Liebe, rette mich!. Kilda Cirus

Liebe, rette mich! - Kilda Cirus


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auf meinen Unterarmen bekomme. Er lehnt sich zurück und sieht mich prüfend an. Ich nicke. Ich habe den Eindruck, er hat ein Zeichen der Zustimmung erwartet. Sein Gesichtsausdruck wird weich und er küsst mich unvermittelt auf den Mund. Nicht begierig, nicht leidenschaftlich, nur als wäre es das Normalste der Welt.

      Grischa kramt in einer Tasche, die zwischen den Sitzen steht. Triumphierend holt er ein großes Stück Käse hervor, öffnet die Plastikverpackung und schneidet ein Stück davon ab. Er hält es mir mit der linken Hand hin und sieht mich spitzbübisch an. Sofort schießt Speichel aus allen Ecken meines Mundes. Erst jetzt merke ich, dass ich Hunger habe, so sehr, dass mir übel ist. Ich greife nach dem Stück, aber er zieht seine Hand weg. Er lacht leise in sich hinein. Wieder hält er mir den Käse hin, diesmal genau vor den Mund. Ich sehe ihn zweifelnd an und will hineinbeißen. Er zieht es wieder weg. Dieser Spieler, er weiß wohl nicht, dass ich zuletzt vor vierundzwanzig Stunden etwas gegessen habe.

      „Das ist nicht witzig“, sage ich beleidigt. „Ich falle gleich in Ohnmacht und du treibst Spielchen mit mir!“

      Da sieht er mich fast reumütig an und hält mir das Stück Käse abermals vor den Mund, er nickt aufmunternd. Ich beiße hinein und mein Mund füllt sich mit einem cremigen, sanften Geschmack. Das Stück ist so klein, dass es der im Überfluss quellende Speichel sofort auflöst. Der Käse zerfließt in meinem Mund. Ich beiße erneut ab und schließe die Augen dabei. Ich habe die Befürchtung, dass mich dieses Stück Käse eher hungriger macht, als dass es mich sättigt. Aber besser als nichts ist es allemal. Grischa gibt mir das letzte Stück des Käses in die Hand und kramt wieder in der Tasche, er holt ein großes, dunkles Brot hervor und schneidet den Kanten vielleicht vier Zentimeter dick ab.

      „Iss langsam!“, murmelt er und reicht mir das Brot. Ich beiße hinein, es ist viel besser als der Käse, es bleibt in meinem Mund und ich kann darauf kauen. Es quillt zu einer einheitlichen Masse, die den übermäßigen Speichel bindet und mich wieder Mensch werden lässt.

      „Hure!“

      Böse und deutlich spricht eine Frau in meinem Rücken das Wort. Ich drehe mich, in der rechten Hand noch immer den Kanten, nach hinten um und mustere die Frauen. Sie sehen mich mit gierigen Augen an. Ich habe zu essen, sie nicht. Das wird mir mit einem Mal klar.

      „Hure!“, tönt es wieder.

      Ich habe die Frau nicht entdeckt, die es ruft, aber es greift mich an, es verletzt mich. Ich bin keine Hure. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Grischa an mir vorbei mit zwei Schritten zu einer Frau stürmt, sie bei den Schultern packt, hochzieht und auf Russisch anschreit. Er ist dabei so laut, dass alle erschrecken. Bisher hat er nie auch nur lauter gesprochen, immer mit einer sanften, zurückhaltenden Stimme. Jetzt steht er da, schreit aus allen Poren seines Körpers eine Frau an, die kreidebleich geworden ist und ihre Augen weit aufgerissen nicht von dem Mann nimmt, der wie von Teufeln besessen ist. Sie zittert am ganzen Körper als Grischa seine Tirade beendet, sie wieder auf den Sitz drückt und mir gegenüber Platz nimmt. Er sieht mich nicht an. Er schaut aus dem Fenster des fahrenden Busses. Ich blicke zu der Frau zurück, die verängstigt mit ihrer Nachbarin tuschelt.

      Als sie meinen Blick spürt, unterbricht sie das Gespräch, gnadenlos sieht sie mir in die Augen. Kurz sticht mein Herz. Ich wende den Blick ab, nur um an den Augen ihrer Nachbarin hängen zu bleiben. Sie sieht mich ebenfalls voller Hass an. Meine Augen wandern zur Nächsten und finden dasselbe. Der ganze Bus hasst mich! Sogar ein Entführer sieht mich verächtlich an. Seine kleinen schwarzen Augen spucken mir entgegen. Sie sind so voller Hass, dass ich glaube, er bringt mich bei nächster Gelegenheit um. Kälte kriecht in meinen Körper. Versteinert wende ich den Blick ab. Was hat Grischa zu der Frau gesagt? Ich habe kein Wort verstanden. Fragend schaue ich wieder zu ihm, aber er sieht noch immer aus dem Fenster. Er wirkt abweisend, seine Augen konzentriert er auf etwas, dass ich nicht sehe. Die Landschaft rauscht an uns vorbei und ist dabei belanglos: Baum an Baum an Baum. Der gleiche Boden, der gleiche Wald, Monotonie, es gibt nichts, worauf zu starren sich lohnen würde. Ich fixiere Grischa, aber er rührt sich nicht aus seiner Position. Abwesend, gedankenverloren sitzt er da und nimmt mich nicht wahr. Will mich nicht sehen und will nicht wissen, dass er sich dazu herabgelassen hat, seine Gefühle zu zeigen, dass er sich hat hinreißen lassen, seine Unantastbarkeit zu verlieren. Es ärgert ihn. Ich ärgere ihn. Schon bereut er, dass er mich zu sich geholt hat. Was bleibt mir? Zurück auf meinen alten Platz kann ich nicht. Alle Frauen hassen mich, wenn sie mich angreifen, verteidigt mich niemand. Nicht einmal die anderen Männer werden mir helfen, wenn mich die Frauen schikanieren. Ich habe keine Wahl, außer hier vorn zu bleiben. Deshalb brauche ich Grischa, ich brauche ihn, um zu überleben.

