Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


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zu Jakven bringen? Er soll sich bis morgen früh um sie kümmern.“

      Sofort stand der Cas auf.

      „Natürlich.“

      Er wollte Lennys an die Hand nehmen, doch das Mädchen stolzierte bereits recht selbstbewusst auf die Turmpforte zu.

      Die Ratssitzung dauerte länger als erwartet und obwohl sie zermürbend gewesen war, fühlte sich Saton zufrieden. Die Berichte der Handwerker und Priester waren vielversprechend und er hatte das Gefühl, in einigen wichtigen Fragen gute Fortschritte erzielt zu haben. Trotzdem wollte ein schaler Beigeschmack nicht weichen und erst als er Wandan an der Treppe zu seinen Privatgemächern warten sah, keimte eine stille Ahnung über den Ursprung dieses Gefühls in ihm auf.

      „In der Burg ist es ruhig?“ fragte der Shaj wie beiläufig.

      „Alles in bester Ordnung.“ bestätigte der Cas. Hinter ihm wachten Cala und Faragyl an den Treppenaufgängen. Wandan war also nicht hier, weil sein Dienst es verlangte.

      „Du bist sicher müde.“ fuhr der Krieger fort. „Aber wenn du es erlaubst, würde ich gerne kurz sprechen.“

      Saton nickte ergeben. Er hatte schon länger damit gerechnet, dass sein Freund sich auch als ein solcher erweisen würde und mit seiner ehrlichen Meinung nicht allzu lange hinter dem Berg hielt. Kurz war er versucht gewesen, die Unterredung auf den nächsten Tag zu verschieben, aber dann hatte er sich eines Besseren besonnen. Er hatte schon zu viele Dinge zu lange aufgeschoben.

      In seinem Arbeitszimmer war Saton stets ungestört. Nur sein Hauptkämmerer, der oberste Cas und seine eigene Tochter hatten zu den Räumlichkeiten dieses Flügels Zugang und da der Kämmerer und Lennys längst schliefen, konnte er sich sicher sein, dass er und Wandan von niemandem unterbrochen oder gar belauscht wurden.

      Obwohl er ziemlich genau zu wissen glaubte, was der Anlass des Gespräches war, tat der Shaj zunächst ahnungslos.

      „Also, worum geht es?“

      Wandan fackelte nicht lange.

      „Lennys.“

      „Ahh...“ Saton gab auf. „Ich dachte mir so etwas. Nun gut. Was möchtest du mir sagen?“

      „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wo ich anfangen soll.“

      „Wie wäre es mit 'Ich will ein Mondpferd'?“ schlug Saton vor.

      „Ich könnte auch einen Schritt weitergehen.“ Wandan stand auf, stemmte die Hände genauso in die Hüften, wie er es einige Stunden zuvor bei dem kleinen Mädchen gesehen hatte und ahmte ihren recht überzeugten Tonfall sehr treffend nach: „'Ich bin eine Ac-Sarr'!“

      „Sie ist eine.“

      „Und sie weiß es.“ gab der Cas zurück. „Das ist das eigentliche Problem.“

      „Willst du mir vorwerfen, dass meine eigene Tochter ihre Abstammung kennt?“

      „Ich will dir überhaupt nichts vorwerfen. Und das würde ich auch nie. Du bist mein Herr, auch wenn ich noch so offen zu dir sprechen darf. Aber ich fürchte, das, was ich sagen möchte, wirst du nicht hören wollen.“

      „Du denkst, ich verziehe sie.“

      „Nein. Das würde ich so nicht sagen. Du bemühst dich sehr um sie. Aber sie bekommt zu oft ihren Willen. So wie die Sache mit dem Mondpferd. Sie will etwas. Und sie bekommt es. Entweder sofort oder spätestens nach einem Wutanfall. Sie ist gerade erst sechs Jahre alt, aber sie hat schon eines gelernt: Dass es für sie keine Grenzen gibt.“

      „Was die Sache mit dem Pferd angeht, gebe ich dir zum Teil recht. Aber eben nur zum Teil. Auch wenn sie erst sechs ist, bedeutet das nicht automatisch, dass sie im Unrecht ist. Sie ist eine Ac-Sarr. Und sie hat das Recht auf ein Mondpferd. Mehr als jeder andere in diesem Land.“

      „Saton, sie ist ein Kind! Der einzige Mensch, dem sie sich vielleicht ein klein wenig fügt, bist du. Aber nur weil sie weiß, dass alle Sichelländer tun, was du willst. Sie sieht dich mehr als ihren Herrscher als ihren Vater. Und sie hat keinerlei Respekt. Weder vor den Cas, noch vor ihrem Kindermädchen, noch vor sonst irgendwem.“

      „Und du denkst, dass ich das zu verantworten habe.“

      „Mit Verlaub, mein Freund, aber du hast ihr stets vor Augen gehalten, wie sehr du sie vergötterst. Und dass alle anderen das auch tun sollten. Sie weiß, dass du ein Herrscher dieses Landes bist und sie weiß, dass sie deine Tochter ist. Für Lennys ist es selbstverständlich, dass sie sich niemandem beugen muss und dass der einzige Mensch, der ihr etwas zu sagen hat, ihrem Willen nachgibt.“

      Ärgerlich verschränkte Saton die Arme.

