Nostromo. Joseph Conrad

Nostromo - Joseph Conrad


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trug ihm ein Abendmahl in einer Steinhütte auf, die ein hohler Felsblock schien, ohne Türe oder Fensterrahmen in ihren zwei Öffnungen; ein helles Feuer aus Holzprügeln (die mit Mulis vom ersten Tal heraufkamen) brannte draußen und warf seinen grellen Schein in die Hütte; und zwei Kerzen in zinnernen Leuchtern – ihm zu Ehren angezündet, wie ihm erklärt wurde – standen auf einem rohen Lagertisch, an dem er zur Rechten des Chefingenieurs saß. Er verstand es sehr wohl, liebenswürdig zu sein; und die jungen Herren des Ingenieurstabs, für die die Vermessung der Bahnlinie allen Glanz der ersten Schritte ins Leben hatte, saßen auch dabei, mit glatten, wettergebräunten Gesichtern, hörten bescheiden zu und schienen über solche Leutseligkeit bei einem so großen Mann höchlich erfreut.

      Nachher, spät in der Nacht, ging er draußen mit dem Chefingenieur auf und ab und hatte dabei mit ihm ein langes Gespräch. Er kannte ihn seit langem gut. Dies war nicht das erste Unternehmen, bei dem ihre Begabungen, so elementar verschieden wie Feuer und Wasser, zusammengearbeitet hatten. Aus der Verbindung dieser beiden Persönlichkeiten, die nicht die gleiche Weltanschauung hatten, war eine Macht für den Dienst der Welt entsprungen – eine gewaltige Kraft, die mächtige Maschinen in Bewegung setzen und in der Brust von Menschen schrankenlosen Opferwillen für die Aufgabe wecken konnte. Von den jungen Burschen am Tisch, denen die Vermessung der Bahn wie das Abstecken des eigenen Lebensweges erschien, würde wohl mehr als einer den Tod finden, bevor das Werk getan war. Doch das Werk würde getan werden: die Kraft würde fast so stark wie ein Glaube wirken. Nicht ganz so stark vielleicht. In der Stille des schlafenden Lagers, auf der mondbeschienenen Hochfl äche des Passes, die wie eine weite Arena zwischen den Basaltwällen der Steilwände lag, standen die beiden auf und ab wandelnden Gestalten in dicken Mänteln still, und die Stimme des Ingenieurs sprach deutlich die Worte:

      »Wir können keine Berge versetzen!«

      Sir John hob den Kopf, um der deutenden Hand des ändern zu folgen, und empfand die volle Kraft der Worte. Der weiße Higuerota schwebte im Mondlicht über den Schatten der Felsen und der Erde wie eine gefrorene Seifenblase. Alles war still, bis nahebei, hinter dem kreisförmigen Wall eines Korrals für die Packtiere des Lagers, der aus losen Steinen getürmt war, ein Mulo stampfte und zweimal laut schnaubte.

      Der Chefingenieur hatte den Satz als Antwort auf die versuchsweise Anregung Sir Johns gesprochen, die Linie könnte vielleicht verlegt werden, um dem Widerstand der Grundeigentümer von Sulaco auszuweichen. Der Chefingenieur hielt die Hartnäckigkeit der Menschen für das geringere Hindernis. Überdies war zu deren Bekämpfung auch der große Einfluß von Charles Gould da, während der Bau eines Tunnels unter dem Higuerota ein ganz ungeheures Unternehmen darstellte.

      »O ja! Gould! Was für ein Mann ist das?«

      Sir John hatte in Sta. Marta viel von Charles Gould gehört und wünschte mehr zu wissen. Der Chefingenieur versicherte ihm, daß der Administrator der San-Tomé-Silbermine den größten Einfluß auf all diese spanischen Dons habe. Er besitze desgleichen eines der besten Häuser in Sulaco, und die Gastfreundschaft der Goulds sei über jedes Lob erhaben.

      »Sie haben mich aufgenommen, als hätten sie mich seit Jahren gekannt«, sagte er. »Die kleine Dame ist die Güte in Person. Ich habe einen Monat lang bei ihnen gewohnt. Er half mir bei der Zusammenstellung der Vermessungsabteilungen. Sein tatsächliches Eigentumsrecht an der San-Tomé-Silbermine gibt ihm eine besondere Stellung. Er scheint ganz offenbar das Ohr jeder einzelnen Provinzbehörde zu besitzen, und wie ich Ihnen schon sagte, kann er alle die Hidalgos der Provinz um den kleinen Finger wickeln. Wenn Sie seinem Rat folgen, werden die Schwierigkeiten entfallen, denn er wünscht die Bahn. Natürlich müssen Sie mit Ihren Worten vorsichtig sein. Das Haus Holroyd ist mit ihm an der Mine beteiligt, und da können Sie sich ja vorstellen...«

      Er unterbrach sich, denn vor einem der kleinen Feuer, die längs der niederen Korralmauer brannten, richtete sich ein Mann auf, bis zum Halse in seinen Poncho gehüllt. Der Sattel, den er als Kissen benutzt hatte, erschien als dunkler Fleck vor dem rotglühenden Aschenhaufen

      »Ich werde auf dem Rückweg durch die Staaten Holroyd selbst sehen«, sagte Sir John. »Ich habe festgestellt, daß auch er die Bahn wünscht.«

      Der Mann, der, vielleicht durch die nahen Stimmen aufgestört, sich vom Boden erhoben hatte, rieb ein Streichholz an, um sich eine Zigarette anzuzünden. Die Flamme beleuchtete ein bronzefarbenes Gesicht mit schwarzem Backenbart, ein Paar scharf blickende Augen; dann wickelte er sich fester in seine Decke, sank der Länge nach wieder zurück und legte den Kopf auf den Sattel.

