Das schmale Fenster. Friedrich Haugg

Das schmale Fenster - Friedrich Haugg


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krank und ist auch bei der Arbeit eher unkonzentriert. Ich weiß gar nicht, was mit ihm los ist. Früher war er doch anders, ein Nerd, ja, aber sehr leistungsfähig.“

      „Hat er sich denn gründlich untersuchen lassen? Vielleicht gibt es da ein größeres Problem.“

      „Ich denke schon, beim Arzt war er oft genug und die Tees die er trinkt, Gott bewahre.“

      „Du hast noch ein paar Leute eingestellt? Ich habe die Stellen genehmigt.“

      „Eine ist noch offen, aber die anderen sind schon seit ein paar Monaten besetzt und alle haben sich prächtig eingearbeitet.“ Martin fühlte sich sehr unwohl, weil er sein altes Labor noch nicht einmal wieder besucht hatte.

      Das Essen half ihm zwar, das Gespräch abzubrechen, aber das führte nur zum Smalltalk mit anderen Leuten, die er nicht kannte und er deswegen auch nicht wusste, was er wirklich sagen konnte oder sollte. Er war froh, als es zu Ende war und kam vom Regen in die Traufe. Es war doch tatsächlich ein Tisch in der VIP - Lounge reserviert worden. Die Musik, beziehungsweise das, was die so Musik nannten - es waren diese langweiligen, ununterscheidbaren Computerkompositionen - war gottlob so laut, dass der Smalltalk eine natürliche Einschränkung erfuhr. Als er um Mitternacht fühlte, dass er sich – ohne unangenehm aufzufallen – verdrücken konnte, war Maurus auch schon weg und Frank noch in glänzender Laune mittendrin. Martin fragte sich ernsthaft, ob er vielleicht doch falsch konditioniert war und sich ein großes Vergnügen im Leben entgehen ließ. Er beschloss, später darüber nachzudenken.

      Am nächsten Morgen stand vor dem Hotel keine Limousine. Es wurde ihnen zugemutet, den zehnminütigen Anstieg zur Zitadelle zu Fuß zu gehen. In einem musealen Raum war die Veranstaltung. Das einzig Bemerkenswerte, fand Martin, war die Tatsache, dass die Organisatoren tatsächlich diesen illustren Ort mieten konnten. Mit Geld ging wohl alles. Nach zwei Stunden – netto- die einstündige Kaffee - und Smalltalkpause nicht gerechnet, hatte Martin, wohl im Gegensatz zu den anderen, nichts gehört, aus dem er einen persönlichen Vorteil ziehen konnte.

      Zur Belohnung für die großen Mühen der Arbeit gab es ein Buffet und dann eine Überraschung: Eine Fahrt mit einer der Jachten zum Strand von Pampelonne und Übersetzen zum Club55, sehr berühmt und sehr mondän, der nicht der internationalen Standardausstattung entbehrte. Vielleicht war hier auch wieder Joseph am Werk. Bei der Hinfahrt umkreiste sie ein Hubschrauber. Maurus bat alle fürs Familienalbum zum Winken. Als sie so beieinander standen, fiel Martin ein Gesicht auf, das er zu kennen glaubte. Untersetzt, kleine Schlitzaugen, aha, er erinnerte sich.

      „Guten Tag, Herr Dr. Hohenstein, schön sie wieder zu sehen.“

      „Waren sie bei der Veranstaltung schon dabei? Ich bitte um Entschuldigung, dass ich sie nicht bemerkte habe.“

      „Kein Problem, kleine Leute bleiben oft verborgen.“ Er kicherte ein wenig zu lange.

      „Darf ich fragen, welche Organisation sie vertreten.“ Martin wollte es endlich wissen.

      „Ich habe gewechselt. Ich bin jetzt Pressesprecher der non profit-Organistion 'International Brain Care'.“

      „Auch wenn sie mich jetzt für einen hoffnungslosen Ignoranten halten, ich kenne diesen Verein nicht.“

      „Oh, das geht vielen so. Ist relativ neu und wird von verschiedenen Organisationen getragen.“ Wie aufschlussreich.

      „Damals hatten sie eine kritische Frage gestellt?“

      „Nun ja, ich war schon ein wenig skeptisch. Aber sie haben ja recht behalten. NeuroX ist ein voller Erfolg, vor allem kommerziell. Ich habe gestern schon von Herrn Thomsen erfahren, wie gut es läuft.“

      „In der Tat, wir sind sehr zufrieden, dass es vielen Menschen so gut hilft.“

      „Und Ihnen hat es ja auch geholfen.“ Er versuchte schelmisch auszusehen. „Herzliche Gratulation!“

      „Danke. Die neue Aufgabe ist sehr interessant.“

      „Na gut, ich muss jetzt weiter, vielleicht trifft man sich ja wieder. In dieser Branche ist die Welt klein.“

