Nostromo. Joseph Conrad

Nostromo - Joseph Conrad


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sehen mich erschüttert. Ich dachte nicht an Herabsetzung. Sie scheinen sehr patriotisch.«

      »Man kann den Ort wirklich lieben, und wenn nur seiner Lage wegen. Sie wissen vielleicht nicht, eine wie alte Einwohnerin ich bin.«

      »Wie alt: wohl, möchte ich wissen«, murmelte er und sah sie mit leichtem Lächeln an. Frau Gould erschien jung durch die Klugheit ihres beweglichen Gesichts. »Ihren geistlichen Gerichtshof können wir Ihnen nicht wiedergeben; aber Sie sollen mehr Dampfer haben, eine Bahn, ein Unterseekabel, eine Zukunft in der großen Welt, die unendlich wertvoller ist als jede beliebige geistliche Vergangenheit. Sie sollen mit etwas Größerem als zwei Vizekönigen in Berührung gebracht werden. Aber ich hatte wirklich keine Vorstellung, daß eine Küstenstadt von der Welt so abgeschlossen bleiben könnte. Wenn sie noch tausend Meilen landeinwärts läge! – Ganz erstaunlich! Ist hier wohl seit hundert Jahren, von heute an gerechnet, je etwas geschehen?«

      Während er so, langsam und belustigt, redete, behielt sie das kleine Lächeln bei. Reichlich spöttisch, wie es ihm vorkam, versicherte sie ihm, daß sich gewiß nichts – niemals etwas in Sulaco ereignet habe. Sogar die Revolutionen, deren es während ihrer Zeit zwei gegeben, hatten den Frieden des Orts geachtet. Ihre Schauplätze waren die volkreicheren südlichen Teile der Republik gewesen und das weite Tal von Sta. Marta, das ein einziges großes Schlachtfeld für die Parteien bildete, mit dem Besitz der Hauptstadt als Preis und dem Zugang zu einem ändern Ozean. Die dort drüben waren fortschrittlicher. Hier in Sulaco aber hörte man nur das Echo dieser großen Fragen, und natürlich vollzog sich jedesmal ein Wechsel in der Beamtenschaft, wobei die Ablösung immer über den Bergwall kam, den er selbst mit soviel Gefahr für Leben und gerade Glieder in einer alten Postkutsche überklettert hatte.

      Der Vorsitzende des Verwaltungsrats hatte ihre Gastfreundschaft mehrere Tage genossen und war wirklich dankbar dafür. Erst nadi dem Verlassen von Sta. Marta hatte er inmitten der fremdartigen Umgebung völlig die Fühlung mit europäischem Leben verloren. In der Hauptstadt war er der Gast der Gesandtschaft gewesen und hatte reichliche Beschäftigung in den Unterhandlungen mit den Mitgliedern von Don Vincentes Regierung gefunden – gebildeten Leuten, denen die Grundbedingungen gesitteter Geschäftsführung nicht unbekannt waren.

      Was ihn zur Zeit am meisten beschäftigte, war der Landerwerb für die Eisenbahn. Im Tal von Sta. Marta, wo schon eine Linie in Betrieb stand, war es nur eine Preisfrage, da die Leute umgänglich waren. Eine Kommission war eingesetzt worden, um die Grundwerte festzustellen, und die Schwierigkeit beschränkte sidi darauf, den richtigen Einfluß auf die Kommissionsmitglieder zu gewinnen. In Sulaco aber – der Westlichen Provinz, für deren Erschließung die neue Eisenbahn gedacht war –, in Sulaco hatte es Ärger gegeben. Der Landstrich war seit Menschengedenken abgeschieden hinter seinen natürlichen Schutzwällen gelegen und hatte neuzeitlichen Unternehmungen die Steilwände seiner Berge entgegengesetzt, den seichten Hafen am Ende eines ewig bewölkten, ewig windstillen Golfs, die rückständige Gesinnung der Eigentümer des fruchtbaren Bodens – aller dieser altadeligen spanischen Familien, aller dieser Don Ambrosio Dies und Don Fernando Das, die dem Plan einer Bahnlinie über ihre Grundstücke ablehnend und mißtrauisch gegenüberstanden. Es war vorgekommen, daß einige der Vermessungsabteilungen, die über die ganze Provinz zerstreut arbeiteten, unter Androhung von Gewalt vertrieben worden waren, und in anderen Fällen wiederum waren maßlose Preisforderungen erhoben worden. Aber der Eisenbahnmensch war stolz darauf, jedem Vorkommnis gewachsen zu sein. Da ihm hier in Sulaco das feindliche Gefühl blinder Rückständigkeit entgegengetreten war, so wollte er ihm durch ein anderes Gefühl begegnen, bevor er sich einfach nur auf sein Recht stützte. Die Regierung war verpflichtet, die Bedingungen des Vertrags mit der Eisenbahngesellschaft durchzuführen, und sollte sie auch offene Gewalt dazu gebrauchen müssen. Der Verwaltungsrat wünschte aber für den glatten Ablauf seiner Pläne alles eher als einen bewaffneten Eingriff. Die waren viel zu groß und weitreichend und auch zu vielversprechend, als daß man hätte ein Mittel unversucht lassen mögen; und so war er auf den Gedanken gekommen, den Präsidenten-Diktator hier herüberzubringen, zu einer Reihe von Feierlichkeiten und Reden, die in einer großen Zeremonie am Hafenkai anläßlich des ersten Spatenstiches gipfeln sollten. Schließlich war er das eigene Geschöpf dieser Leute – dieser Don Vincente. Er war der verkörperte Triumph der besten Elemente im Staat. Dies waren Tatsachen, und wenn Tatsachen überhaupt eine Bedeutung hatten, sagte sich Sir John, so mußte der Einfluß dieses Mannes wirksam sein und sein persönliches Erscheinen die gewünschte Versöhnung herbeiführen. Sir John hatte die Reise mit Hilfe eines sehr geschickten Advokaten zuwege gebracht, der in Sta. Marta als der Agent der Gould-Silbermine bekannt war, der größten Sache in Sulaco und der ganzen Republik überhaupt. Es war tatsächlich eine fabelhaft reiche Mine. Ihr sogenannter Agent, ganz offenbar ein Mann von Bildung und Geschick, schien, ohne amtliche Stellung, außerordentlichen Einfluß in den höchsten Regierungskreisen zu besitzen. Er war in der Lage, Sir John zu versichern, daß der Präsident-Diktator die Reise machen würde. Allerdings sprach er in der gleichen Unterredung sein Bedauern darüber aus, daß General Montero darauf bestehe, gleichfalls mitzukommen.

