Nostromo. Joseph Conrad

Nostromo - Joseph Conrad


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Seine tiefere Bedeutung allerdings entzog sich der oberflächlichen Einsicht der Damen. Es lag ihnen auch ferne, besonderes Nachdenken an den Doktor zu wenden. Er war alt, häßlich, gelehrt und ein wenig – »loco« – verrückt, wenn nicht gar ein Zauberer, was zu sein ihn das gemeine Volk verdächtigte. Die kurze weiße Jacke war tatsächlich ein Zugeständnis an Frau Goulds vermenschlichenden Einfluß. Der Doktor mit seiner spöttischen, bitteren Redeweise hatte kein anderes Mittel, um seine tiefe Ehrfurcht vor der Wesensart der Dame zu bekunden, die im Land als die Englische Señora bekannt war. Er brachte diesen Tribut sehr ernsthaft dar; es war für einen Mann seiner Gewohnheiten keine Kleinigkeit. Frau Gould empfand das vollauf. Es wäre ihr nie eingefallen, ihm etwa diesen deutlichen Beweis von Ergebenheit nahezulegen.

      Sie hielt ihr altes spanisches Haus (eines der schönsten in Sulaco) offen für die Austeilung der kleinen Annehmlichkeiten des Daseins. Sie teilte sie mit reizender Unbefangenheit aus, weil sie sich dabei von sicherem Wertungsvermögen leiten ließ. Sie hatte eine besondere Begabung für die Art des Verkehrs mit Menschen, der die zarten Abstufungen von Selbstvergessen in sich schließt und an ein umfassendes Verstehen glauben läßt. Charles Gould (die Männer der seit drei Generationen in Costaguana ansässigen Familie Gould holten sich ihre Erziehung wie auch ihre Frauen immer in England), Charles Gould also war der Meinung, er habe sich, wie jeder andere Mann, in den gesunden Menschenverstand eines Mädchens verliebt, doch konnte dies wohl nicht der Grund sein, aus dem zum Beispiel der ganze Stab der Vermessungsabteilung vom jüngsten der Jungen bis zu dem gereiften Oberhaupt so häufig Gelegenheit nahm, zwischen den Gipfeln der Sierra des Hauses der Frau Gould zu gedenken. Sie natürlich hätte leise lachend und mit einem überraschten Weiten ihrer grauen Augen beteuert, daß sie durchaus nichts für die Herren getan habe – hätte ihr jemand erzählt, wie innig ihrer an der Schneegrenze, weit oberhalb Sulacos, gedacht wurde; dann aber hätte sie sehr bald, unter dem reizenden Vorgeben, ihren Witz anzustrengen, eine Erklärung gefunden: »Natürlich, es mußte ja für die Jungen eine solche Überraschung sein, hier draußen so etwas wie einen Willkomm zu finden, und ich denke mir auch, daß sie Heimweh haben. Ich denke mir, jedermann muß immer ein wenig Heimweh haben.«

      Leute, die an Heimweh litten, taten ihr immer leid.

      Im Lande geboren, wie sein Vater vor ihm, mager und lang, mit feuerrotem Schnurrbart, scharfgeschnittenem Kinn, klaren blauen Augen, nußbraunem Haar und schmalem, frischem, rotem Gesicht, sah Charles Gould wie ein Neukömmling aus der Heimat aus. Sein Großvater hatte für die Sache der Unabhängigkeit unter Bolivar gefochten, in jener berühmten Englischen Legion, die der große Befreier auf dem Schlachtfeld von Carabobo als Retter seines Landes begrüßt hatte. Einer von Charles Goulds Onkeln war in den Tagen der Föderation der erwählte Präsident eben der Provinz von Sulaco gewesen (die sich damals Staat nannte) und späterhin an die Kirchenmauer gestellt und auf Befehl des barbarischen Unionisten-Generals Guzman Bento erschossen worden. Es war derselbe Guzman Bento, der später, als lebenslänglicher Präsident, wegen seiner erbarmungslosen, grausamen Tyrannei berüchtigt wurde und im Volksglauben eine Art Apotheose fand – als blutdürstig spukendes Gespenst, dessen Körper vom leibhaftigen Teufel aus dem Mausoleum im Hauptschiff der Himmelfahrtskathedrale in Sta. Marta entführt worden war. So wenigstens pflegten die Priester das Verschwinden des Leichnams der barfüßigen Menge zu erklären, die herbeiströmte, um mit frommem Schauder das Loch in dem häßlichen Ziegelbau vor dem Altar anzustarren.

