Die Leben des Michael Kassel. Hannes van de Lay

Die Leben des Michael Kassel - Hannes van de Lay


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sagte ich mir. Ich hatte jetzt einen Namen und das war schon was.

      Ein Schrei zu meiner Linken ließ mich aufschrecken. Ich riss meinen Kopf zur Seite und schaltete das Licht an.

      Mein Nachbar atmete stoßweise und kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Seine Decke hatte er nach unten gestrampelt.

      Seine Brust hob und senkte sich in einem unnatürlichen Rhythmus und seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich regelmäßig. Trotz dieser Anstrengungen schien er zu schlafen.

      Ich drückte den Klingelknopf um die Schwester herbeizuholen und schwang mich aus dem Bett. Behutsam legte ich meine rechte Hand auf seine Schulter um ihn zu beruhigen und beugte mich etwas über ihn. Plötzlich riss er die Augen auf und begann zu schreien. Zur gleichen Zeit griffen seine Hände nach meinem Hals. Seine knochigen Finger umfassten ihn und seine Daumen drückten sich in meine Kehle. »Du Bastard, du Bastard!«, brüllte er immer wieder und in seinen Augen leuchtete der Wahnsinn. Mit all meiner Kraft versuchte ich, seine Hände zu lösen. Aber die lange Zeit im Koma hatte an meinen Kräften gezehrt. Der Raum begann sich vor meinen Augen zu drehen. Ich versuchte zu schreien, doch nur ein leises Röcheln drang aus meiner schmerzenden Kehle.

      Meine Knie knickten ein und ich sank zu Boden, doch mein Peiniger ließ nicht los, sondern er fiel – von meinem Sturz mitgezogen – halb auf mich und drückte in seinem Irrsinn weiter zu. Wo blieb die Schwester?! Ich fühlte panische Angst. Vielleicht war sie eingenickt. Vielleicht kam überhaupt niemand.

      Mit letzter Kraft begann ich auf den Körper meines Gegners einzuschlagen, aber auch dies blieb ohne Wirkung. Er war wie von Sinnen, fühlte keinen Schmerz. Ich war verloren.

      Plötzlich glaubte ich den Geruch von Alkohol in meiner Nase wahrzunehmen. Es war nur ein ganz flüchtiger Eindruck. Dann verschwommen das Bild von Soldaten und einer Salve von Schüssen. Ein weißer Blitz, das Dröhnen eines Zuges, der durch meinen Kopf ratterte.

      Das also ist der Tod, schoss es mir durchs Gehirn, als plötzlich der Kopf meines Gegners zurückgerissen wurde und er von mir abließ. Die Schwester und ein Krankenpfleger zerrten den tobenden Wahnsinnigen von mir fort. Röchelnd stemmte ich mich in die Höhe. Keuchend und nur mit Anstrengung sog ich Luft in meine Lungen. Ich begann zu husten und zu würgen, mein Kehlkopf brannte wie Feuer. Instinktiv begann ich ihn vorsichtig zu massieren.

      Nach einiger Zeit kümmerte man sich dann um mich. Meinen Peiniger sollte ich nie wieder sehen.

      Am nächsten Morgen fühlte ich mich schon wieder besser. Der Schmerz in meinem Hals hatte nachgelassen, bis auf ein gelegentliches Ziehen und Pochen. Die Schwester erzählte mir, dass man meinen Nachbarn in die psychiatrische Abteilung verlegt hätte. Es käme häufiger vor, dass Patienten mit schweren Brandwunden psychologisch betreut werden müssten. Dies hier sei jedoch ein extremer Fall, sagte sie zu mir.

      Psychologische Behandlung, dachte ich bei mir. Auch ich hatte Brandwunden erlitten. Hieß das, dass auch ich durchdrehen würde? Unsinn! Gerhard Schneider hatte sich während seines schon Wochen dauernden Aufenthaltes im Krankenhaus selbst etwas vorgemacht. Er dachte wohl, mit dieser gespielten Leichtigkeit sein Problem in den Griff zu bekommen. Doch auf Dauer kam er mit dieser Strategie nicht klar. Er war traumatisiert. Vielleicht verfiel er gar dem Wahnsinn.

      Mich aber ließ der Augenblick des Todeskampfes nicht los. Meine Sinne hatten verrückt gespielt. Der Geruch von Alkohol und das Dröhnen einer Eisenbahn erschienen mir unsinnig und ohne jeden Zusammenhang. Auch für die Salve von Schüssen hatte ich keine Erklärung. Es war mir jedoch in dieser extremen Situation, als wäre sie gegen mich gerichtet gewesen.

      Doch da war noch etwas anderes, diesmal keine Phantastereien, sondern Bilder, die ich wohl aus Erlebnissen schöpfte. Diese unscheinbaren und flüchtigen Impressionen von Häusern und Landschaften waren Erinnerungen, die in meiner Todesangst aus meinem tiefsten Innern aufgetaucht waren.

