Nostromo. Joseph Conrad
gekocht.
Später, in Italien, war er mit dem Rang eines Leutnants im Gefolge mitgeritten und hatte immer noch für den General gekocht. Er hatte für ihn in der Lombardei während des ganzen Feldzuges gekocht. Auf dem ganzen Marsch nach Rom hatte er sich die Rinder in der Campagna nach amerikanischer Art mit dem Lasso eingefangen. Er war bei der Verteidigung der römischen Republik verwundet worden, war einer der vier Flüchtlinge gewesen, die mit dem General den leblosen Körper der Gattin des Generals aus den Wäldern in das Bauernhaus getragen hatten, wo sie starb, aufgebraucht von den Härten des furchtbaren Rückzugs. Er hatte diese grauenvolle Zeit überlebt, um seinem General in Palermo zu dienen, als die Neapolitaner Granaten aus dem Kastell auf die Stadt niederkrachten. Er hatte für ihn auf dem Schlachtfeld von Volturno gekocht, nachdem er den ganzen Tag gekämpft hatte – und überall hatte er Engländer in den ersten Reihen der Freiheitsarmee gesehen. Ihre Gräfinnen und Prinzessinnen hatten in London des Generals Hände geküßt, hieß es. Er glaubte es gerne; denn die Nation war edelmütig, und der Mann ein Heiliger. Man brauchte nur einmal in sein Gesicht zu sehen, um die göttliche Macht des Glaubens in ihm zu erkennen und sein großes Mitleid für alles in dieser Welt, was arm, leidend und bedrückt war.
Der Geist des Selbstvergessens, die schlichte Hingabe an eine allumfassende Menschlichkeit, die das Denken und Wirken jener Revolutionszeit beseelten, hatten ihre Spuren in Giorgio zurückgelassen, in einer Art erhabener Verachtung für alle persönlichen Vorteile. Dieser Mann, den die niedersten Schichten von Sulaco im Verdacht hatten, einen Schatz unter dem Küchenboden vergraben zu haben, hatte sein ganzes Leben lang das Geld verachtet. Die Führer seiner Jugend hatten arm gelebt, waren arm gestorben. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, an kein Morgen zu denken; das rührte zum Teil von seinem Leben in steter Aufregung her, voll Abenteuer und wilder Kämpfe. In der Hauptsache aber war es eine grundsätzliche Einstellung und hatte nichts zu tun mit der Sorglosigkeit des Kondottiere; es war ein Puritanismus der Lebensführung, aus reiner Begeisterung geboren, wie der religiöse Puritanismus.
Diese völlige Hingabe an eine Sache hatte einen Schatten über Giorgios alte Tage geworfen; einen Schatten, denn die Sache schien verloren. Zuviel Könige und Kaiser lebten noch in der Welt, die Gott dem Volke zugedacht hatte. Der alte Giorgio in seiner Herzenseinfalt trauerte. Obwohl immer bereit, seinen Landsleuten zu helfen, und hochgeachtet von den italienischen Auswanderern, wo immer er auch lebte (in seiner Verbannung, nannte er es), konnte er sich doch nicht verhehlen, daß sie sich keinen Deut um die Pein der niedergetretenen Völker kümmerten. Sie hörten willig seinen Kriegsgeschichten zu, schienen sich aber zu fragen, was er denn schließlich von alledem gehabt habe. Es war nichts da, was sie sehen konnten. »Wir verlangten nichts, wir litten um die Liebe für die ganze Menschheit!« schrie er manchmal wütend, und die mächtige Stimme, die blitzenden Augen, die fliegende, weiße Mähne, die braune, sehnige Hand, die aufwärts wies, als wollte sie den Himmel zum Zeugen anrufen, verfehlten ihren Eindruck auf die Hörer nicht. Nachdem der alte Mann jäh verstummt war, mit einem Kopfschütteln und einer Armbewegung, die deutlich genug sagte: »Doch welchen Wert sollte es haben, euch davon zu erzählen?« – nickten sie einander zu. In dem alten Giorgio steckte eine Gefühlsstärke, eine persönliche Überzeugungskraft, etwas, das sie »terribilità« nannten. »Ein alter Löwe«, pflegten sie von ihm zu sagen. Ein kleiner Zwischenfall, ein Zufallswort konnten ihn dazu bringen, den italienischen Fischern an der Küste von Maldonado eine Rede zu halten oder in einem kleinen Laden, den er später in Valparaiso hielt, den Landsleuten unter seinen Kunden; oder plötzlich einmal, abends, im Café am einen Ende der Casa Viola (das andere war den englischen Ingenieuren vorbehalten), der ausgesuchten Clientèle aus Maschinenführern und Eisenbahnvorarbeitern.