      „Du redest, als wäre sie eine Tyrannin.“

      Wandan verdrehte die Augen.

      „Um Himmels Willen, nein. Aber sie hat nicht nur einen sehr starken Charakter, sondern auch ein ausgesprochen ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Ich wiederhole mich nur ungern, aber sie ist ein Kind! Ein Kind, dass deine gesamte Dienerschaft und den ganzen Hausstand Vas-Zaracs fest im Griff hat. Und dich auch! Siehst du das denn nicht? Sie bekommt alles, was sie will. Von dir und von jedem anderen.“

      „Also verziehe ich sie doch.“

      „Wenn du so willst: Ja. Sie ist verzogen, verwöhnt und für ihr Alter viel zu sehr von sich eingenommen. Es tut mir leid, aber du wolltest meine ehrliche Meinung hören.“

      Saton schwieg und sah Wandan durchdringend an. Der Cas kannte diesen Blick, es war genau jener, mit dem der Shaj stets zu erkennen versuchte, ob sein Gegenüber aus vollem Herzen die Wahrheit sagte. Eine Gabe und Angewohnheit, die mittlerweile sogar schon bei der kleinen Lennys zu beobachten war.

      "Versuchst du mich zu provozieren?" fragte Saton irgendwann.

      "Nein. Ich sage dir, was ich denke."

      "Du sprichst, als wäre sie... Nein, ich verstehe dich nicht, Wandan. Du selbst bist von ihr hingerissen, denkst du, ich sehe das nicht? Auch du versuchst keineswegs, sie zu zügeln. Was ist also so falsch daran, wenn ich sie nicht durch ständige Grenzen einengen will? Sie soll glücklich sein! Das ist das Wichtigste!"

      "Sie wird so nicht glücklich, Saton. Sie kann sich über nichts freuen. Nicht über Erfolge, nicht über Geschenke, nicht über Zugeständnisse. Weil es nichts Besonderes für sie ist, sondern alltäglich. Und ich habe nicht gesagt, dass sie nicht auch gute Seiten hätte. Lennys ist sehr intelligent, sie ist, da hat sie leider recht, jetzt schon eine ausgezeichnete Reiterin, und sie zeigt bereits in ihren jungen Jahren eine deutliche Verbindung zum Sichel- und Säbelkampf, auch wenn wir diese Waffen noch von ihr fern halten. Und solange sie ihren Willen bekommt, ist sie sogar recht umgänglich - meistens."

      "Sie sieht aus wie ihre Mutter." bemerkte Saton und es klang wehmütig.

      "In der Tat. Sie wird eine Schönheit werden. Aber Saton, wach endlich auf. Lennys ist nicht Cureda. Und sie wird es nie sein. Und wenn man sie weiter so gewähren lässt wie bisher, dann wird sie all den Respekt, die Ehrerbietung und das Ansehen, dass sie als deine Tochter erhält, schneller verlieren als dir lieb ist."

      "Ich kann nicht immer um sie sein! So gern ich das täte. Ich muss sie an Diener und Kinderfrauen übergeben. Manchmal glaube ich, es wäre besser, wenn sie von Kriegern wie uns erzogen werden würde, aber ich will ihr nicht im Weg stehen. Vielleicht wird sie doch eine Priesterin, wie Cureda. Sie soll die Wahl haben."

      "Sie hat die Wahl, Saton. Aber sei versichert, sie wird sich nicht dem Himmel zuwenden. Die Nacht ist viel zu stark in ihr."

      "Würdest du es tun?" fragte der Shaj plötzlich.

      "Was?"

      "Ich kann, wie gesagt, nicht immer um sie sein. Aber auf dich hört sie beinahe ebenso wie auf mich. Und..."

      Hastig wehrte Wandan ab. "Oh nein, mein Freund. Das ist doch nicht dein Ernst? Ich soll deine Tochter erziehen? Ich soll Lennys Benehmen beibringen?"

      "Ich könnte dich von


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