      Doch was half diese Erkenntnis? Natürlich war es ein Fortschritt, sich zu erinnern. Aber bis jetzt waren es nur unbedeutende Dinge, die mir keinen wirklichen Aufschluss über meine Person gaben. Es war nichts, was meine Erinnerung wachrütteln konnte und mich mein Leben wieder in Zusammenhängen sehen ließ. Nach wie vor blieb ich mir selbst ein Fremder.

      Ich hörte, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Doktor Gajewski trat ein.

      »Guten Morgen, wie fühlen Sie sich?«

      »Zerschlagen!« Meine Stimme klang ungewollt gereizt.

      »Das kann ich verstehen«, sagte er verständnisvoll und nahm an meinem Bett Platz.

      »Ich möchte entlassen werden«, verlangte ich.

      Er nahm die Brille von der Nase und begann sie zu putzen. Zögernd antwortete er mir: »Sie sind ein freier Mensch und dies hier ist kein Gefängnis. Physisch gesehen habe ich auch keine Bedenken. Aber glauben Sie nicht, es wäre besser, in der Obhut einer Klinik zu versuchen, Ihr Gedächtnis wiederzuerlangen?«

      Ich sah ihn ärgerlich an. »Höre ich da heraus, dass Sie mich für geistig zu labil halten, um auf die Welt dort draußen losgelassen zu werden?« Ich zeigte auf das offenstehende Fenster. Ganz leise war der Straßenlärm zu vernehmen.

      »Nein, das möchte ich damit nicht sagen«, begann der Arzt abwehrend, »aber es kann durchaus sein, dass es Ihnen sehr schwer fallen wird, mit Ihren jetzigen Problemen ein relativ normales Leben zu führen.« Er sah mich mit seinen stahlblauen Augen durchdringend an und für einen kurzen Augenblick war ich geneigt nachzugeben, aber dann blieb ich doch meiner ursprünglichen Absicht treu.

      »Das mag sein, aber es ändert nicht meinen Entschluss!«

      »Ich kann Sie nicht zwingen hier zu bleiben, aber Sie müssen dann noch einige Formalitäten erledigen.«

      Zufrieden mit seiner Antwort nickte ich ihm zu. »Ach, übrigens«, ergänzte er, »Ihre alten Kleider waren wohl in so unbrauchbarem Zustand, dass irgendein übereifriger Mitarbeiter sie entsorgt hatte, als die Polizei danach fragte. Er erinnert sich noch an einen verknitterten Reiseprospekt in einer Jackentasche, dem er natürlich auch keine Bedeutung beimaß. Ansonsten waren die Taschen leer.«

      Das Geständnis war ihm offensichtlich unangenehm.

      »Ich habe daher den Sozialen Dienst hier im Hause angewiesen, für Sie ein paar passende Kleidungsstücke zu besorgen. Die werden Sie in den nächsten Tagen erhalten.«

      Er schüttelte mir kurz die Hand und verabschiedete sich.

      Nach dieser Mitteilung war ich ziemlich verstimmt. Warum warfen die einfach meine Sachen in den Müll?! Vielleicht hätten mir die alten Klamotten einen Hinweis gegeben. Anderseits, wenn alles verkohlt und zerrissen war, dann … aber wenigstens den Prospekt hätten sie aufbewahren müssen. Ich ärgerte mich auch über mich selber, dass ich nicht früher nach meinen Kleidern gefragt hatte. Andererseits, wie die Dinge lagen, hätte auch das nichts genützt.

      Die noch verbleibenden Tage im Krankenhaus nutzte ich, um mit Axel weiter Schach zu spielen. Er war sichtlich enttäuscht, als ich ihm sagte, dass ich nun bald entlassen würde. Zwischen ihm und mir hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt. Ich versprach Axel, ihn weiterhin zu besuchen und mit ihm Schach zu spielen. Das tröstete ihn zumindest ein wenig.

      Nach fast sechs Monaten Hospital war es endlich soweit. Vom Sozialen Dienst einigermaßen ordentlich eingekleidet und mit einer kleinen Reisetasche, in die man das Notwendigste hineingepackt hatte, schritt ich durch den Haupteingang hinaus in die Welt.

      Draußen blieb ich stehen. Die klare Luft war eine erfrischende Wohltat. Doch die ungewohnte Freiheit wirkte auch beklemmend. Es war die Angst vor dem Unbekannten. Was würde auf mich zukommen? Ich schüttelte den Gedanken ab und zwang mich weiterzugehen. Nur weg von hier!

      Da hörte ich, wie jemand gegen eine Scheibe klopfte. Meine Augen suchten die Fenster ab.

      Axel sah zu mir herunter und hob die Hand. Ich ebenfalls. Er begann zu lächeln und ich erwiderte sein Lächeln.

      »Ich komme wieder!«, sagte ich mehr zu mir selbst. »Ich komme wieder!«

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