn sie auf natürliche und ungestörte Weise miteinander Sex haben wollten, stets mit der störenden Möglichkeit rechnen, dass die Frau schwanger würde. Wollten sie das nicht, musste der Mann, bevor er zur Ejakulation kam, sein Ding rechtzeitig aus ihrem Schoß ziehen und sich sonstwohin entleeren. Das war der so genannte Coitus interruptus, wie ihn schon Onan bei Thamar in der Bibel verübte. Dieser so genannte „unterbrochene Geschlechtsverkehr“ ist eine veraltete und recht unsichere Methode der natürlichen Empfängnisverhütung, bei der der Koitus so beendet wird, dass die Ejakulation des Mannes außerhalb von Vagina und Vulva erfolgt, um das Vordringen der Spermien zur Eizelle im Eileiter der Frau zu verhindern. Die Ejakulation kann dann, bei ihrem Einverständnis, auf den Körper der Frau oder sonstwohin ins Blaue hinein, auf jeden Fall aber jenseits der Vaginalöffnung, jenseits von Eden, erfolgen. Die katholische Kirche verteufelt den Coitus interruptus mit dem Hinweis auf den vorgenannten biblischen Onan, der sich mittels dieser Methode von der gesetzlichen Pflicht befreien wollte, die Frau seines verstorbenen Bruders zu schwängern und ihren Kindern ihr Erbteil zu sichern.
Im Gegensatz dazu ist der Coitus interruptus etwa im Islam erlaubt. Da wurde er schon zur Zeit des Propheten Mohammad gepflegt und gebilligt. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, welch vermaledeites Malheur unsere Altvordern damit gehabt haben müssen. Man denke nur an die ganze Engelmacherei der Abtreibungen. Schon die Bibelleser kennen den alttestamentarischen Onan, der von Thamar kein Kind haben wollte und daher ins Nirwana hinein onanierte. Das ist aber gar nicht nach Harrys Geschmack, der sich nicht anderes vorstellen kann, als sich immer in seiner Geliebten Schoß zu verströmen. Außerdem ist man nicht einmal beim Coitus interruptus sicher, dass die Frau nicht empfängt, weil sich noch immer leicht ein Samenfädchen selbstständig machen und sich als Irrläufer ins Ovum einschleichen kann.
Das alles ist jetzt Schnee von gestern. Jetzt braucht die Frau nur regelmäßig die Pille zu nehmen, und einem ungestörten Geschlechtsverkehr steht nichts mehr im Wege. Wieder hat der Mensch der Natur ein Schnippchen geschlagen und nimmt seine Fortpflanzung selbst in die Hand. Was für ein unheimlicher Fortschritt! die Natur hat uns die Pflicht zur Lust verordnet, wir aber machen eine Kür daraus. Aus der Pflicht zur Vermehrung eine Kür der Lust. Damit erfüllt sich das utopische Geraune aus Rousseaus Emile: „Nicht genug damit, dass die Frauen ihre Kinder nicht mehr nähren, wollen sie auch keine mehr gebären, das ist eine ganz natürliche Konsequenz. Sobald das Muttersein als lästig empfunden wird, findet man auch bald ein Mittel, sich völlig davon zu befreien; man will einen Genuss ohne Folgen, um immer von Neuem mit ihm beginnen zu können, und verkehrt den Reiz zum Schaden der Gattung, der doch gegeben ist, sie zu vermehren.“ Soviel zu einer Zeit, der von Übervölkerung noch nichts schwante.
Aber sonderbar! Merkwürdigerweise hat Harry von dem ganzen revolutionären Fortschritt persönlich überhaupt nichts. Auch die Erfindung der Pille nämlich kommt nur solchen Männern zugute, die sich mit ihrer Geliebten paaren wollen, ohne ihr gleich ein Kind zu machen. Um solche Sorgen zu haben, muss man aber erst einmal eine Geliebte haben! Der neue Komfort nützt jedoch denjenigen Männern, die keine Geliebte haben, auch nicht das Mindeste dabei, eine solche zu kriegen!
Und nicht nur, dass sie der unbeweibten Männerwelt nichts dabei nützt, ist sie für diese auch noch eine arge Ironie insofern, als sie jetzt, während sie selber auf dem Trockenen sitzt, auch noch dabei zusehen muss, wie die Glücklicheren ungehinderter denn je ihrem antikonzeptionellen Pläsier frönen. Die Ehe ist ein zweischläfriger Egoismus. Pater est quem nuptiae demonstrant. Die Pille bringt Harry nur Hohn und Spott. Wie ist es denn mit Federico und Béa? Während er zu Hause bleibt, vögeln sie in ihrem Madrider Liebesnest.
Wie ist es denn mit seinem Adlatus Alfi, der ihm Inga ausspannte – mit dem sich ihm Inga selber ausspannte? Die pimpern zünftig drauf los, dieweil er selber mit psychischen Zuständen in der Etappe bleibt!
Wie ist es denn mit Isabel und Vicente? Sie lehren den Moscatel der Lust bis zur Neige.
Wie ist es mit Natalie und Paule? Die gehen gleich aufs Ganze und werden noch vor der Matura schwanger!
Daher kann Harry an allen diesen Revolutionen persönlich auch nichts sonderlich Revolutionäres finden. Persönlich merkt er kaum etwas von der Erfindung, die angeblich die freie Liebe ermöglicht. Er selber hat gar nichts davon, denn seine eigene Liebesleidenschaft ist kein Lützel freier als vorher. Die Frauen geben sich im Sexuellen, auch wenn sie es theoretisch könnten, praktisch keineswegs so frei, wie es die Pille erlaubt. Sie suchen sich, kaum sind sie mannbar, wie gehabt einen einzigen festen Partner und obliegen ihrer Liebeslust dann exklusiverweise mit diesem. Das soll die ,freie' Liebe sein? Diese neue freie Liebe ist für Harrys Empfinden genauso unfrei wie die alte.
So taugt ihm die Antibabypille höchstens zu einer neuen Erkenntnis: Die Liebe ist grundsätzlich nicht ,frei'. Die Liebe ist an sich selbst etwas zutiefst Restriktives. Die Liebe bleibt trotz aller abstrakten Freiheit konkret doch immer auf das jeweilige Paar beschränkt, das mit eifersüchtiger Ausschließlichkeit auf seine Zweisamkeit pocht.
Die ,Freiheit' der Liebe gilt immer nur für die beiden Liebenden selbst, die frei sind, zu tun, was sie wollen – wovon ein Außenstehender gar nichts hat. Harry erkennt: das ist ein menschliches Universale. Trotz Pille bleibt er, da er ohne Partnerin ist, genauso einsam in seinem Fleisch wie vorher, und seine Gedichte sind der Ausdruck derselben romantischen Sehnsucht wie eh und je.
Allerdings gibt es Männer, die dem Ideal der freien Liebe ziemlich nahe kommen. Am bekanntesten