Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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außer etlichen Getränkedosen kaum etwas befindet.

      „Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“, beendet Strelow seine still und routinemäßig durchgezogene Inspektion.

      „Eigentlich nicht“, zieht Claude Bilanz, seine Gedanken zum Persönlichkeitsbild des Zimmerbewohners für sich behaltend, wobei Strelows Reaktion nicht erkennen lässt, ob er sich seiner stillen Analyse anschließen würde oder nicht.

      „Mal schauen, ob von den Zimmernachbarn jemand da ist. Vielleicht können die uns weiterhelfen.“ Strelows Klopfen an der Zimmertür zur Rechten bleibt erfolglos, ebenso seine derartigen Bemühungen direkt links neben Wang Bings Zimmer, erst bei demjenigen daneben öffnet sich nach zweimaligem Versuch die Tür, in deren Rahmen ein unrasiertes, von wilden schwarzen Locken umrahmtes Männergesicht sichtbar wird, dem der Schlaf noch in die Augen geschrieben steht und aus dessen Mund sich ein gequältes, schlaftrunkenes: „Ja, bitte, was wollen Sie?“ entringt.

      „Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe“, scheint es Strelow peinlich zu sein, den jungen Mann, der ihm nur mit einer Unterhose bekleidet gegenübersteht, aus dem Schlaf gerissen zu haben, „mein Name ist Strelow, ich komme von der Kriminalpolizei und hätte eine paar Fragen an Sie. Nein, nein, keine Angst", reagiert er auf die sich schockartig weitenden Augen des so unvermittelt Überfallenen, „es geht dabei nicht um Sie, sondern um Ihren Zimmernachbarn, Herrn Wang Bing.“

      „Ach so. Warten Sie einen Augenblick, ich ziehe mir nur rasch etwas an.“

      „Lassen Sie sich Zeit“, ruft ihm der Kommissar durch die einen Spalt offen stehende Tür hinterher. Viel davon braucht der unsanft aus dem Schlaf Gerissene indes nicht, erscheint vielmehr kaum eine Minute später angezogen und flüchtig gekämmt bereits wieder.

      „Was ist mit Wang?“, wendet er sich an Strelow.

      „Herr Wang ist tot. Er ist am Wochenende bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen“, legt der Kriminalbeamte noch nicht alle Karten auf den Tisch.

      „Was?“ Falls bis zu diesem Augenblick noch Restspuren von Schläfrigkeit im Körper des jungen Mannes gesteckt haben sollten, so werden sie durch das Vernommene mit einem Schlag und endgültig getilgt. Ungläubiges Entsetzen füllt das Gesicht, das in diesem Augenblick aussieht wie aus Stein gemeißelt, der Schock spannt und strafft alle Muskeln, wodurch erst die ganze Athletik des vor ihnen stehenden Mannes deutlich wird, dem es nicht leichtfällt, das Gehörte zu verarbeiten.

      Dass Strelow trotz seiner vielen Dienstjahre und alle dem, was er in ihnen an mitunter Unmenschlichem erlebt hat, Mensch geblieben ist, verraten Claude die Sekunden, die dieser dem fassungslos vor ihm Stehenden zur Verarbeitung, Verdauung des Gehörten zugesteht. „Aus Ihrer Reaktion glaube ich schließen zu dürfen, dass Sie Herrn Wang recht gut kannten. Stimmt das?“

      „Gut, nun ja, wie man sich als Zimmernachbar halt so kennt. Wir haben ab und zu miteinander gegessen, das heißt er hat mich eingeladen, denn er kocht ... kochte ganz gut Chinesisch. Dabei haben wir dann über so allerlei geplaudert, wobei er mir so einiges über China erzählt hat. Aber sollten wir nicht lieber reingehen“, lädt er Strelow und Claude zum Betreten seines Zimmers ein, wo er flugs ein paar Bücher von einem der beiden Stühle räumt, die er ihnen anbietet.

      „Hat er Ihnen auch von seiner Familie erzählt?", greift der Kommissar sodann den Gesprächsfaden wieder auf.

