Der meergrüne Tod. Hans-Jürgen Setzer

Der meergrüne Tod - Hans-Jürgen Setzer


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mit anderen gelinge ihm kaum noch. So ähnlich hat er es, glaube ich, ausgedrückt.“

      „Hmm, das klingt ja nicht gerade wie der Brüller. Ist ja viel Negatives dabei. Wie sehen Sie das?“ Leon schaute skeptisch.

      „Ja, nach außen hin funktionieren die Kinder und Jugendlichen besser, aber sie stumpfen ab und entwickeln sich in ihren Erfahrungen und Gefühlen nicht so wie die Klassenkameraden.“ Jennifer Koch kämpfte wieder mit ihren Gefühlen und Tränen.

      „Wirklich schwierig zu sagen, was da richtig und falsch ist. Da haben Sie es als Mutter wirklich nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen.“ Leon konnte jetzt wirklich mitfühlen.

      „Ja, deshalb wollte ich das Zeug so schnell wie möglich wieder absetzen. Ich war hin- und hergerissen und bekam immer mehr Zweifel an der Richtigkeit der Medikation.“

      „Und wie ging es weiter? Nach dem Absetzen, meine ich.“

      „Er fühlte sich durch die Auffälligkeiten vorher und dann durch die Diagnose und die Behandlung sowieso immer anders als die anderen. Für sein Selbstwertgefühl pures Gift. Nach dem Absetzen wurde das dann eher schlimmer. Die anderen zogen sich immer weiter zurück. Es gab keine Freunde und später keine Freundinnen mehr, während die Klassenkameraden alle Spaß zu haben schienen. Erfolgserlebnisse blieben aus. Rückwirkend betrachtet, ist jetzt eigentlich klar, dass dies in eine Drogenproblematik führen musste. Ich würde heute sagen, er wurde nach dem Absetzen depressiv.“

      „Klingt ja wirklich katastrophal. Wurde denn vorher darüber aufgeklärt?“, fragte Leon.

      „Ach was. Die Pillen wurden völlig verharmlost, fast wie Bonbons und es hieß, es gäbe sowieso keine Alternative.“

      „Schlimm. So kann man nicht mit Menschen und erst recht nicht mit Kindern umgehen.“ Leon war fassungslos.

      „Tja, und dann hatte mein lieber Julian herausgefunden, dass die Medikamente in Drogenkreisen als Speed verkauft werden. Dreimal dürfen Sie raten, was er gemacht hatte. Und als es mir auffiel, war es zu spät. Ich mache mir solche Vorwürfe.“

      Die Nudeln und die Pizza kamen. Doch irgendwie war ihnen der Appetit vergangen. Sie stocherten ein wenig lustlos in ihrem Essen herum, sodass der freundliche Italiener ganz besorgt mit dem typisch italienischen Akzent fragte: „Ist alles in Ordnung? Schmeckt es Ihnen nicht?“

      „Doch, doch, alles in Ordnung. Wir hatten nur das falsche Thema und uns ist ein wenig der Appetit vergangen“, erwiderte Leon.

      „Soll ich es einpacken?“

      „Nein, der Hunger kommt sicher gleich wieder“, sagte Leon mit einem Lächeln.

      Der Ober ging ein wenig irritiert von dannen.

      „Hat Julian eigentlich gekauft oder verkauft?“

      „Gekauft und natürlich wurde ihm früher oder später gesagt, es gäbe da noch viel bessere Leckerlis.“ Jennifer Koch wurde wütend.

      „Wo hatte Julian das Zeug überhaupt her?“, fragte Leon nach einer kleinen Pause.

      „Wie gesagt, es wird als Speed oder Billig-Koks verkauft. Es sind sogar oft die jüngeren Schüler, die es auf Rezept bekommen und an die älteren auf dem Schulhof verkaufen. Und die härteren Sachen, die bringen die eigentlichen Dealer über Schülerboten an die Schulen.“

      „Auweia, das hätte ich genau anders herum erwartet“, sagte Leon. „Die Kleinen verkaufen also an die Großen. Wahnsinn.“

      „Wissen Sie, was auch ein Hammer ist? Inzwischen bin ich ja für das Thema sensibilisiert. Es gibt haufenweise Kinder, die von ihren Kindergärtnerinnen oder Lehrern über die Eltern gezwungen werden, Infantocalm zu nehmen, weil die Kinder so leichter zu handhaben sind. Infantocalm oder Rauswurf ist die Devise. Die Eltern werden also unter Druck gesetzt und die sehen sich genötigt, um nicht als Rabeneltern dazustehen, ihren Kindern Drogen zu verabreichen.“

      „Das gibt’s doch nicht.“ Leon schüttelte heftig seinen Kopf.

