Das Blut des Sichellands. Christine Boy

Das Blut des Sichellands - Christine Boy


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sah ihn nachdenklich an.

      "Ja und nein. Alles, was du sagst ist richtig. Du bist nicht dumm, Rahor. Es ist nicht nötig, dir zu sagen, dass du ebenso vielversprechend bist, wie Wandan es seinerzeit war. Aber... du hast etwas sehr Entscheidendes gesagt. 'Ich möchte euch dienen.' Das waren deine Worte. Nicht wahr?"

      "Ja Herr. Und sie sind wahr."

      "Und deshalb bist du hier. Darüber muss ich mit dir reden. Denn du bist jung. Sehr jung. Sogar noch jünger als Wandan, als er geweiht wurde. Jünger als die meisten. Auch jünger als Akosh und Iandal."

      Das war es also. Es war keine Überraschung, doch Rahor wunderte sich, dass Saton dieses Thema so ernst nahm.

      "Herr..." begann er eine Spur erleichterter, "...ich weiß, dass ich noch warten muss. Vielleicht viele Jahre. Und ich wünsche mir, dass es noch lange dauert, denn das würde bedeuten, dass alle Cas noch lange Zeit gesund sind und euch dienen können. Dafür warte ich sehr gern. Mein ganzes Leben, wenn es sein muss."

      Aber Saton schien nicht beruhigt. Er sah noch ernster aus als zuvor.

      "Das ist nicht der Grund, warum ich dich sprechen wollte. Du bist vernünftig, Rahor, du weißt, dass deine Zeit noch nicht gekommen ist. Wir sind der Wahrheit nahe, aber du hast sie noch nicht erreicht. Also denke nach. Du bist jung, wie ich bereits sagte. Du musst warten, bis die Cas zu alt sind, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Zu geschwächt. Oder tot. Wir scheuen diese Gedanken nicht, sie gehören zu unserem Leben als Krieger. Wenn du an deine Zukunft denkst, dann denkst du unweigerlich an die, die bereits jetzt an der Stelle stehen, die du eines Tages erreichen möchtest. Findest du nicht, dass es noch jemanden gibt, den du in deine Träume miteinbeziehen solltest? Sage mir noch einmal, was du tun willst. Was dein Wunsch ist. Und dann sage mir, ob es nur die Cas sind, die in deinem Leben eine Rolle spielen."

      Rahor zögerte.

      "Hoher Shaj... ihr... ihr seid nicht... alt... Also, falls ihr meint, dass..."

      "Hast du jemals einen Gedanken daran verschwendet, dass nicht ich der Herr bin, dem du eines Tages dienen wirst?" fragte Saton jetzt unverblümt.

      "Nun,... ich..."

      "Weißt du, wie ein Shaj gewählt wird?"

      Die Frage überraschte Rahor aufs Neue.

      "Ja,... natürlich. Er wird gewählt. Von den Cas. Aus ihren Reihen. Ash-Zaharr wiegt ihre Stimmen und letztendlich entscheidet er. Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären kann, aber..."

      "Aber du hast es verstanden. Das ist gut. Und du weißt, dass einer der Cas eines Tages mein Nachfolger sein wird."

      "So will es das Gesetz. Aber, Herr, daran jetzt schon zu denken..."

      "Ich muss daran denken. Die Zukunft unseres Reichs hängt davon ab. Ich nehme an, dass du bereits im Unterricht gelernt hast, dass der Shaj der Nacht auch auf andere Art ernannt werden kann?"

      "Ja. Ich gebe aber zu, dass ich es nicht so ganz begriffen habe. Es hat etwas mit den Kämpfen zu tun."

      "So ist es. Ein Shaj der Nacht kann in Schlachten fallen. Eigentlich ist genau das auch sein Schicksal. Wir sind ein Land der Krieger und wenn unser oberster Krieger stirbt, dann... dann folgt ihm jemand auf den Thron. Findet er im Sichelland sein Ende, so wird der Nachfolger gewählt, ganz wie du es gelernt und beschrieben hast. Fällt er jedoch in der Fremde, fern der Heimat, ...dann sind nur die Cas bei ihm. Und sie beschließen sozusagen sofort, wer an sie Stelle des Toten tritt. Jeder für sich. Und Ash-Zaharr fällt sein Urteil. Ohne Zeremonie. Es ist einfach so. Mit dem Tod des alten Shaj steht auch der neue fest. Nur bei den Gebietern der Nacht wird so gehandelt."

      "Ich habe davon gehört. Es klingt sehr einfach, aber ich glaube, das ist es nicht."

      "Möglicherweise einfacher als du denkst."

      "Herr,... warum ...?"

      "Warum ich dich solche Dinge frage? Weil du verstehen musst. Eines Tages sterbe ich. Vielleicht schon morgen. Vielleicht erst in zwanzig oder dreißig Jahren. Wer weiß das schon. Vielleicht bist du dann ein Cas, vielleicht noch nicht. Aber - da stimme ich dir zu - du wirst einer werden, wenn das Schicksal sich nicht als besonders grausam erweist. Du bist einer von denen, die auch den nächsten Shaj beschützen müssen. Und deshalb bist du jetzt hier."