      Der junge Mann, der sich aus Mangel an weiteren Sitzgelegenheiten auf dem Bett niedergelassen hat, denkt einige Sekunden nach: „Eigentlich nicht viel. Seine Eltern leben in Shanghai, und soviel ich weiß, hat er noch eine Schwester, die aber woanders wohnt, wo allerdings weiß ich nicht mehr, den Namen des Ortes habe ich mir nicht merken können. Sein Vater ist irgendwie in der Stadtregierung tätig oder so, aber Wang hat nie viel darüber gesprochen.“

      „Was war er denn für ein Typ? Umgänglich? Zurückgezogen? Und kennen Sie sonst irgendwelche Freunde von ihm?“

      Letztere Fragen scheinen den Befragten, der den ersten Schock verarbeitet hat, stutzig gemacht zu haben: „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie das frage, aber Sie sagten, er sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, stimmt’s?“

      „Richtig.“

      „Und Sie selbst sind von der Kriminalpolizei?“ Mit wortlosem Nicken beantwortet Strelow die an ihn gerichtete Frage. „Das verstehe ich nicht so ganz, ich meine, warum kümmert sich nicht die Verkehrspolizei um die Angelegenheit?“, bringt der Student seine Verwirrung zum Ausdruck.

      Strelow hält den Zeitpunkt für gekommen, dem vor ihm Sitzenden reinen Wein einzuschenken: „Es war kein normaler Verkehrsunfall. Um genau zu sein, die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass auf den Wagen, den Herr Wang gefahren hat, geschossen wurde.“

      „Sie meinen, es handelt sich um Mord, wenn ich Sie recht verstehe?“ Kaum waren die Spuren der ersten Schreckensnachricht einigermaßen aus dem Antlitz des jungen Mannes gewichen, lassen Wellen fröstelnden Schauerns dieses erneut erstarren. ‚Was für ein Job’, schießt es Claude bei der Beobachtung der Szene durch den Kopf, ‚Menschen beinahe täglich auf fast schon brutal zu nennende Art und Weise mit Gegebenheiten zu konfrontieren, ihnen lebenseinschneidende Hiobsbotschaften übermitteln zu müssen, an denen sie möglicherweise zerbrechen.’ Zwar spricht nichts dafür, dass dies auch in diesem Fall geschehen könnte, dennoch ist deutlich spürbar, welche Betroffenheit die Worte des Kommissars bei dem Studenten ausgelöst haben, und da dieser noch mit der Koordinierung seiner Gedanken beschäftigt zu sein scheint, nutzt der Kriminalbeamte sogleich die Gelegenheit, ihm in groben Zügen die weiteren für den Fall relevanten Fakten vorzutragen, aus denen man sich bislang keinen Reim machen könne.

      „Wissen Sie zufällig, ob Herr Wang irgendwelche Verwandte hier in der Bundesrepublik besaß?“, geht Strelow von der Darlegung der Fakten direkt zur weiteren Befragung über.

      „Nein, zumindest hat er mir gegenüber nie jemanden erwähnt. Es kamen zwar gelegentlich Landsleute von ihm vorbei, das waren aber meines Wissens alles auch nur Studenten. Nein, halt, stimmt nicht ganz, ein etwas älterer Chinese hat ihn mehrmals besucht, immer abends.“

      „Können Sie sich an den Mann noch erinnern? Wie alt war er, wie groß?“

      „Wie groß? Ziemlich klein, einen Meter fünfundsechzig schätze ich. Und wie alt? Schwer zu sagen, Asiaten sind so schwer zu schätzen... Na ja, vielleicht Anfang Fünfzig, aber wie gesagt, ohne Gewähr.“

      „Würden Sie ihn wiedererkennen?“

      „Ja, ich denke schon.“

      „Und die anderen, was wissen Sie von denen?“

      „Nicht sehr viel. Einer heißt Zhang und ist ... war Kommilitone von Wang. Wir drei haben einmal zusammen zu Abend gegessen. Die beiden hatten anlässlich irgendeines chinesischen Feiertages Chinesisch gekocht. Der war im Vergleich zu den anderen relativ häufig da, wenn Wang zu Hause war.“

      Der Ton der letzten Bemerkung veranlasst Strelow zu folgender Frage: „War er denn oft weg?“

      „Ja, manchmal zwei Wochen und mehr. Als ich ihn einmal deswegen ansprach, meinte er, er müsse Geld verdienen, um sein Studium zu finanzieren, daher jobbe er manchmal auch woanders, weiter weg, so dass es sich nicht lohne, jeden Tag nach Hause zu fahren.“

      „Wo das war, wissen Sie nicht zufällig?“

      „Nein, keine Ahnung. Ich habe ihn nicht gefragt, und er hat mir nichts gesagt.“

      „Und die anderen chinesischen Bekannten, die Herrn Wang besucht haben? Was wissen Sie von ihnen?“

      „Die scheinen nicht hier in Erlangen zu wohnen. Einmal habe ich Wang nämlich mit zweien von ihnen zufällig in einem Auto mit Münchner Nummer wegfahren sehen.“

      „Wie oft kamen die zu ihm zu Besuch?“

      „Keine Ahnung, auf so etwas passe ich


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