      „Leider, wir Erwachsenen machen es uns bequem, befriedigen unser Bedürfnis und stellen unsere Kinder ruhig. Deshalb hat es bei mir ja auch gewirkt. Erst heute sehe ich, dass es Alternativen gibt, über die niemand aufklärt.“

      „Und die wären?“, fragte Leon gespannt und gleichermaßen erwartungsvoll.

      „Es gibt Ansätze über eine gesunde Ernährung und Nahrungsergänzungen, die Wirkungen zeigen. Und natürlich auch Zuwendung, Spiele und Gespräche mit den Kindern. Andersherum gibt es keine vernünftigen Nachweise, dass schulische Leistungen unter Infantocalm wirklich besser oder die Ursachen der Reizüberflutung beseitigt werden. Sie werden nur unterdrückt.“

      „Wir müssen unbedingt in der Öffentlichkeit mehr Wirbel um das Thema machen. Eltern sollten das wissen, um ihre Kinder schützen zu können.“ Leon war erstaunt, über dieses Thema kaum etwas gehört oder gelesen zu haben.

      „Ja, in anderen Ländern wurde es verboten oder es gibt Protestbewegungen gegen Infantocalm. Deutschland schläft auf diesem Gebiet. Leider.“ Jennifer Koch redete sich in Rage.

      „Meinen Sie nicht, wir kriegen Julian doch noch einmal dazu, über seine persönlichen Eindrücke zu reden?“, fragte Leon.

      „Ich werde es versuchen, aber Sie haben ihn ja erlebt. Im richtigen Moment erwischt, geht es vielleicht. Er ist eigentlich ein ganz Lieber.“

      „Das glaube ich Ihnen. Rufen Sie mich einfach an, wenn er es sich vorstellen könnte. Hier ist noch mal mein Kärtchen.“

      „So, jetzt haben wir doch noch brav aufgegessen“, sagte Jennifer. Ihr schien es nach diesem Gespräch ein wenig besser zu gehen.

      Leon zahlte und sie gingen beide gemeinsam nach draußen.

      „Danke, Herr Walters, dass Sie sich des Themas annehmen werden und für das Essen. Das Gespräch mit Ihnen hat mir wirklich gutgetan. Wissen Sie, ich kann ja mit niemandem sonst darüber reden.“

      „Ich danke Ihnen für die Informationen. Wir werden jetzt sehen, was wir daraus machen können. Ich muss noch ein wenig weiter recherchieren. Ein paar Tage müssen Sie Geduld haben. Bei diesem Thema sollten wir gut aufpassen. Die Pharmaindustrie wird es sicher nicht mit Begeisterung aufnehmen, wenn wir versuchen werden, die Gegner von Infantocalm zusammenzubringen.“

      „Sie haben recht, Herr Walters. Danke nochmals. Einen schönen Tag noch.“

      „Den wünsche ich Ihnen ebenfalls.“ Er verabschiedete sich und sie gingen in entgegengesetzte Richtungen.

      Ein Unglück kommt selten allein

      Leon fuhr zurück in die Redaktion. Es wurde langsam Zeit, weiter über Infantocalm und den Hersteller Provita zu recherchieren. Er wollte versuchen, die persönlichen Erfahrungen von Jennifer Koch und Julian in einen Gesamtzusammenhang einzubetten. Wichtig wäre es vor allem, Erfahrungen anderer Kinder, Jugendlicher und deren Eltern mit dem Medikament und der Erkrankung kennenzulernen. Hierfür boten sich Internetforen geradezu an, dachte sich Leon.

      „Kriegt man von dir eigentlich einmal etwas in unserer Zeitung zu lesen?“, kritisierte der Kollege vom Sport.

      „Gute Artikel in meiner Kolumne brauchen halt ein wenig mehr Arbeit und Grips wie ein 0:2 der Koblenzer Fußballer“, antwortete Leon ein wenig verärgert. So langsam wurde der Kollege unverschämt und Leon fand ihn alles andere als lustig mit diesen bissigen Kommentaren. Ein weiterer Grund, weshalb er mittlerweile seine Zeit lieber außerhalb des Büros verbrachte. Wie sollte er sich hier konzentrieren, umgeben von diesen Pappnasen. Er wollte versuchen, wenigstens ein paar Stunden in der Woche präsent zu sein, um nicht allzu unangenehm aufzufallen. Der alte Paffrath passte schließlich auf wie ein Schießhund.

      „Sei mir nicht böse, Kollege, manche sind tatsächlich hier, um zu arbeiten. Ich muss mich auf einen schwierigen Artikel konzentrieren, muss hier leider noch ein paar Recherchen machen, bevor ich mich wieder in den Außendienst stürzen kann. Plaudern können wir gerne


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