Liebe, rette mich!. Kilda Cirus

Liebe, rette mich! - Kilda Cirus


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rieche den salzigen Geruch. Ich bleibe auf ihm liegen, leer, pulsierend wie das sterbende Licht am Abend, das unweigerlich versiegt.

      Keiner von uns sagt ein Wort. Wir fahren stundenlang so umschlungen, ohne dass sich etwas ändert, nur manchmal lege ich den Kopf auf die andere Seite seiner Schulter, solange bis mein Rücken vor Schmerzen sticht. Da erst richte ich mich auf, widerstandslos öffnet Grischa seine Arme, ich setze mich neben ihn. Automatisch sehe ich aus dem Fenster, das auch eine Öffnung zu einer anderen Welt ist. Am Ende des Horizonts meine ich einen leicht violetten Schimmer zu erkennen. Vielleicht geht die Sonne schon wieder auf. Es interessiert mich nicht. Stumpfsinnig starre ich weiter darauf und bemerke, dass der Schein heller wird. Es erinnert mich an eine Stadt, die man schon aus der Ferne an ihren hellen Lichtern, die am bewölkten Himmel reflektieren, erkennt. Tatsächlich wird immer deutlicher, dass wir uns einer Stadt nähern. Ich wende mich Grischa mit fragendem Blick zu, doch er hat die Augen geschlossen und atmet regelmäßig. Ich zweifle, dass er wirklich schläft, aber ich störe ihn nicht. Bisher hat er nie auf meine Fragen geantwortet, es würde sich nicht lohnen, ihn zu wecken. Bald kommen die ersten Häuser in Sichtweite. Ich schaue im Bus zurück. Das von außen herein dringende Licht reicht nicht aus, als dass ich die Menschen darin erkennen könnte. Ich höre niemanden sprechen und sehe auch nicht, dass sich jemand bewegt. Vielleicht schlafen sie alle vor Erschöpfung, es rührt sich niemand. Der Bus fährt nicht in das Zentrum der Stadt, wir durchqueren sie nur am Rand. Denn ich sehe keine Wohnhäuser, nur vollständig betonierte Industriegebiete, grau in grau. Die Straßen sind dunkelgrau, die Fußwege hellgrau, alle Gebäude scheinen aus gegossenem Beton zu bestehen. Ich sehe keinen Menschen, nicht mal ein anderes Auto auf der Straße.

      Schnell lassen wir die Stadt hinter uns. Das war die erste Zivilisation seit Jekaterinburg. Es bleibt ein bizarrer Eindruck in mir. Eine graue Betonwüste, durch helles Neonlicht beleuchtet. Es war kein wirkliches Leben, diese Stadt, eher ein steinerner Tod.

      Ich drehe den Kopf in Grischas Richtung, doch er gibt weiter vor zu schlafen. Ich bin mir sicher, dass er nur meinen Fragen ausweichen will. Wir fahren schweigend dahin, kein einziges Mal berühren wir uns. Ich wage nicht, Grischa etwas zu fragen, ich weiß auch nicht, was. Ermattet in Körper und Geist, ernüchtert fast, kann ich an nichts denken, bin ein bloßer fühlender Mensch und empfinde doch nur Leere. Ich weiß nicht, warum Grischa von mir abgelassen hat, aber ich bin sicher, dass er seine Gründe hat. Ich zweifle nicht daran, dass er mich ebenso will, wie ich ihn. Viel mehr erstaunt mich, dass er von mir lassen konnte. Ich hätte nicht aufhören können, nicht im Geringsten. Wäre der Bus explodiert, ich hätte es nur am Rande meines Bewusstseins wahrgenommen. Eine derartige Konzentration habe ich nie zuvor erfahren. Es existierte nichts anderes. Alles bestand nur aus Wärme, Düften, Elektrizität und Gefühlen. Es war ein Strudel, der mich weder nach unten zog, noch nach oben schraubte, es war ein konstanter Zustand kompletter Verwirbelung. Jetzt lehnen wir aneinander wie Liebende, die es nicht sein können. Ich sehe aus dem Fenster. Der Morgen graut. Mein Zeitgefühl habe ich völlig verloren. Es wundert mich, dass die Nacht schon vorbei ist und ich kein Auge zugetan habe. Doch ich bin nicht müde. Ich bin viel zu konzentriert. Es wird schnell heller und schon erkenne ich die Menschen im Bus wieder schemenhaft. Grischa bewegt sich neben mir. Ich sehe ihn an. Es ist das erste Mal, dass ich ihm nach dem Ausbruch unserer Leidenschaft in die Augen sehe. Sie sind von einem warmen tiefen Blau, ruhig wie ein Bergsee und voller Glück, ich strahle zurück, aber Grischas Ausdruck verändert sich schon wieder, die Freude weicht Besorgnis. Aus einer seiner hinteren Hosentaschen zieht er ein Papier. Er faltet es auf, legt den Zeigefinger der rechten Hand an den Mund und rückt ein Stück näher an mich heran. Er flüstert so leise in mein Ohr, dass ich es kaum verstehe:

      „Das ist unser Weg.“

      Mein Herz schlägt einmal außerhalb seines Rhythmus, meine Kopfhaut zieht sich zusammen. Die Karte, die Grischa vor uns hält, ist nicht größer als ein A4-Blatt. Sie ist abgenutzt und spärlich beschriftet. Es ist eine stumme Karte, ohne Ortsnamen, ohne geografische Erhebungen, nur einige Straßen und Flüsse sind eingezeichnet. Mit dem Zeigefinger fährt Grischa einen Weg ab, dieser führt entlang vieler Flüsse nach Nordosten, soweit die Karte überhaupt nach Norden ausgerichtet ist.