      Guzman Bento grausamen Angedenkens hatte eine Unzahl Menschen außer Charles Goulds Onkel zum Tode verurteilt; doch mit einem Märtyrer für die Sache der Aristokratie zum Verwandten galt Charles Gould den Oligarchen von Sulaco (dies war die Bezeichnung zu Guzman Bentos Zeit; nun nannten sie sich Blancos und hatten den Gedanken an den Bundesstaat fallen lassen), galt also Charles Gould den Familien reiner spanischer Abstammung als einer der ihren. Eine solche Familiengeschichte gab Charles Gould den unbestreitbarsten Anspruch, als Costaguanero zu gelten; sein Aussehen aber war so eindeutig, daß er in der Sprache des gemeinen Volkes einfach der »Inglez« blieb, der Engländer von Sulaco. Er sah englischer aus als ein Zufallstourist, obwohl diese Art ketzerischer Pilger in Sulaco völlig unbekannt war. Er sah englischer aus als die letztgekommene Gruppe junger Eisenbahningenieure, als irgend jemand auf den Jagdbildern in den Nummern des »Punch«, die etwa zwei Monate nach Erscheinen in den Salon seiner Frau gelangten. Es verblüffte geradezu, ihn so geläufig spanisch sprechen zu hören (kastillanisch, wie die Eingeborenen sagen), oder die Indianer-Mundart der Bevölkerung. Seine Aussprache war nie englisch gewesen; aber in all diesen Goulds von Costaguana, seinen Vorfahren – Befreiern, Forschern, Kaffeepflanzern, Kaufleuten, Revolutionären –, steckte wohl etwas so Unzerstörbares, daß er, der einzige Vertreter der dritten Generation, in einem Erdteil, der seinen eigenen Reitstil hat, sogar noch zu Pferde völlig englisch aussah. Das soll nicht in der spöttischen Art der Llaneros von ihm gesagt sein – der Leute von den großen Ebenen, die meinen, daß niemand außer ihnen selbst zu Pferde zu sitzen verstehe. Charles Gould ritt, um den landläufigen Ausdruck zu gebrauchen, wie ein Zentaur. Das Reiten bedeutete ihm keine besondere Art von Leibesübung; es war eine natürliche Fähigkeit, wie das gewöhnliche Gehen für alle Leute mit gesunden Sinnen und Gliedern; trotzdem aber sah er, wenn er neben dem ausgefahrenen Ochsenweg nach der Mine galoppierte, in seinen englischen Kleidern und im englischen Sattel so aus, als wäre er in eben dem Augenblick in seinem leichten, schnellen »Pasotrote« kerzengerade aus einer grünen Wiese von der anderen Seite der Welt herübergekommen.

      Sein Weg führte an der altspanischen Straße entlang, dem volkstümlich so genannten Camino Real – als Tatsache und Namen das einzige Überbleibsel eines Königtums, das der alte Giorgio Viola haßte und von dem nicht einmal mehr ein Schatten im Lande geblieben war; denn die große Reiterstatue Karls IV. am Eingang der Alameda, die sich weiß von den Bäumen abhob, war dem Landvolk und den Stadtbettlern, die auf den Stufen rings um den Sockel schliefen, nur als das Steinerne Pferd bekannt. Der andere Carlos, der unter raschem Klappern von Hufen auf dem holprigen Pflaster nach links abbog – Don Charles Gould in seinen englischen Kleidern –, paßte gleich wenig in seine Umgebung, schien sich damit aber wesentlich vertrauter zu fühlen als der königliche Reiter, der auf dem Sockel über den schlafenden Leperos sein Pferd zügelte und den Marmorarm zu der Marmorkrempe seines Federhuts erhob.

      Das wettergepeitschte Standbild des reitenden Königs mit der Andeutung einer grüßenden Gebärde schien den politischen Veränderungen, die es sogar seines Namens beraubt hatten, mit unergründlichem Gleichmut die Stirne zu bieten; doch auch der andere Reiter, dem Volke wohlbekannt und sehr lebendig auf seinem schieferfarbenen Tier mit weißem Auge, auch er trug sein Herz durchaus nicht offen auf dem Umschlag seines englischen Rocks. Er bewahrte sein inneres Gleichgewicht, als fände er immer noch seinen Ruhepunkt in der leidenschaftslosen Beständigkeit des privaten und öffentlichen Herkommens in der europäischen Heimat. Er blieb gleich unbewegt vor der aufreizenden Art, in der die Damen von Sulaco ihre Gesichter mit Perlpuder bestäubten, bis sie wie Gipsmasken mit herrlich lebendigen Augen aussahen, wie vor dem Stadtklatsch und den ewigen politischen Umwälzungen, den unaufhörlichen »Rettungen des Landes«, die seiner Frau als ein dummes, blutiges Spiel voll Mord und Raub erschienen, mit furchtbarem Ernst von entarteten Kindern gespielt. In den ersten Tagen ihres Daseins in Costaguana pflegte die kleine Dame verzweifelt die Hände zu ringen, weil sie sich außerstande sah, die öffentlichen Angelegenheiten des Landes so ernst zu nehmen, wie die gelegentliche Grausamkeit der Begleitumstände es verlangte. Sie sah darin eine Komödie leeren Wahns, doch kaum etwas Echtes, außer ihrer eigenen sprachlosen Entrüstung. Charles, der in aller Ruhe seinen langen Schnurrbart drehte, pflegte jedes Gespräch über den Gegenstand abzulehnen. Nur einmal sagte er ihr, in aller Freundlichkeit:

      »Meine Liebe, du scheinst zu vergessen, daß ich hier geboren bin.«

      Diese wenigen Worte brachten sie zum Schweigen, als hätten sie eine plötzliche Offenbarung bedeutet. Vielleicht machte ja die bloße Tatsache, im Lande geboren zu sein, einen Unterschied. Sie hatte von jeher das größte Vertrauen zu ihrem Gatten. Er hatte zunächst durch seinen völligen Mangel an Sentimentalität ihre Einbildungskraft gereizt, durch eben die Gemütsruhe, die sie in Gedanken als ein Zeichen besonderer Lebenstüchtigkeit gedeutet hatte. Don José Avellanos, ihr Nachbar von jenseits der Straße, ein Staatsmann, Dichter, Mann von Bildung, der sein Land an verschiedenen europäischen Höfen vertreten (und als Staatsgefangener zur Zeit des Tyrannen Guzman


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