      Nach dem glorreichen Anlegemanöver im alten Hafen, beobachtet und fotografiert von einer Touristentraube, die nach dem Auftauchen von Promis lechtzten, war alles zu Ende. Vom eigentlichen St.Tropez hatte er nichts gehabt, kein Glas Wein am Place des Lices mit den abendlichen Boule-Spielern und eingestreuten wirklichen Berühmtheiten, kein Pint Lager im Irish Pub am alten Fischerhafen mit den kleinen, ärmlichen, aber malerischen Fischerbooten gleich neben den unerhörten Luxusjachten, kein beschauliches Beobachten der vorbeifließenden Menschen bei einer Tasse Cafe au Lait in den roten Stühlen des Cafe Senequier, wo die Zigarettenasche einfach auf den Boden geschnippt wurde und dessen Weiterbestand und Unveränderbarkeit testamentarisch geschützt war, kein Spaziergang zum wohl romantischsten Friedhof der Welt mit dem schönsten Blick der Stadt aufs Meer Es war alles noch da, nur nicht für ihn. Ein Hubschrauber brachte ihn und Maurus zurück zum Airport und Maurus verabschiedete sich zu anderen Ufern.

      Als er im Dunkeln seine kleine PC6 warten sah, wurde es ihm warm ums Herz. Frohgelaunt gab er die Koordinaten von Buochs ein und war drei Stunden später wieder zu Hause. Und zur Abrundung seines Wohlbefindens schnurrte ihm schon Agathe entgegen. Gemeinsam mit ihr las er seine Zeitung und amüsierte sich über einen Artikel, nach dem eine amerikanische Studie herausgefunden hatte, dass die 12 – 16 Jährigen immer dümmer und dicker werden und meist nur noch sogenannte reality shows im Fernsehen konsumierten. Es fiel ihm ein Begriff ein, den er unlängst gehört hatte: 'scripted reality'. Das geschieht den Verblödeten recht, dachte er, dass sie auch noch verarscht wurden. Ihn betraf es ja nicht und er sah sich am Ende des Tages mit wohligem Gruseln zum fünften Male die BBC-Dokumentation über die giftigsten Tiere der Welt an. Nach Australien würde er bestimmt nicht reisen.

      Vier

      Eine Woche ähnelte der anderen. Diese Woche musste Martin zu einer Tagung nach Paris. In den breiten crèmefarbigen Polstersesseln der firmeneigenen Cessna Citation wurde er bei bestem Service durch eine A-Hörnchen-ähnliche Stewardess direkt von Buochs zum Airport Orly geflogen und natürlich vom Flugzeug abgeholt. Eigentlich egal, wo ich bin, dachte Martin, alles auf der Welt sieht mittlerweile gleich aus. Selbst das Tagungshotel war von internationalem Standard - Luxus und - Design. Orientieren musste er sich ohnehin nicht und schon gar nicht mit Einheimischen kommunizieren. Da er abends wieder zurückgeflogen würde, war es sogar völlig belanglos, sich zu merken, wo er gewesen war.

      Er musste auch diesmal nichts tun außer zuzuhören. Damit würde sich diese Reise als Entspannungspause darstellen. Einen Vortrag nach dem anderen ließ er an sich vorübergehen, unterbrochen von Kaffeepausen und Buffet. Er lernte, dass Bionik Health auf dem Wege war, zu einem Umsatzriesen der Branche zu werden, dank NeuroX. Er grinste, weil er das als Vorstandsmitglied auf einer Tagung erfahren musste. Vielleicht sollte er sich jetzt doch etwas mehr um die Finanzen kümmern. Als er zurückgeflogen wurde, blieb ihm ein Satz aus einem der Vorträge im Gedächtnis: „Die Fluorbindung des methylisierten Phenolrings erweist sich als nützliche Zwischenstufe im Hinblick auf eine effiziente Produktion.“

      Er wusste nicht gleich etwas damit anzufangen und war sich auch nicht im Klaren, wieso sein Gehirn diesen Satz gespeichert hatte. Er wusste nicht einmal, wer den Satz ausgesprochen hatte. Er sah weiter aus dem Fenster auf die bedrohlich bizarren Wolkentürme neben ihm, die der Pilot in weichen Bögen umflog und nickte dabei ein, eingeschläfert durch die leichten Turbulenzen.

      Als er aufwachte, befand sich die Cessna schon im Landeanflug. Wie so oft nach einem Schlaf, kam ihm schlagartig und ohne bewusstes Nachdenken die Erkenntnis. Dieser Satz konnte nur ausgesprochen werden, wenn man seine Arbeit im Labor kannte. Die Idee mit dem Fluor war so spezifisch und seine Wirkung durch einen glücklichen Zufall entdeckt worden, dass es ihm völlig unwahrscheinlich erschien, dass ein anderer genau zum gleichen Ergebnis hätte kommen können. Der Vortragende kannte den Inhalt des USB-Sticks, weil er ihn selbst hatte oder weil ihm Dokumente daraus von jemandem zugespielt wurden. Er war plötzlich hellwach und vielerlei schoss ihm durch den Kopf. Also gezielt gestohlen, nicht verschlampt. Und der Dieb oder seine Helfer wussten vom Inhalt. Und sie kannten die Bedeutung. Und


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