Heine hardcore II - Die späten Jahre. Freudhold Riesenharf
den Umstand aufzuklären. Dabei hätte er ihm viel hebephrenische Verwirrung ersparen können.
Tatsächlich nämlich glaubt Harry an Männer von derart erotischer Ausstrahlung, dass sie die Frauen buchstäblich um den Finger wickeln. Gibt es solche One-night-stands in La guerre est finie, dann kommen sie sicher auch sonst noch vor. Errol Flynn, Marlon Brando oder Berühmtheiten wie Pablo Picasso oder populäre Rockstars brauchen nur mit dem Finger zu schnippen, und schon haben sie eine. Ist aber seine Lust bei der einsamen, nur auf Illusion beruhenden Selbstbefriedigung schon so ungeheuer, – um wieviel größer müsste sie, folgert er, dann erst sein, wenn er eine wirkliche Frau besäße! Kommen diese Verführer ständig so auf ihre Kosten, dann ist er ihnen gegenüber unermesslich im Nachteil. Wer aber die Liebeslust versäumt, hat kein Leben. Die Vorstellung wird zu einer fixen Idee – einer jugendlichen Hebephrenie. Wann immer er von einem Mann hört, dem er eine solche Anziehungskraft zutraut, spürt er den Stachel Sexualneid in sich. Einmal bekommt er in einer Kaschemme mit, wie ein junger Kerl von dem amerikanischen Countrysänger Johnny Cash schwärmt. Schon dem Ton seiner Stimme glaubt er entnehmen zu können, dass es ihm mit solchen Männern genauso geht wie ihm selber.
Ein andermal glaubt er bei seiner alten Liebe Hanni dieselbe Bewunderung gegenüber einem verheirateten Religionslehrer zu bemerken und wundert sich fast, dass sie ihm keine sichtbaren Avancen macht. Offenbar traut er seiner Umwelt ungleich mehr Libertinismus zu, als zu welchem er sich selbst versteht.
Erst viele Jahre später erkennt er, dass weder eine solche erotische Anziehungskraft noch der entsprechende Libertinismus der Realität entsprechen. Die bürgerliche Welt ist, was sexuelle Liberalität betrifft, extrem konservativ. Kurzum, Renais' Liebesszenen sind künstlich stilisiert und übertrieben. Und nicht nur die seinen: Es ist überhaupt die poetic license des Films – und die Regisseure machen desto heftiger Gebrauch davon, je näher wir der Gegenwart kommen. Desungeachtet ist Yves Montand nicht von schlechten Eltern. Während des Drehs von Let's make love vernascht er Marilyn Monroe, die noch mit Arthur Miller, einem bedeutenden Dramatiker, verheiratet ist, von der Bettkante weg. Harry wundert sich über den mangelnden Respekt des Schauspielers gegenüber dem berühmten Dichter. Wusste er vielleicht, dass die Ehe der beiden nur noch auf dem Papier bestand? Auf die Frage von Reportern, wie sie dazu steht, meint seine Frau Simone Signoret nur: Marilyn habe einen guten Geschmack. Noch mit 67 macht er der 28jährigen Carole Amiel ein Kind, Valentin.
Ähnliches hört man von dem mexikanischstämmigen Anthony Quinn. Der hat von fünf Frauen 13 Kinder. Noch im Alter von 82 bis 86 hat er mit seiner früheren Sekretärin zwei Kinder. Harry denkt an Thersites in Troilus und Cressida: Nothing but lechery! All incontinent varlets! Nichts als Unzucht! Lauter geile Kerle!
Um zu testen, was er sich alles leisten kann, oder wie weit er gehen kann, bringt er ein Exemplar des Magazins Playboy eines Freundes mit in die Schule, in dem sich in einer Fotoserie die bezaubernde Silva Koscina, eine italienische Schauspielerin jugoslawischer Herkunft, nackt am Swimmingpool aalt. Gibt es eine reizendere Susanna oder Bathseba im Bade? Sein Zeichenlehrer weist ihn bestürzt darauf hin, dass er deswegen von der Schule geschmissen werden könnte. Harry wundert sich, weil ihm die antiken priapeischen Figuren aus dem Kunstunterricht, die den geilen Gott mit prall erigiertem Phallus zeigen, weit anstößiger scheinen als die bezaubernde Silva. Tatsächlich scheint es eher die allgemeine Bigotterie der Schule, wenn nicht die des Mentors, die solcherlei mit Sanktionen bedroht. Es ist eine fatale Sache, relegiert zu werden; sogar das bloße Konsiliiertwerden soll sein Unangenehmes haben.
Eine amerikanische Schauspielerin mit eindrucksvoller Oberweite, Jayne Mansfield, ruft einen internationalen Skandal hervor, als sie sich mit entblößten Brüsten am Michigansee zeigt. Sie stirbt am 29. Juni 1967 im Alter von 34 zusammen mit ihrem Verlobten bei einem Autounfall in Louisiana.