      Rahor öffnete den Mund. Erst jetzt ahnte er, worauf Saton wirklich hinauswollte. Doch der Herrscher kam ihm zuvor.

      "Wir wissen, wer das sein wird. Du weißt es. Ich weiß es. Die Cas wissen es. Zweifelst du?"

      Die Frage kam zu schnell. Bis zum heutigen Tag hatte Rahor zwar das eine oder andere Mal einen vagen Gedanken in die Zukunft geschickt, aber so ernsthaft hatte er sich nie vorzustellen gewagt, was nach Saton kommen konnte. Und ja, es war offensichtlich. Aber ob er zweifelte, das konnte er doch nicht so einfach sagen. Er brauchte Zeit, viel Zeit, um sich darüber im Klaren zu werden.

      "Herr,... ich glaube es. Ich glaube, eines Tages wird die Nacht des Sichellandes von eurer Tochter beherrscht. Aber ob ich zweifle, kann ich nicht sagen. Es ist, wie ihr sagtet. Manchmal tut es weh, die Wahrheit zu sehen und euer Tod ist eine Wahrheit, die ich nie sehen wollte. Deshalb habe ich es mir nie vorgestellt."

      "Das ist sehr ehrlich. Ich bin nicht nur ein Herrscher, Rahor. Ich bin auch ein Vater. Ein Vater, der sich sehr wohl Sorgen macht. Nicht nur um sein Land, sondern auch um sein Kind."

      Er sprach nicht weiter, sondern sah Rahor einfach nur an. Durchdringend, aber nicht unfreundlich. Ernst, aber nicht niedergeschlagen. Dies war der entscheidende Moment. Keine Fragen mehr. Keine Hilfen. Es war der Moment, in dem Rahor aus eigenem Antrieb erkennen und verstehen musste. Der Augenblick, in dem er beweisen musste, dass er zu Recht hier saß. Er würde ihn nicht drängen und ihn nicht durch Ungeduld unter Druck setzen. Selbst wenn es die ganze Nacht dauern würde.

      Es war schwer, zu sagen, wie viel Zeit wirklich vergangen war. Zeit, in der sie sich vollkommen schweigend angesehen hatte, beide jeweils in die schwarzen Batí-Augen des Gegenübers starrend.

      Irgendwann hob Rahor den Kopf, ohne den Blick abzuwenden.

      "Was auch immer geschieht - was auch immer ich bin oder sein werde. Ich bin bereit, mein Leben für sie zu geben. So wie ich es für euch geben würde. Ob sie heute oder morgen über das Land gebietet, ob ich ein Knecht bin oder ein Cas. Ich bin bereit, jedes Gesetz zu akzeptieren, das mein Handeln erschwert oder mich innerlich zerreißt. Ich bin bereit, für sie zu sterben und alles in meinem Leben aufzugeben, um diese Pflicht zu erfüllen. Ohne Ausnahme."

      Saton zeigte keinerlei Regung.

      "Du kannst gehen." sagte er schlicht.

      Erst viel später, als er schon lange allein war, stand der Shaj auf, sah hinauf zur Decke des Kaminzimmers als würde sich der Himmel über ihn öffnen und flüsterte:

      "Es sind Menschen wie er, die du Verfluchte nennst. Du bist nicht gnädig, Ash-Zaharr. Aber als dein ergebenster Diener bitte ich dich, gerecht zu sein."

      Lennys mochte keine Sonne. Sie verabscheute sie, und mit ihr alles, was hell oder wärmend war. Ganz gleich ob Feuer oder den Sommer oder ein strahlend erleuchtetes Dampfbad.

      Jetzt musste sie zugeben, dass ein einzelner Sonnenstrahl in der Kühle des Morgens durchaus seine Reize hatte. Er fiel direkt durch eine Spalte des Vorhangs hindurch auf hellblondes, seidiges Haar und er ließ es leuchten wie die Sonne selbst. Heller als Bernstein, heller als Honig, heller als Gold. Ihr fiel nichts ein, was sich mit dieser Farbe vergleichen ließ.

      Racyl schlief noch. Sie atmete ganz ruhig, aber manchmal bewegte sie sich fast unmerklich und der Sonnenstrahl auf ihren Strähnen glitzerte, als wäre das Haar von feinstem Edelsteinstaub bedeckt. Diamantstaub.

      Sie konnte sich nicht von dem Anblick losreißen. Nach einer Weile beugte sie sich dichter über die Schlafende und sog ihren Duft ein. Er erinnerte an Blumen, vielleicht an Rosen. Nein, viel sanfter. Veilchen. Sie hatte keine Ahnung. Selbst in Vas-Zarac, der düsteren Festung der Krieger, gab es Blumen, aber sie hatte sich nie eingehend damit beschäftigt. 'Vielleicht', so dachte sie;


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