Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


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er als Shaj der Nacht kein Gefühl besser kannte als das der Einsamkeit, wusste er, dass sie nicht sein durfte. Nicht jetzt.

      In dem kleinen Zimmer gab es nur zwei Lehnstühle, einen Kamin und einen niedrigen Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wasser stand. Keine Teppiche, keine Bücher, keine Kerzenhalter. Der Shaj kam nur hierher, wenn er über besonders ernste Dinge sprechen oder nachdenken wollte und keinerlei Ablenkung duldete. Wandan wusste nicht, wann Saton zuletzt jemanden hier empfangen hatte. Es musste Jahre her sein.

      Und nun saß er dort und doch war er es nicht. Es war nicht der Saton, den Wandan kannte. Jegliche Fröhlichkeit, jede Zuversicht und alles Beruhigende, das den Shaj der Nacht sonst ausgemacht hatte, war verschwunden. Stattdessen blickte ein Mann ins Feuer, der aussah, als hätte er nie auch nur im Entferntesten von Dingen wie Glück oder Freude gehört.

      Wortlos setzte sich Wandan auf den freien Stuhl und wartete.

      Den ganzen Weg über hatte er sich ausgemalt, was ihn wohl erwartete, doch nichts in Yto Te Vel oder auch in diesem Hause deutete darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung war. Jeder, der das große Glück hatte, in diesen Tagen hier zu verweilen, genoss dies offenbar in vollen Zügen.

      "Was ich dir jetzt sage, weiß noch niemand sonst."

      Wandan durchfuhr es eiskalt. Satons Stimme klang hohl und fremd und hatte alle Wärme verloren.

      Der Shaj sah ihn nicht an.

      "Eines Tages wirst du vielleicht sagen: Ja, ich wusste davon. Und vielleicht wirst du der Meinung sein, es sei an der Zeit, das Wissen mit jemandem zu teilen. Es wird ein Tag sein, an dem du mich nicht mehr um Rat fragen kannst, sondern selbst entscheiden musst. Schwöre mir, dass du nie mit jemandem darüber sprichst, solange du nicht weißt, was es bedeutet. Schwöre es, Wandan."

      Und Wandan schwor, ohne so recht zu wissen, was er da sagte.

      Doch Saton erklärte sich nicht weiter. Dann stand er auf, stellte sich vor seinen Cas und sagte:

      "Cureda wird nicht nach Semon-Sey zurückkehren. Sie wird sterben. Sie wird unser Kind zur Welt bringen und es wird ihr Tod sein. Sie wusste es die ganze Zeit, doch erst jetzt konnte sie es mir sagen. Sie gibt ihr Leben für das Kind, das ich mir so sehr gewünscht habe."

      Wandan wusste nicht, wie ihm geschah. Tausende Fragen formten sich in seinem Kopf und zerfielen wieder.

      "Saton..."

      "Nein, Wandan. Ich kann dir nicht mehr sagen. Ich werde das verlieren, was mir in meinem Leben das Wichtigste war. Und ich werde etwas erhalten, was an seine Stelle tritt. Niemand hat schuld. Weder sie noch ich und am allerwenigsten meine Tochter. Ja, es wird ein Mädchen sein, Wandan. Die Heiler sind sich sicher. Sie wird etwas Besonderes sein. Doch sie kann nur leben, weil ihre Mutter für sie stirbt. Das macht sie wertvoller als du jetzt ahnst. Du bist der oberste Cas und deine höchste Pflicht ist es, mein Leben zu beschützen. Dennoch muss ich von dir verlangen, dass du eine weitere auf dich lädst. Deine Treue gilt mir nur dann, wenn sie auch meinem Kind gilt."

      "Du hast mein Wort."

      Saton nickte, doch er bedankte sich nicht.

      Die Stunden verstrichen und wollten doch kein Ende nehmen. Der Heiler stand rat- und hilflos in einer Ecke des Schlafzimmers und betete im Stillen, die Nacht möge bald vorüber sein, doch was, so fragte er sich, würde geschehen, wenn das Kind dann immer noch nicht da war? Die junge Frau, die es gebar, würde diese Strapazen nicht mehr lange überstehen.

      An ihrer Seite saß der Shaj der Nacht. Ihm war keine freudige Erwartung mehr anzusehen, keine Nervosität, keine Hoffnung. Nur eine unerklärliche Bitterkeit und eine angsteinflößende Ruhe. Immer wieder nahm er seine Gemahlin in die Arme, wenn die Wehen ihr diesen kurzen, erholsamen Moment gönnten, doch gleich darauf bäumte sie sich schon wieder auf und versuchte, mit der letzten ihr verbliebenen Kraft das Kind auf den Weg zu schicken.

