Das Blut des Sichellands. Christine Boy
habe niemanden überredet!"
Wandans Blick verdüsterte sich.
"Hat es ein anderer getan?"
"Nein."
"Auch Rahor Req-Nuur nicht?"
Lennys Mund klappte auf, doch die Antwort blieb ihr im Hals stecken. Wandan wusste also von Rahor. Oder hatte er nur geraten? Dann würde ihr Zögern seinen Verdacht sicher bestätigen.
"Hat Rahor Req-Nuur dich zu diesem Blödsinn überredet?" wiederholte Wandan und klang jetzt eine Spur schärfer.
"Nein."
"Hat er versucht, dich davon abzuhalten?"
Sie saß in der Falle. Wenn sie ehrlich antwortete, musste sie zugeben, dass Rahor bei ihr gewesen war. Sie konnte nur lügen, oder denjenigen verraten, der sie den ganzen Abend versucht hatte, zu bremsen.
"Was ist? Kannst du dich nicht entscheiden? Soll ich die Frage wiederholen? Hast du sie nicht verstanden?"
Doch sie antwortete nicht.
Wandan wartete. Er sagte nichts weiter, sondern sah Lennys nur sehr ernst und aufmerksam an. Nach einer Weile schüttelte er resigniert den Kopf.
"Ich werde es dir leicht machen. Du musst nicht antworten, wenn die Antwort eine Lüge wäre. Wir können diese ganze Sache abkürzen. Ich bin bereit, nicht weiter nachzuhaken, wer bei dir war und wessen Anteil dieser Dummheit am größten war. Niemand außer denen, die sich jetzt in diesem Raum befinden, wird jemals erfahren, wer beteiligt war und was ihr euch erlaubt habt. Wenn... du dich entschuldigst."
Lennys biss sich auf die Lippen. Sie hatte das ungute Gefühl, dass das merkwürdige Beispiel, das Wandan geschildert hatte, einen direkten Vergleich mit ihrer Situation darstellte. Allerdings war sie sich sicher, dass niemand wissen konnte, dass Rahor bei ihr gewesen war. Und noch weniger wahrscheinlich war, dass Rahor seine Beteiligung von selbst eingestanden hatte. Nein, das war undenkbar. Wandan wollte sie provozieren. Er wollte sie mit allen Mitten zu einer Entschuldigung bewegen. Sie sollte sich selbst erniedrigen, sich weichkochen lassen. Sie - eine echte Ac-Sarr.
"Darauf kannst du lange warten!" erwiderte sie stolz.
Wandan schwieg lange. Er sah sie nicht an, sondern spielte gedankenverloren mit einem Tintenfass, das auf dem Tisch stand. Als Lennys schon fast soweit war, das Zimmer einfach zu verlassen, ergriff er wieder das Wort.
"Ich hatte es befürchtet. Wirklich befürchtet. Vielleicht bist du doch nicht so klug, wie ich dachte. Vielleicht bist du auch einfach nur zu stolz und zu trotzig, um deinen Irrtum einzusehen. Es ist schwer, um Verzeihung zu bitten. Besonders für Menschen wie dich - Menschen, die in ein Schicksal geboren wurden, das sie nicht ändern können. Ich werde nicht länger versuchen, an deine Vernunft zu appellieren. Rahor Req-Nuur war heute bei mir. Er hat genau das getan, was ich dir vorhin erzählt habe. Er hat alles auf sich genommen. Er hat behauptet, selbst die Anordnung gegeben zu haben, den Sijak zu stehlen. Natürlich sagte er nicht, an wen. Er kenne den Diener nicht, sagte er. Rahor würde nie einen anderen beschuldigen. Er sagte mir auch, dass er dich dazu gedrängt habe und dass er die Situation einfach falsch eingeschätzt habe. Eigentlich hat er eine ganze Menge zugegeben - allesamt Verhaltensweisen, die ihm seinen Platz in der Kaserne kosten würden. Wenn seine Worte der Wahrheit entsprächen, hätte ich keine andere Wahl, als seinen Vater zu informieren und ihm die Laufbahn der Krieger zu verwehren. Immerhin bist du die Tochter des Shaj. Ja... wenn. Und wenn nicht - dann hat er gelogen. Das ist nicht schön. Aber dann hätte er gelogen, nur damit du keinen Ärger bekommst. Er hätte für dich gelogen und dabei seine gesamte Zukunft aufs Spiel gesetzt. Ist dir eigentlich klar, wie groß dieses Opfer ist? Ich bin mir selbst noch nicht im Klaren darüber, was ich davon halten soll. Vielleicht war es wirklich dumm von ihm. Vielleicht auch nicht. Vielleicht beweist es nur, dass er auf dem richtigen Weg ist. Du hättest dieses Opfer würdigen können. Wenn du dich entschuldigt hättest. Aber du behandelst es wie ein wertloses Wortgeplänkel. Ich glaube nicht, dass Rahor, so wie er es sagt, die Schuld am gestrigen Abend trägt. Du hast ihn nicht beschuldigt und auch nicht verraten, genauso wie du die anderen nicht verraten hast. Den Diener und diejenigen, die ebenfalls bei dir waren. Wir müssen ihre Namen nicht nennen. Vergessen wir sie. Sie hatten vermutlich keine großartige Wahl, hätten sich dir kaum widersetzen können. Vielleicht weißt du das und hast sie deshalb verschwiegen. Dass du sie alle - auch Rahor - nicht verraten hast und ihnen keine Schuld zugeschoben hast, um dich selbst besser dastehen zu lassen, ist das einzig Gute, was ich im Moment über dich sagen kann."