      General Montero, den der Ausbruch der Revolution als unbekannten Linien-Kapitän an der wilden Ostgrenze des Staates getroffen, hatte sich mit seiner Abteilung in einem Augenblick auf die Seite der Ribiera-Partei geschlagen, wo besondere Umstände dieser an sich geringfügigen Tatsache entscheidende Bedeutung gaben. Das Kriegsglück war ihm wunderbar hold, und der Sieg von Rio Seco (nach eintägigem, verzweifeltem Kampfe) besiegelte seinen Erfolg. Schließlich ging er als General, Kriegsminister und militärisches Haupt der Blanco-Partei aus alledem hervor, trotzdem durchaus nichts Aristokratisches in seiner Abstammung war. Tatsächlich erzählte man sich, daß er und sein Bruder, Waisen, der Freigebigkeit eines europäischen Reisenden ihre Erziehung verdankten, in dessen Diensten ihr Vater sein Leben verloren hatte. Ein anderes Gerücht wollte wissen, daß ihr Vater einfach ein Köhler im Walde gewesen war und ihre Mutter eine getaufte Indianerin, tief aus dem Landesinnern.

      Doch wie dem auch sein mochte, die Costaguana-Presse hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Monteros Marsch durch den Urwald, von seiner Commandancia zum Hauptlager der Blancotruppen, zu Beginn des Aufruhrs, als »das heldenhafteste militärische Wagnis der neueren Zeit« zu feiern. Ungefähr zur gleichen Zeit war auch sein Bruder von Europa zurückgekehrt, wohin er angeblich als Sekretär eines Konsuls gegangen war. Fest stand, daß er eine kleine Schar von Desperados um sich gesammelt, einige Begabung als Guerillaführer bewiesen hatte und nadi Friedensschluß mit dem Posten eines Militärkommandanten der Hauptstadt belohnt worden war.

      Der Kriegsminister also begleitete den Diktator. Die Verwaltung der O. S. N. Kompagnie, die mit den Leuten von der Eisenbahn Hand in Hand zum Wohle der Republik arbeitete, hatte bei diesem wichtigen Anlaß Kapitän Mitchell die Weisung gegeben, den Postdampfer Juno zur Verfügung der ausgezeichneten Gäste zu halten. Don Vincente war von Sta. Marta nach Süden gereist, hatte sich in Cayta, dem Haupthafen von Costaguana, eingeschifft und war auf dem Seewege nach Sulaco gekommen. Der Vorsitzende des Verwaltungsrats aber hatte mutig in einer wackeligen Postkutsche das Gebirge überquert, hauptsächlich zu dem Zweck, um seinen Chefingenieur zu treffen, der die endgültigen Vermessungsarbeiten für die Linie leitete.

      Trotz all der Unempfindlichkeit eines Geschäftsmannes für die Natur, deren Feindseligkeit ja immer durch Geldaufwand zu besiegen ist, konnte er sich doch eines tiefen Eindrucks nicht erwehren bei der Rast im Lager der Vermessungsabteilung, das auf dem höchsten Punkte der künftigen Bahnlinie errichtet war. Er brachte die Nacht dort zu, nachdem er eben zu spät gekommen war, um das letzte Verglühen des Sonnenlichts auf den schneeigen Hängen des Higuerota mit anzusehen. Getürmte Massen schwarzen Basalts faßten wie Torpfeiler einen Teil des Schneefeldes ein, das sich quer nach Westen hinzog. In der dünnen Höhenluft schien alles ganz nahe, in stille Klarheit getaucht wie in eine farblose Flüssigkeit; und gespannt auf das erste Geräusch der erwarteten Postkutsche lauschend, hatte der Chefingenieur in der Tür einer Hütte aus rohen Steinblöcken die wechselnden Farbtöne auf den ungeheuren Berghängen verfolgt und dabei gedacht, daß dieser Anblick, wie ein beseeltes Tonwerk, die letzte Feinheit verschleierten Ausdrucks mit überwältigender Wirkung vereinte.

      Sir John kam zu spät, um dem gewaltigen, unhörbaren Choral beizuwohnen, den der Sonnenuntergang in den Schroffen der Sierra harfte. Der Sang war in die atemlose Stille tiefster Dämmerung verrauscht,


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