Heine hardcore II - Die späten Jahre. Freudhold Riesenharf

Heine hardcore II - Die späten Jahre - Freudhold Riesenharf


Скачать книгу
Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. Lewis Carrolls Alice aus dem Wunderland hätte es vielleicht so gesagt: „Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone.“ Diese Hypothese ist so weit von den Vorstellungen der meisten Menschen entfernt, dass man sie wahrlich als erstaunlich bezeichnen kann. Harry weiß es schon mit neunzehn.

      Alle Empfindungen von Lust und Schmerz sind chemische Vorgänge im Gehirn, auch die sexuellen. Diese besonders! Dass er seine Sexualität so überstark empfindet, lässt ihn, weil die Sexualität etwas Biologisches ist, für den Menschen als biologisches Wesen besonders empfänglich werden.

      Der überwältigende Fortschritt naturwissenschaftlicher Erkenntnis bewirkt zugleich eine Entzauberung der Welt. Das Wort ist aber doppeldeutig. Auf der einen Seite wird der Mensch vom bösen Zauber übelwollender Mächte befreit, die er durch Beschwörungen und Gebete beschwichtigen zu müssen glaubte. Die Welt wird nicht von bösen Dämonen, guten oder bösen Geistern beherrscht, sondern von neutralen Naturgesetzen, die sich erforschen lassen. Das Gehirn aber, „mit dem der Mensch nun beginnt, seine eigene langwierige biologische Vergangenheit zu verstehen“, so der Anthropologe Washburn, „entwickelte sich unter Bedingungen, die längst nicht mehr gegeben sind. Dieses Gehirn entwickelte sich sowohl in seinem Umfang wie in seiner neurologischen Komplexität während einiger Jahrmillionen, und während des größten Teils dieser Zeit lebten unsere Vorfahren unter dem täglichen Zwang, auf der Grundlage von überaus begrenzten Informationen agieren und reagieren zu müssen. Ein Großteil dieser Information war darüber hinaus falsch … Doch das Gehirn … war dasselbe Gehirn, das sich heute mit den Feinheiten der modernen Mathematik und Physik auseinandersetzt.“ – Auf der anderen Seite verliert die Welt durch diese Rationalisierung aber auch ihren reizvollen romantischen Zauber. In einem gewissen Sinn sind wir alle romantiques defroqués. Harry fragt sich, ob der Gewinn des einen den Verlust des andern wohl aufwiegt. Er denkt an Hofmannsthals Chandos-Brief. Aber natürlich ist das bloß rhetorisch gemeint. Wie in dem jüdischen Witz: Wo liegt das Problem, ist der Onkel aus Amerika zu reich? Die rationale Beherrschung der Welt ist ein unschätzbarer Gewinn!

      So, leidenschaftlich zwischen krassen Extremen, der kühlen Geistigkeit des Naturalismus und der verzehrenden Sinnenglut seines Blutes hin und her gerissen, könnte er das Lebensgefühl seiner Jugend nicht besser wiedergeben als der junge Lyriker Brecht in seinem Choral vom großen Baal:

      Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal,

      War der Himmel schon so groß und still und fahl,

      Jung und nackt und ungeheuer wundersam,

      Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam.

      Und der Himmel blieb in Lust und Kummer da,

      auch wenn Baal schlief, selig war und ihn nicht sah:

      Nachts er violett, und trunken Baal,

      Baal früh fromm, er aprikosenfahl.

      Und durch Schnapsbudike, Dom, Spital

      Trottet Baal mit Gleichmut und gewöhnt sich's ab.

      Mag Baal müde sein, Kinder, nie sinkt Baal:

      Baal nimmt seinen Himmel mit hinab.

      In der Sünder schamvollem Gewimmel

      Lag Baal nackt und wälzte sich voll Ruh:

      Nur der Himmel, aber immer Himmel,

      Deckte mächtig seine Blöße zu.

      Und das große Weib Welt, das sich lachend gibt

      Dem, der sich zermalmen lässt von ihren Knien,

      Gab ihm einige Ekstase, die er liebt,

      Aber Baal starb nicht: er sah nur hin.

      Und wenn Baal nur Leichen um sich sah,

      War die Wollust immer doppelt groß.