Erst jetzt sah er sie wieder an und Lennys war überrascht, wie traurig er aussah. Der Schreck, von Rahors Geständnis zu erfahren, saß ihr noch in den Gliedern, aber Wandans ruhige, enttäuschte Rede, traf sie weit mehr. Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte sie angeschrien.
"Alles weitere liegt nicht mehr bei mir, Lennys. Und ob du es glaubst oder nicht, es tut mir leid, dass es so kommen musste." Er stand auf, nickte ihr zu und blieb neben dem Schreibtisch stehen.
Hinter ihm trat Saton aus der dunklen Ecke des Bücherregals hervor.
Der Shaj schrie selten. Nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Seine Zurechtweisungen, sein Tadel und auch seine Urteile ergingen stets ruhig, ernst und ohne das geringste Anzeichen von Zorn.
Auch diesmal.
Lennys wünschte sich an jeden erdenklichen Ort Sacuas. Überall wäre sie lieber gewesen als hier, in Wandans Arbeitszimmer, in Gegenwart der einzigen beiden Menschen, für die sie so etwas ähnliches wie Respekt empfand. Derselben beiden Menschen, die sie gerade so enttäuscht hatte und deren Ansehen sie vielleicht endgültig verspielt hatte.
Saton sagte nicht viel. Er hatte die Gabe, besonders wichtige Dinge in wenigen Worten auszudrücken, die jedoch unmissverständlich waren. Lennys hätte gern weggehört, aber sie konnte nicht. Die wütenden, frechen oder einfach nur gleichgültigen Antworten, die sie sich zurechtgelegt hatte, wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Sie spürte, wie sie rot wurde, als Saton ihr noch einmal ihre Verfehlung vorhielt und beschrieb, welches Bild sie für jeden abgegeben haben musste, der sie vielleicht am vergangenen Abend, ganz sicher jedoch an diesem Morgen zu Gesicht bekommen hatte. Und als er ihr erklärte, dass sie in mancher Hinsicht immer noch dasselbe unbelehrbare, ungezogene kleine Mädchen war, das einst seine Kinderfrauen zur Verzweiflung gebracht hatte, wäre sie am liebsten einfach nach draußen gerannt.
Gerade als sie dachte, es könne nicht noch schlimmer kommen, hob Saton seine Stimme ein wenig. Sie wusste, was nun folgte. Das Urteil.
"Es hat keinen Sinn, dich einzusperren oder dir deine Habseligkeiten wegzunehmen. Du würdest durchs Fenster klettern oder dir das, was du zurückhaben möchtest, irgendwie anders beschaffen. Wandan hat mich gebeten, nicht allzu hart mit dir ins Gericht zu gehen, er denkt, wenn du nur ein schlechtes Gewissen hättest, sei dies Strafe genug. Ich weiß nicht, ob du das hast. Aber selbst wenn, so halte ich das nicht für ausreichend. Deshalb wirst du dieses Mal eine Strafe erhalten, die dich wirklich trifft."
Er streckte die Hand aus.
"Gib mir deinen Säbel."
Wie von selbst umklammerte ihre rechte Hand den Griff der Waffe, die sie immer bei sich trug, jedoch nicht, um sie herauszuziehen und ihrem Vater zu überreichen, sondern um sie festzuhalten.
"Ich sage es nicht noch einmal."
Mit einem Gefühl, als müsse sie ein Teil ihrer selbst fortgeben, ließ sie die Klinge aus der Scheide gleiten. Als sie den Shajkan an Saton übergab, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Hand leicht zitterte.
"Kein Säbeltraining mehr. Für einen ganzen Monat."
Sie zuckte zusammen.
"Keine Übungskämpfe mit den Kriegern der Burg oder anderen Gebietern der Nacht, außer Wandan oder mir. Für drei Monate."
Zum ersten Mal seit Saton sprach, öffnete sie den Mund um zu protestieren, doch ihr Vater war noch nicht fertig.
"Kein Recht, den Shajkan zu anderen Gelegenheiten als zu den Kampfstunden zu tragen. Für den Rest dieses Jahres."
"Nicht