Doch hat sich an der Situation der jungen Leute seit Kants Anthropologie wenig geändert: Die erste physische Bestimmung unserer menschlichen Sexualität ist der Antrieb zur Erhaltung unserer Gattung, als Tiergattung. Hier treffen aber die Naturepochen unserer Entwicklung mit den bürgerlichen nicht zusammen. Nach der ersteren sind wir im Naturzustand spätestens in unserem 15-ten Lebensjahr durch den Geschlechtsinstinkt angetrieben und vermögend, unsere Art zu erzeugen und zu erhalten. Nach der zweiten können wir es (im Durchschnitt) vor dem 20-sten schwerlich wagen. Denn hat der Jüngling gleich früh genug das Vermögen, seine und seines Weibes Neigung als Weltbürger zu befriedigen, so hat er doch lange noch nicht das Vermögen, als Staatsbürger sein Weib und Kind zu erhalten. Er muss einen Beruf erlernen, sich in Kundschaft bringen, um ein Hauswesen mit seinem Weib anzufangen, worüber aber in der geschliffeneren Volksklasse auch wohl das 25. Jahr verfließt, ehe er zu seiner Bestimmung reift. – Womit nun, fragt der Philosoph, füllen wir diesen Zwischenraum einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit aus? Seine Antwort: Kaum anders als mit Lastern.
Kaum anders als mit Lastern!? Trifft Immanuel damit den Nagel auf den Kopf?
Ja und nein, Harry ist geteilter Meinung. Gewiss, die abgenötigte Enthaltsamkeit ist unnatürlich, soviel ist sicher. Deshalb halten sich die jungen Leute ja auch gar nicht daran, heute so wenig wie früher. Haben Mann und Weib Lust aufeinander, haben sie jetzt kraft Pille auch jederzeit die Möglichkeit dazu. Alfi und Inga haben es bewiesen. Kein Anlass also zu Lastern.
Die Leute haben die reine Möglichkeit! verbessert er sich, denn was ist mit denjenigen Jungen, die keinen gleichgesinnten Partner haben? Was ist mit denjenigen jungen Männern und Frauen, die allein in ihrem Fleisch sind? Denen nützt auch die Pille nichts, so dass für sie das Kantische Problem so aktuell ist wie vor zweihundert Jahren.
Was aber meint Kant mit ,Lastern'? Da ist er wenig explizit. Das ,Laster' ist vielleicht der Umgang mit den Prostituierten in den Freudenhäusern, wo man die körperliche Liebe kaufen kann. Dabei reichen die Mittel der Betroffenen meist aber gerade so wenig wie dafür, ein Weib zu ernähren, auch für den Besuch im Bordell! Das besagte Jahrzehnt einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit, die auf Dauer sowieso nicht einzuhalten ist – und auch gar nicht einsehbar ist, wieso sie überhaupt eingehalten werden sollte –, führt daher eher zu einem anderen, ebenso abgenötigten wie allgemein praktizierten Verhalten: der sexuellen Selbstbefriedigung. Freud nannte es Notonanie: diejenige Onanie, die aus der Not kommt, dass der Einzelne ohne Sexualpartner ist. Davon zu unterscheiden ist offenbar diejenige Onanie, die auch dann noch praktiziert wird, wenn es einen solchen Partner gibt. Ist also die Masturbation – ob nun abgenötigt oder freiwillig – das ,Laster', auf das Kant anspielt?
In seiner Philosophie des Unbewussten von 1869 kommentiert der Philosoph Eduard von Hartmann die Kantische Stelle: Wer aber wirklich ausnahmsweise sich von allen das Provisorium erfüllenden Lastern frei hält und mit der Anstrengung der Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampf überwindet, der hat in diesem Zeitraum von der Pubertät bis zur Verheiratung, dem Zeitraum wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, doch der loderndsten sinnlichen Glut, eine solche Summe von Unlust zu ertragen, dass die in dem späteren Zeitraum folgende Summe der geschlechtlichen Lust sie nimmermehr aufwiegen und wiedergutmachen kann. Das Alter der Verheiratung der Männer rückt aber mit fortschreitender Kultur immer höher hinauf, der provisorische Zeitraum wird also immer länger und ist am längsten gerade bei den Klassen, wo die Nervensensibilität und Reizbarkeit, also auch die Qual der Entbehrung am größten ist. Da wäre es doch, wenn nicht gar menschenunmöglich, so doch jedenfalls höchst menschenfeindlich, wenn in dem Zeitraum der loderndsten sinnlichen Glut die Vernunft zu keinem besseren Zweck gebraucht werden sollte, als die Qualen der erregten Sinnlichkeit „in ewig erneutem Kampf zu überwinden“, anstatt dafür wenigstens halbwegs nach Ersatz zu suchen.
Ein Mann mit der loderndsten sinnlichen Glut und der größten Nervensensibilität und Reizbarkeit ist zweifellos er, Harry Heine! Es wäre daher höchst irrational, wenn er sich von allen das Provisorium erfüllenden Lastern frei halten und mit der Anstrengung der Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampf überwinden und in dem Zeitraum von der Pubertät bis zur Verheiratung – dem Zeitraum, wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, doch der loderndsten sinnlichen Glut – eine solche Summe von Unlust ertragen wollte, dass die in dem späteren Zeitraum folgende Summe der geschlechtlichen Lust