      Man hat Platz, sagt Baal, es sind nicht viele da.

      Man hat Platz, sagt Baal, in dieses Weibes Schoß.

      Gibt ein Weib, sagt Baal, euch alles her,

      Lasst es fahren, denn sie hat nicht mehr!

      Fürchtet Männer nicht beim Weib, die sind egal:

      Aber Kinder fürchtet sogar Baal.

      Alle Laster sind zu etwas gut,

      Und der Mann auch, sagt Baal, der sie tut.

      Laster sind was, weiß man, was man will.

      Sucht euch zwei aus: eines ist zuviel!

      Seid nur nicht so faul und so verweicht,

      Denn Genießen ist bei Gott nicht leicht!

      Starke Glieder braucht man und Erfahrung auch:

      Und mitunter stört ein dicker Bauch.

      Zu den feisten Geiern blinzelt Baal hinauf,

      Die im Sternenhimmel warten auf den Leichnam Baal.

      Manchmal stellt sich Baal tot. Stürzt ein Geier drauf

      Speist Baal einen Geier, stumm, zum Abendmahl.

      Unter düstern Sternen in dem Jammertal

      Grast Baal weite Felder schmatzend ab.

      Sind sie leer, dann trottet singend Baal

      In den ewigen Wald zum Schlaf hinab.

      Und wenn Baal der dunkle Schoß hinunter zieht:

      Was ist Welt für Baal noch? Baal ist satt.

      Soviel Himmel hat Baal unterm Lid

      Daß er tot noch grad gnug Himmel hat.

      Als im dunklen Erdenschoße faulte Baal

      War der Himmel noch so groß und still und fahl,

      Jung und nackt und ungeheuer wunderbar,

      Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war.

      Sein Deutschlehrer Professor Kramer – der jetzt Baumgartner heißt, und auch nicht mehr ,Professor' ist – hat sein eigenes Bild von ihm. Er, der seinen Dialog mit Natalien gelesen hat, spürt seine kreative Unruhe.

      Einmal als er in der Halle geht, kommt Kramer hinter ihm drein.

      „Ihr Gang“, sagt er, als er ihn eingeholt hat, „strömt eine beängstigende Freiheit aus!“

      Ein andermal im Fasching, im Anschluss an eine Schüleraufführung von Oscar Wildes Bunbury zusammen mit ihm und einigen Mädchen in einer Bierstube, deutet er mit einem halb spekulativen, halb ironischen Blick auf ihn und sagt mit Blick auf die Mädchen: „Thomas Wolfe! Er wird ein Thomas Wolfe. Da muss man sich ranhalten!“

      Harry ist ihm spontan dafür dankbar. Er weiß nicht, wer Thomas Wolfe ist, nimmt sich aber mit Bestimmtheit vor, nächstens etwas von ihm zu lesen. Die Mädchen müssen den Fingerzeig aber nicht verstanden haben, da keines von ihnen, auch in der Folge nicht, Anstalten trifft, ihm Folge zu leisten.

      27: Tarita

      Alle heilige Zeit ereignet sich eine so genannte sexuelle Revolution. Darunter versteht man laut Definition einen Wandel der öffentlichen Sexualmoral im Sinn einer enttabuisierten Sexualität. Die sexuellen Bedürfnisse und Gewohnheiten der Geschlechter werden, unabhängig von institutionell oder religiös legitimierten Zwängen, mehr und mehr akzeptiert.

      Drei sexuelle Revolutionen in Europa und Amerika seit Ende des 19. Jahrhunderts sind zu erkennen: die erste sexuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der Sigmund Freud bei seiner Sexualtheorie konfrontiert ist. Fasziniert verfolgt Harry die Entstehung der Psychoanalyse und wie Freud dem Vorwurf ausgesetzt ist, dass er die Bedeutung des Sexuellen für das Menschsein überschätze. Er selbst ist nicht der Meinung, dass Freud übertreibt. Die Bedeutung des Sexuellen für das Menschsein kann man ja eigentlich, wenn man ehrlich ist, gar nicht überschätzen!

      Engagiert verfolgt er die Diskussion über Onanie der Wiener


Скачать книгу