Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


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hast du dir selbst zuzuschreiben, Lenyca. Jeder kann einen Fehler machen. Deine Ungezogenheit von gestern war schwerwiegend, aber ich hätte vielleicht wie so oft darüber hinweggesehen. Dein Verhalten heute aber hat mir gezeigt, dass meine Nachsicht bei dir nicht mehr angebracht ist. Du erhältst die Strafe nicht, weil du heimlich zu viel Sijak getrunken hast. Die Strafe ist dafür, dass du nicht die geringste Einsicht gezeigt hast und nicht bereit warst, Vernunft walten zu lassen. Und eines sei dir noch gesagt: Dass dir nicht auch die Säbelstunden und Übungskämpfe bis zum Jahresende verwehrt bleiben, hast du Rahor Req-Nuur zu verdanken. Er hat gelogen, aber er war mutig. Und dieser Mut soll nicht umsonst gewesen sein. Du schuldest ihm etwas, Lenyca. Vergiss das nicht."

      Den Rest des Tages verbrachte Lennys allein in ihrem Zimmer. Da sie kein Säbeltraining mehr hatte, konnte sie am Nachmittag und Abend tun, was sie wollte. Aber sie wollte nichts. Und vor allen Dingen wollte sie niemanden sehen, hören oder sprechen. Noch auf dem Weg zurück in ihren Wohnflügel hatte sie all ihre Beherrschung aufbringen müssen, um nicht laut herumzufluchen, gegen eine Bank zu treten und die Türen knallen zu lassen. Ihre eigenen Möbel warteten geradezu darauf, aus Wut zertrümmert zu werden.

      Doch kaum war sie in ihrem Schlafraum angekommen, war die blinde Zerstörungslust verflogen. Sie war unsagbar müde, jedoch nicht nur wegen des Schlafmangels und der körperlichen Auswirkungen des vergangenen Abends, sondern vor allem, weil ihr das Gespräch mit Saton und Wandan weit mehr zugesetzt hatte, als sie es sich selbst - und erst recht nicht jemand anders - jemals eingestanden hätte.

      Ohne auch nur die Stiefel auszuziehen oder den Gürtel mit der leeren Shajkanscheide abzulegen, schleppte sie sich zum Bett und ließ sich darauf fallen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Das schlechte Gewissen, von dem Saton gesprochen hatte, hatte sich nicht eingestellt, sie fühlte sich weder schuldig noch bereute sie irgendetwas. Außer der Tatsache, dass sie mehr oder weniger auf die Verschwiegenheit anderer angewiesen war. Soweit würde es nicht mehr kommen.

      'Ich brauche niemanden, der mich in Schutz nimmt.' dachte sie grimmig. Und das würde sie auch Rahor sagen. Irgendwann. Im Augenblick hatte sie nicht die geringste Lust, ihn zu treffen. Aber Wandans und Satons Worte hatten sie getroffen. Ein verzogenes Kind hatten sie sie genannt. Unvernünftig. Dumm. Das hatte sie nicht verdient. Es war falsch von den beiden gewesen und wenn sich überhaupt irgendjemand entschuldigen musste, dann die anderen. Keinesfalls sie.

      Die Augen fielen ihr allmählich zu. Schlafen. Einfach nur schlafen.

      Etwas ließ sie frösteln.

      Ein eisiger Windhauch. Viel zu kalt, als dass er von draußen hätte kommen können, wo die Nachmittagssonne herunterbrannte.

      "Hat er dich gedemütigt?"

      Warum? Warum jetzt? Sie kannte die Kälte. Sie kannte den schwarzen Nebel, der sie verströmte und auch wenn sie sich weigerte, die Augen zu öffnen, um ihn zu sehen, so wusste sie doch, dass er da war. Und sie kannte die Stimme. Eine Stimme, die kein anderer hören konnte, denn sie war in ihrem Kopf und nirgends sonst.

      "Verschwinde!" knurrte sie gepresst ins Kissen, das sie umklammert hielt. Sie wollte nicht. Sie wollte den Herrn des schwarzen Nebels nicht um sich haben, sie wollte nicht hören, was er sagte.

      Als sie noch klein gewesen war, war er in der rauchigen Gestalt der Schlange erschienen. Er hatte ihr Angst eingejagt. Ihr, die sie noch nie zuvor das Gefühl von Angst kennengelernt hatte. Sie erinnerte sich, wie entsetzt Wandan und Saton gewesen waren, dass die Schlange sich ihr in so jungen Jahren gezeigt hatte. Doch das Entsetzen war gewichen, sie hatten nichts anderes tun können als es zu akzeptieren.

      Und auch Lennys hatte es akzeptiert.