      „Sie haben doch Recht!“, werfe ich Grischa bewusst an den Kopf. Er reagiert nicht. Ich rede weiter:

      „Wie wirkt das denn auf alle, so wie ich mich verhalte? Ich werde genau wie sie entführt und dann flirte ich mit dem Anführer. Der gibt mir Käse und Brot. Und sie alle, sie hungern. Sie sitzen da und sehen mich essen. Wir haben uns erst vor fünf Minuten geküsst. Ist da der Zusammenhang für die Frauen nicht eindeutig?“

      Er reagiert noch immer nicht. Ich versuche, empört zu klingen:

      „Was denkst du denn? Denkst du vielleicht, ich mache das, weil ich in dich verliebt bin?“

      Welch schlechte Lügnerin ich bin. Und wie verwundbar ich mich fühle, nun, da es ausgesprochen ist. Sein Gesicht bleibt dem Fenster zu gewandt, doch seine Augen treffen auf meine. Sie sind so dunkel und durchdringend, dass ich zurückschrecke. Mit einem Mal schießt die Kälte in mein Herz, die ich in seinem Blick lese. Er braucht kein Messer, um mich zu verletzen, ebenso wenig wie ich selbst eines benötige, um ihm dasselbe anzutun. Plötzlich packt mich Grischa im Nacken und zieht mich zu sich heran. Er küsst mich wild und ich weiß es nicht, gefühllos, brutal, heißblütig, verletzend, verletzt? Es verwirrt mich und überrascht mich und rührt gleichzeitig mein unsicheres Herz zu neuer Wärme. Was immer er mir zeigen wollte, eines verstehe ich: Ich lasse ihn nicht kalt. Erleichtert vergesse ich alles Vorherige. Glücklich über diese Erkenntnis küsse ich ihn inniger, doch er lässt von mir ab. Sofort schnürt sich mein Herz zusammen. Ich blicke ihn an. Wird er mich wieder zurückstoßen? Seine Augen sind unergründlich, wenn auch nicht mehr so dunkel.

      „Das dachte ich“, flüstert Grischa gerade laut genug, dass ich die Worte mit einer Bedeutung füllen kann. Was dachte er? Meine Gefühle sind so durcheinander, ich weiß nicht, was er meint. Ich sehe in sein Gesicht. Es ist emotionslos. Was erwartet er? Was denkt er? Ich starre in eine Maske, die all seine Gefühle verbirgt. Kann er nicht offener sein? Hilflos wende ich meine Augen ab, rutsche auf dem Sitz umher. Grischa wartet. Unsicher drehe ich den Kopf nach hinten und erschrecke über den Blick der Frau. Schlagartig kommt die Erinnerung zurück. Hure! Der Hass in den Augen meiner Nachbarin lässt mich frösteln. Das dachte ich. Ich lache ihn an. Dann sind wir uns einig. Ich bin keine Hure. Wir sind verliebt. Wenigstens bin ich es. Aber ich glaube, er ist das auch. Warum riskiert er so viel für mich, wenn ich ihm nichts bedeute? Wieso gibt er seine überlegene Position als Anführer auf, schreit eine Frau an und büßt Ansehen bei den anderen Männern ein, um eine fremde Frau zu verteidigen? Eine Entführte, eine Gefangene. Nein, ich bin sicher, Grischa ist in mich verliebt. Er hat mich verteidigt und das nur aus einem Grund. Von Neuem schlägt mein Herz mit freudiger Erwartung und Hoffnung gegen meinen Brustkorb. Ich bin verliebt. Ich bin verliebt. Immer wieder höre ich die Worte in meinem Inneren, mit jedem Schlag meines Herzens. Der Gedanke, dass ich eigentlich Grischas Gefangene bin, löst sich aus meinem Bewusstsein. Ich lebe in dieser Minute. Ich lebe in jedem Herzschlag, der mich glücklich sein lässt. Ich beuge mich zu ihm und küsse ihn ganz sanft und kurz auf den Mund.

      Gewalt

      „Wo bringt ihr uns hin?“, frage ich Grischa leise. Er ignoriert mich komplett. Eine gefühlte Stunde nach der Auseinandersetzung mit ihm sitzt er mir wieder verschlossen gegenüber und beobachtet die Umgebung aus den Fenstern des Busses. An der Landschaft hat sich nichts verändert. Bäume säumen den Blick bis zum Horizont. Kein Berg, kein Tier, kein Mensch. Der Bus fährt langsamer, die Straßen sind schlechter geworden. Grischa gibt ein Zeichen, der Fahrer verringert das Tempo.

      „Was


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