Mit ihren schönen, bronzefarbenen, schmalen Gesichtern, glänzend schwarzen Locken, glitzernden Augen, mit Barten über der breiten Brust, manchmal mit einem schmalen Goldring im Ohrläppchen, hörte die Aristokratie des Bahnbaus dem Alten zu und ließ die Karten und das Domino im Stich. Da und dort studierte ein blondhaariger Baske seine Karten und wartete ohne Widerrede. Kein Eingeborner von Costaguana drang dort ein. Es war die italienische Hochburg; sogar die Schutzleute von Sulaco, auf Nachtpatrouille, ließen ihre Pferde langsam vorbeigehen und bogen sich in den Sätteln vor, um durch das Fenster einen Blick auf die in Rauchwolken schwimmenden Köpfe zu werfen; und das Dröhnen der wuchtig erzählenden Stimme des alten Giorgio schien sich hinter ihnen in der Ebene zu verlieren. Nur ab und zu tauchte der Assistent des Polizeipräsidenten auf, irgendein dunkelhäutiger, kleiner Herr mit breitem Gesicht und einem gut Teil Indianerblut. Der ließ dann wohl den begleitenden Schutzmann mit den Pferden vor der Türe, trat mit einem vertraulichen, schlauen Lächeln ein und ging ohne ein Wort bis zu dem langen Schenktisch. Dort zeigte er auf eine der Flaschen im Regal; der alte Giorgio klemmte sich die Pfeife zwischen die Zähne und bediente ihn eigenhändig. Außer dem leisen Klingeln der Sporen war nichts zu hören. Hatte er sein Glas geleert, dann warf der Beamte wohl noch einen langsamen, forschenden Blick durch den Raum, ging hinaus und ritt gemächlich der Stadt zu.
5
Einzig auf diese Weise machte die örtliche Obrigkeit ihre Autorität unter der geschlossenen Masse der starkgliedrigen Fremden geltend, die die Erde umgruben, die Felsen sprengten und die Maschinen führten – alles für das »fortschrittliche und patriotische Unternehmen«. Mit eben diesen Worten hatte achtzehn Monate zuvor der Eccellentissimo Senor Don Vincente Ribiera, der Diktator von Costaguana, in seiner großen Rede aus Anlaß des ersten Spatenstiches der Nationalen Zentralbahn gedacht.
Er war eigens nach Sulaco gekommen, und nach der Feierlichkeit an Land hatte die O. S. N. Kompagnie an Bord der Juno ein großes Mittagessen gegeben, ein Convité. Kapitän Mitchell hatte persönlich den Leichter gesteuert, der, reich mit Flaggen geschmückt, im Schlepptau der Dampfbarkasse der Juno den Eccellentissimo von der Landungsbrücke zum Schiff gebracht hatte. Jedermann von einigem Ansehen in Sulaco war geladen gewesen – die ein oder zwei fremden Kaufleute, alle Vertreter der alten spanischen Familien, die sich in der Stadt aufhielten, die Großgrundbesitzer von der Ebene, ernste, artige Biedermänner, Caballeros von reiner Abstammung, mit kleinen Händen und Füßen, konservativ, gastfrei und gütig. Die Westliche Provinz war ihre Hochburg: ihre Blanco-Partei hatte gesiegt, es war ihr Präsident-Diktator, ein Blanco unter den Blancos, der da höflich lächelnd zwischen den Vertretern zweier befreundeter fremder Mächte saß. Die waren mit ihm von Sta. Marta gekommen, um durch ihre Gegenwart das Unternehmen zu ehren, an dem das Kapital ihrer Länder beteiligt war. Die einzige Dame in der Gesellschaft war Frau Gould, die Gattin von Don Charles Gould, dem Administrator der San-Tomé-Silbermine. Die Damen von Sulaco waren nicht fortschrittlich genug, um in diesem Maße am öffentlichen Leben teilzunehmen. Sie hatten sich an dem großen Ball in der Intendancia, am Abend zuvor, stark beteiligt; doch Frau Gould allein, ein lichter Fleck in der Gruppe von schwarzen Gehröcken hinter dem Präsidenten-Diktator, war auf der mit rotem Tuch ausgeschlagenen Tribüne erschienen, die unter einem schattigen Baum am Hafenkai errichtet worden war und wo der feierliche erste Spatenstich stattgefunden hatte. Sie war auch mit all den Honoratioren in den Leichter gestiegen und war unter dem Flattern bunter Flaggen auf dem Ehrenplatz neben Kapitän Mitchell gesessen, der steuerte; ihr helles Kleid brachte die einzige wahrhaft festliche Note in die düstere Versammlung in dem langen Prunksalon der Juno.
Der Vorsitzende des Verwaltungsrats der Eisenbahngesellschaft (aus London), mit einem schönen Gesicht, das blaß aus der silbrigen Umrahmung des weißen Haares und eines gestutzten Barts leuchtete, neigte sich aufmerksam, lächelnd und müde ihr zu. Die Reise von London nach Sta. Marta, in Postdampfern, und die Spezialwagen auf der Küstenlinie von Sta. Marta (der einzigen Bahnlinie bis dahin) waren erträglich gewesen – ganz lustig sogar – wirklich erträglich. Die Reise über das Gebirge nach Sulaco aber, in einer alten Oberlandkutsche, über unwegsame Straßen, am Rand grausiger Abgründe hin – die natürlich hatte wesentliche andere Ansprüche gestellt.
»Wir haben zweimal an einem Tag hart am Rand sehr tiefer Schluchten umgeworfen«, erzählte er Frau Gould leise. »Und als wir schließlich hier ankamen, da weiß ich wirklich nicht, was wir ohne Ihre Gastfreundschaft angefangen hätten. Wie dieses Sulaco doch aus der Welt ist! – Und dabei ein Hafen! Erstaunlich!«
»Oh, aber wir sind sehr stolz darauf! Es hat in der Geschichte eine große Rolle