      Mitternacht war längst vorüber.

      Der zwölfte Tag des Rin war angebrochen.

      Wandan ging auf dem Flur vor dem Schlafzimmer auf und ab. Er war der einzige, der dem Geschehen so nah kommen durfte und gleichzeitig wünschte er sich, weit davon entfernt zu sein. Er hörte Curedas Schreie, die sie nicht mehr länger unterdrücken konnte. Und er hörte Satons Gemurmel, das seine sonst beruhigende Wirkung längst verloren hatte und er hörte das Winseln des Heilers, der die Szenerie nicht mehr länger mit ansehen wollte.

      Und er dachte an die, die im weiter entfernten Kaminzimmer warteten. An die Diener, die unablässig für das Leben der Mutter und des Kindes beteten und nicht ahnten, dass zumindest ein Teil dieser Gebete nicht erhört werden würde. An Mondor, der längst erkannt hatte, dass etwas Finsteres über ihnen lag und der, obgleich Wandan ihm kein Wort von Satons Offenbarung verraten hatte, schon am Blick des Kriegers gesehen hatte, dass dieser eine entsetzliche Wahrheit kannte.

      Bald würde die Sonne aufgehen. Der zwölfte Tag des Rin. Manche vermeintlichen Seher hatten für heute den letzten Wintertag vorhergesagt. Der Tag an dem die Rosen des Nordens starben.

      Der oberste Cas horchte auf. Ihm war, als hätte Saton eine barsche Anweisung gerufen, vermutlich an den nutzlosen Heiler. Dann hastige Schritte. Eine schwache Stimme... Cureda?

      Plötzlich war alles still.

      Entsetzlich still.

      Unsicher legte Wandan die Hand auf die Türklinke.

      Und dann kam der Schrei.

      Aber es war nicht der Schmerzensschrei der Mutter und auch kein wütender oder entsetzter Ausruf des Shajs. Für Wandan war es vielleicht der schönste, den er je gehört hatte.

      Es war der Schrei eines Kindes.

      Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag und er zog seine Hand ruckartig zurück. Gleich darauf stürmte der Heiler aus dem Schlafzimmer.

      "Ein gesundes Mädchen!" rief er und schüttelte Wandan die Hand, so dass der Krieger ihn verwirrt ansah. Hatte dieser Mann denn immer noch nicht erkannt, was geschehen würde? Aber noch ehe er etwas erwidern konnte, hastete der Heiler schon die Treppen hinab zum Kaminzimmer und ließ die Zimmertür weit offen stehen.

      Wandan wusste, dass er diesen Anblick sein Leben nicht vergessen würde.

      Curedas Gesicht schien im Licht der Kerze zu glühen. Sie wurde halb von Saton verdeckt, der sich jetzt über sie beugte und sie küsste. Doch er war vorsichtig. Sehr vorsichtig. Da war noch etwas. Zwischen ihnen.

      Cureda hielt es im Arm.

      Es lag vollkommen still, schrie nicht, weinte nicht. Aber es lebte.

      Plötzlich sah Saton über die Schulter zur Tür.

      Wandan wünschte sich in diesem Moment an jeden anderen Ort der Welt. Wie tief musste die Trauer in einem Menschen toben, dass sogar ein Mann wie Saton, ein Mensch, der vom reinen Blut Zaharrs durchdrungen war... dass sogar dieser Mensch weinte?

      Es war Zeit zu gehen.

      Mit einer ergebenen Verbeugung, die viel tiefer war als sonst und die nicht nur dem Shaj sondern auch der Mutter und auch dem Kind galt, zog sich Wandan zurück. Gerade als er die Tür schloss, hörte er Satons erstickte Stimme:

      "Du musst ihr noch ... einen Namen geben."

      Der Krieger ließ niemanden mehr in den Gang. Nicht die Diener. Nicht den Heiler. Mondor... da wäre vielleicht etwas anderes gewesen. Doch Mondor kam nicht.

      Die ersten Sonnenstrahlen des letzten Wintertages fielen durch das kleine Fenster am Flurende.

      Er ging darauf zu und sah hinaus. Es war ein schönes Bild. Rauhreif lag über Yto Te Vel und ließ es funkeln wie ein Juwel und zwischen den dunklen Ästen der Nadelbäume hielten Silberraben Wache. Wer ihnen zusah, vergaß die Zeit. Warum nur die Zeit? Warum nicht auch alles andere?

      Hinter ihm öffnete sich eine Tür, doch er drehte sich nicht um. Schritte näherten sich. Jemand stand hinter ihm und die Kälte, die er mitbrachte, war ebenso endgültig wie seine Worte.

      "Sie


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