      Er war wiedergekommen. Nicht oft. Manchmal blieb er über viele Monate fort. Und dann wieder nicht. Sie hatte niemandem mehr davon erzählt. Einmal hatte ihr Vater sie gefragt, ob sie Ihm noch einmal begegnet war. Und sie hatte genickt. Und gesagt, dass es ihre Sache sei.

      Und das war es. Der Shaj hatte es eingesehen. Weil es ihm selbst einst nicht anders gegangen war. Er hatte ihr erklärt, was es mit diesem Nebel auf sich hatte. Hatte ihr gesagt, dass sie anders war als alle anderen Menschen. Hatte ihr von ihrem Blut erzählt, vom Blut der Nacht, das er an sie vererbt hatte. Und dass sie es niemals jemandem sagen durfte. Niemand anderem als den Dreien, die das Geheimnis hüteten. Wandan, Mondor und Beleb. Niemandem sonst.

      "Hat er dich gedemütigt?" Die Stimme hallte nach.

      "Ich will das nicht!"

      "Ich komme, wann immer ich will. Ich zeige dir, dass ich in dir bin, du Verfluchteste von allen! Dein Leben wird allein meinem Willen unterliegen."

      "Weg! Weg mit dir!"

      "Du wirst lernen, Ehrfurcht vor deinem Gott zu haben. Ehrfurcht... Ich werde dich demütigen, wie es deinem fleischlichen Vater nicht gelungen ist..."

      Eine unsichtbare Kraft riss sie mit unwiderstehlicher Wucht aus dem Bett und sie knallte hart mit den Knien und Ellbogen auf den Boden. Jetzt kam die Angst wieder. Wie bei dem kleinen Mädchen. Er hatte ihr damals wehgetan. Und dann nie wieder. Bis jetzt.

      Um sie herum war alles dunkel, obwohl helllichter Tag sein musste. Vielleicht war es das auch. Irgendwo. Draußen. Aber nicht hier.

      "Knie vor mir!"

      Die Dunkelheit drückte sie zu Boden. Sie vermochte nicht aufzustehen, sondern kauerte auf allen Vieren auf dem harten Stein.

      "Verschwinde!" schrie sie noch einmal.

      "Ehrfurcht, Tochter des Verrats! Habe Ehrfurcht! Verneige dich vor mir!"

      Ein heftiger Schlag traf sie und ihre Ellbogen knickten ein.

      "Bitte um Gnade!"

      "Niemals!"

      Erneut traf sie die übermenschliche Kraft und diesmal hinterließ sie glühende Spuren.

      "Flehe um Gnade!"

      "Nein!"

      "Ich bin dein Gott! Niemand steht über mir! Du verhöhnst mich! Bitte mich um Verzeihung für dein Verbrechen!"

      "Das werde ich nicht!"

      "Du wirst ."

      "Vielleicht warst du zu hart zu ihr."

      Saton schüttelte den Kopf.

      "Nein, Wandan. Ich war eher jahrelang zu weich. Wie kommt es, dass du mir nun abrätst? Sagtest du nicht selbst, dass sie zu weit gegangen ist?"

      "Das ist sie. Aber wie sehr? Wie alt waren wir als wir das erste Mal..."

      "Es geht nicht um das Trinken, Wandan! Es geht um ihren Starrsinn! Und darum, dass sie nach wie vor viel zu eingebildet ist. Glaub mir, es schmerzt mich, so von meiner eigenen Tochter zu reden. Und niemand weiß besser als ich, dass ich einen großen Teil der Verantwortung für ihr Verhalten trage. Aber ich kann es nicht mehr länger zulassen! Ich kann sie nicht länger gewähren lassen! Eines Tages wird sie vermutlich meinen Platz einnehmen! Sie soll ein Volk führen, sie soll eine Herrscherin werden! Niemand kann das verhindern, das wissen wir beide."

      "Bis dahin kann noch sehr viel Zeit vergehen."

      "Und wenn nicht?"

      Der Shaj wirkte verbittert.

      Er hatte sich mit Wandan in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Nach einem anstrengenden Nachmittag, bei dem er sich wieder mit der Silbereinlagerung hatte befassen müssen, wollte er eigentlich nicht erneut über seine Tochter sprechen. Er fühlte sich zu müde, sich heute noch einmal schier unlösbaren Problemen zu stellen. Aber als Wandan zu ihm gekommen war, um mit ihm einen abschließenden Kelch Sijak zu trinken, hatte sich das Gespräch recht schnell wieder Lenyca zugewandt. Und er hatte eingesehen, dass er das Thema nicht ignorieren konnte. Nicht einen Tag lang.

      "Weißt du, ich habe sicher nicht alles richtig gemacht. Aber ich frage mich immer häufiger, ob ich all das hätte verhindern können. Wie viel Anteil hatte meine Erziehung und wie viel steckte bereits in ihr selbst? Oder mache ich mich dem Großen gegenüber schuldig, wenn ich ihn verantwortlich mache?"


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