      „Was mache ich mit dir?“, sagt er.

      Genauso leise, eher ein Grummeln als gesprochene Worte, murmelt er, mehr zu sich selbst, weiter:

      „Ich habe Angst. Was mache ich, wenn wir nach Teufelskessel kommen?“

      Er deutet auf einen Punkt, an dem mehrere Straßen zusammenlaufen.

      „Was ist denn Teufelskessel? Endet dort unsere Fahrt?“, wispere ich in sein Ohr, aber er zuckt nur leicht die Schultern.

      „Du gehörst mir!“, sagt er fast verzweifelt. Ich schaue ihn fragend an, aber er reagiert nicht.

      „Was passiert denn dort?“, flüstere ich in sein Ohr.

      Er reagiert nicht.

      „Ich bleibe bei dir“, schlage ich vor.

      Er macht eine abwertende Geste.

      „Wenn sie dich holen …“

      Er beendet den Satz nicht. Ein tiefer, schwarzer Graben bricht vor mir auf. Es gibt nichts Festes, ich treibe auf einem Ozean und bin nicht sicher, ob ich den nächsten Sturm überlebe. Verzweifelt versuche ich, Grischas Worten eine Bedeutung zu geben. Er hat Angst vor jemanden und dabei Angst um mich. Angst, dass mich jemand holt in Teufelskessel. Sicher kein schöner Ort. Aber warum sollten sie mich nehmen, wo doch der ganze Bus voller Frauen ist? Langsam denke ich nach. Der erste Punkt, der mich von den anderen unterscheidet, ist, dass ich neben dem Anführer sitze. Das ist auffällig. Es ist sicher besser, mich unter die anderen zu mischen. Unbewusst drehe ich mich um und mustere die Frauen. Müde, ausgezehrt sitzen sie da, jede mit tiefen Ringen unter den Augen, in denen nur wenig Leben ist. Wenn ich nur annähernd so strahle, wie ich mich fühle, dann bin ich ein Stern in diesem Bus. Obwohl ich ebenso wenig gegessen und geschlafen habe wie die anderen, fühle ich mich voller Energie, voller Lebenslust, der Unterschied zu den Frauen könnte nicht größer sein. Weder bin ich die Hübscheste, noch die Einzige mit blonden Haaren, aber ich bin die Einzige, die frisch verliebt ist. Ich bin die Einzige, die Hoffnung hat. Ich fürchte, ich falle sofort auf. Deshalb schlage ich vor:

      „Ich werde apathisch in die Leere starren und mich hinter den anderen verstecken.“

      Es ist nur eine Idee, ohne konkreten Sinn ist. Ich habe keine Vorstellung, was Teufelskessel bedeutet. Aber die Brocken, die mir Grischa hinwirft, sind die einzigen Anhaltspunkte, die ich für meine weitere Zukunft verwenden kann. Deswegen muss ich damit arbeiten.

      „Ja, vielleicht …“, murmelt er.

      Traurig sieht er mich an, aber mehr erzählt er nicht. Ich weiß nicht, wann wir Teufelskessel erreichen. Ich habe zwar die Karte gesehen, aber ich weiß nicht, welchen Maßstab sie hat, geschweige denn, wo wir überhaupt sind. Es steht nur fest, dass wir irgendwann in Teufelskessel ankommen. Dort ist jemand, vor dem Grischa Angst hat, oder besser, weswegen er um mich besorgt ist. Um seinen Besitz. Du gehörst mir! hatte er gesagt. Wäre Grischa ein Mann, den ich im normalen Leben kennengelernt hätte, dieser Satz wäre mir einen Streit wert gewesen. Ich gehöre niemandem, außer mir selbst. Aber hier und jetzt fühle ich mich beschützt und weit sicherer, als hätte Grischa diesen Satz nicht ausgesprochen.

      Die Sonne steigt hinter einem trostlosen Himmel auf und taucht die Umgebung in ein einheitliches Grau. Doch diese Tristesse stachelt meine Unruhe nur an. Wann werden wir an der Kreuzung sein? Heute? Morgen? In diesem haltlosen Dasein verschwimmt mein Zeitgefühl, nur meine Angst wächst stetig. Ich werde nervös. Immer öfter sehe ich Grischa an, fasse nach seinen Händen, die genauso schwitzen wie meine. Auch er ist aufgeregt. Doch er schüttelt meine Hände ab, meidet meinen Blick und meine Berührung. Die anderen Frauen merken nichts, gelegentlich ruft eine nach Essen und Wasser, aber die Männer reagieren nicht. Grischa steht plötzlich auf und läuft nach hinten. Ich folge ihm mit den Augen. Die Frauen lehnen still in ihren Sitzen, manche beachten ihn nicht einmal, starren apathisch vor sich hin, als wären sie nicht in diesem Bus. Andere tuscheln mit ihrer Nachbarin, beobachten Grischa aus misstrauischen, ängstlichen Augen. Die Frau, die er anschrie, weil sie mich eine Hure


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