      »Das ist unser Lagermeister, den ich jetzt nach Sulaco zurückschicken muß, da wir mit der Vermessung ins Tal von Sta. Marta hinunterkommen«, sagte der Ingenieur. »Ein sehr brauchbarer Bursche, den mir Kapitän Mitchell von der O. S. N. Kompagnie geliehen hat. Sehr freundlich von Mitchell. Charles Gould sagte mir, ich könnte nichts Besseres tun, als das Anerbieten anzunehmen. Er scheint es zu verstehen, alle diese Maultiertreiber und Peons im Zaum zu halten. Wir hatten nicht die geringsten Anstände mit unseren Leuten. Er wird Ihre Postkutsche mit einigen unserer Eisenbahnpeons bis ganz nach Sulaco hinein begleiten. Die Straße ist schlecht, es kann Ihnen ein- oder zweimal Umwerfen ersparen, wenn Sie ihn bei sich haben. Er hat mir versprochen, Sie auf dem ganzen Weg wie seinen eigenen Vater zu behüten.«

      Dieser Lagermeister war der italienische Matrose, den alle Europäer in Sulaco, Kapitän Mitchells falschem Ausspruch folgend, Nostromo zu nennen gewohnt waren, und tatsächlich entledigte er sich, schweigsam und diensteifrig, an den schlechten Wegstellen ganz ausgezeichnet seiner Aufgabe, wie Sir John selbst nachher vor Frau Gould anerkennend hervorhob.

      6

      Zu jener Zeit war Nostromo schon lange genug im Lande gewesen, um in Kapitän Mitchell eine geradezu überspannte Bewertung seiner Entdeckung reifen zu lassen. Er war ja augenscheinlich einer jener unschätzbaren Untergebenen, deren Besitz zu einigem Stolz berechtigt. Kapitän Mitchell tat sich etwas zugute auf seine Menschenkenntnis – aber er war nicht selbstsüchtig – und begann bereits in aller Unschuld jene Manie zu entwickeln: »...will ihnen meinen Capataz de Cargadores leihen«, durch die Nostromo früher oder später in persönliche Berührung mit jedem einzelnen Europäer in Sulaco gebracht werden sollte, als etwas wie ein Allerwelts-Faktotum – ein Wunder an Verwendbarkeit in seiner eigenen Lebenssphäre.

      »Der Bursche ist mir blind ergeben, mit Leib und Seele!« konnte Kapitän Mitchell versichern, und wenn vielleicht auch niemand hätte erklären können, warum das der Fall sein sollte, so war es doch bei einiger Einsicht in ihre Beziehung unmöglich, die Behauptung in Zweifel zu ziehen – außer etwa für einen so verbitterten und verschrobenen Menschen wie Dr. Monygham, in dessen kurzem, hoffnungslosem Lachen eine grenzenlose Menschenverachtung mitklang. Nicht als ob Dr. Monygham mit diesem Lachen oder mit Worten verschwenderisch gewesen wäre. Er liebte in seinen besten Augenblicken ein grämliches Schweigen. In den schlimmeren Augenblicken fürchteten die Leute seinen erbarmungslosen Spott. Einzig Frau Gould vermochte seinen Unglauben an die menschlichen Beweggründe in gebührenden Grenzen zu halten; doch sogar ihr hatte er (bei einer Gelegenheit, die nichts mit Nostromo zu tun hatte, und in einem für seine Verhältnisse sogar liebenswürdigen Ton) einmal gesagt: »Es ist wirklich sehr unvernünftig, zu verlangen, daß ein Mann über andere soviel besser denken sollte, als er über sich selbst zu denken imstande ist.«

      Und Frau Gould hatte sich beeilt, den Gegenstand fallen zu lassen. Über den englischen Doktor liefen merkwürdige Gerüchte um. Vor Jahren, in den Zeiten Guzman Bentos, war er, so flüsterte man, in eine Verschwörung verwickelt gewesen, die verraten und, wie die Leute sich ausdrückten, in Blut ertränkt worden war. Sein Haar war grau geworden, sein bartloses, kränkelndes Gesicht ziegelfarben; das große Würfelmuster seines Flanellhemdes und sein alter, ausgebleichter Panamahut waren eine ständige Herausforderung an jeden gesellschaftlichen Brauch in Sulaco. Ohne die peinliche Sauberkeit seiner Kleidung hätte man ihn für einen der entwurzelten Europäer halten können, die fast überall in den Überseeländern für die Achtbarkeit der jeweiligen Landsmannschaften einen Dorn im Auge darstellen. Die jungen Damen von Sulaco, die mit einem Kranz anmutiger Gesichter die Balkone längs der Verfassungsstraße zierten, flüsterten einander zu, wenn sie ihn hinkend mit gesenktem Kopf vorübergehen sahen, eine


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