Auf ihren Spuren. Sabine von der Wellen
und dem Geld erhalten hatte, ist mir mehr wert, als alles auf der Welt. Er ist für mich wie eine Verbindung zu ihr, die noch nach ihrem Tod besteht. Er gibt mir das Gefühl, dass ich sie noch nicht ganz verloren habe.
Aber dass sie ihn verfasste, erschreckt mich. Schließlich zeigt das, dass sie mit ihrem Tod rechnete. Wer tut das schon? Und ihre Bitte kann ich ihr nicht erfüllen. Wie soll man das auch können, wenn man plötzlich feststellt, dass die eigene Mutter ganz offensichtlich ein Jekyll and Hyde war.
Es ist jetzt fünf Monate her, als ich nach der Schule nach Hause kam und zwei Polizeibeamten an der Tür klingelten, bevor ich noch die Jacke ausziehen konnte.
Damit begann für mich ein rabenschwarzer Tag. Der schlimmste in meinem Leben.
„Joel Kammlagen?“
Ich hatte sofort ein schreckliches Gefühl, dass etwas passiert war.
Noch heute wundere ich mich darüber, dass mich da erst dieses Gefühl beschlich und nicht dreizehn Stunden zuvor, als Mama mich und die Erde verließ.
Ich habe einige Zeit damit verbracht zu ergründen, was ich in dem Moment getan habe, als sie starb und warum ich das nicht spürte. Naja, ich weiß nicht, ob ich nichts spürte. Ich habe geschlafen. Als meine Mutter sich aus meinem Leben stahl, lag ich in meinem Bett und habe einfach nur geschlafen.
Vielleicht träumte ich von ihr? Vielleicht war sie bei mir?
Nein, nicht nur vielleicht. Wenn ich etwas weiß, dann, dass sie auf alle Fälle bei mir war. Sie war bestimmt zu mir gekommen, hatte sich auf meine Bettkante gesetzt und mir die blonden Haare aus dem Gesicht gestrichen. Dann hatte sie mich mit diesem eigentümlichen Lächeln gemustert und mir leise zugeflüstert: „Joel, Licht meines Lebens. Ich muss gehen. Sei nicht traurig. Es wartet eine bessere Welt auf mich.“
Naja, das mit dem Licht ihres Lebens ist ein Spruch, den sie früher immer zu mir sagte. Das änderte sich, als ich älter wurde und durchaus einigen Unfug im Kopf hatte. Und das mit der besseren Welt … mittlerweile weiß ich, meine Mutter führte ein sprichwörtliches Doppelleben. Es gab die Cecilia für mich und eine für den Rest der Welt. Und irgendwie war letztere in einem Leben verwoben, dass sie zwar reich machte, aber bestimmt nicht glücklich. Zumindest will etwas in mir das denken. Alles andere würde heißen, dass sie nicht normal tickte.
Also, diese beiden Polizisten hatten die leidige Aufgabe, mich über den Tod meiner Mutter zu informieren. Sie hatte einen Unfall. Mitten in der Frankfurter Innenstadt war sie nachts um drei Uhr von einem Auto angefahren worden.
Sie war auf einer ihrer Geschäftsreisen und wollte am Samstag zurückkommen. Aber am Freitag, den zwölften April, lief sie nachts um drei Uhr irgendwo in Frankfurt durch die Innenstadt und wurde einfach von einem Auto umgefahren. Der Fahrer sagte, er hatte nicht damit gerechnet, dass sie plötzlich über die Straße laufen würde. Sie stand wohl auf dem Bürgersteig und telefonierte. Plötzlich war sie abgedreht und auf die Fahrbahn gelaufen … direkt vor das Auto, dass sie voll erwischte. Und als wenn das nicht schon gereicht hätte, wurde sie an eine der Laternen geschleudert und brach sich das Genick. Sie war sofort tot.
Da es ganz klar ein Unfall war, der sogar von einer Kamera eines Geschäfts aufgezeichnet wurde, erfolgten keine Nachforschungen von Polizeiseite. Nur von mir. Ich fuhr sogar im Juli zu dem Typ, der sie getötet hat und er beteuerte auch vor mir, dass es ein Unfall war, den er nicht verhindern konnte. Auf meine Frage, ob er meine Mutter kannte, reagierte er ziemlich perplex und verneinte. Zu perplex, als dass ich ihm das nicht abkaufte. Ich wollte auch nur erfahren, ob er einer der Leute war, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Geschäftlich zu tun.
Aber er war nur ein unbescholtener Bürger, der von seiner Schicht kam und nach Hause wollte und dem meine Mutter, nach einem Telefongespräch mit irgendwem, völlig hirnlos vor das Auto gesprungen war. So zumindest stelle ich mir das vor.
Und sorry, aber da kann doch keiner verlangen, dass man sich darüber keine Gedanken macht. Mit wem hat sie telefoniert? Warum telefonierte sie überhaupt nachts um drei und lief danach kopflos auf die Straße? Was machte sie um die Zeit dort? Warum war sie überhaupt in Frankfurt?
Ein Geheimnis jagt das nächste und Fragen türmen sich mittlerweile so hoch wie der Mount Everest vor mir auf.
Es klopft an meine Zimmertür und ich schrecke zusammen. Ich sitze an dem Schreibtisch meiner Mutter und sinniere mal wieder über all das nach, was mich seit Monaten beschäftigt.
Ohne auf eine Antwort zu warten, wird die Tür aufgestoßen und ein blonder, kinnlanger Pagenschnitt schiebt sich in den Türspalt. Katjas haselnussbraune Augen sehen mich an und ihr schmaler Mund schickt mir ein Lächeln in den Raum, das Wüstensand in Glas verwandeln kann.
Katja ist schön und deshalb wohl bei uns. Timo schleppte sie vor ein paar Wochen an. Ich weiß nicht mal, wo er sie aufgegabelt hat. Er meinte nur, sie wäre eine arme, streunende Katze ohne Zuhause.
„Joel, magst du mitessen? Ich habe gekocht.“
Auch wenn Katja wirklich eine Augenweide ist, so ist sie ansonsten wenig nützlich. Wenn sie kocht ist das Essen wie Russisch Roulette – jeder Bissen kann tödlich sein.
Aber wer kann diesem Lächeln wiederstehen und vor allem seinen hungrigen Magen ignorieren?
Katja wohnt zwar hier, aber ich weiß manchmal nicht genau in welchem Zimmer. Manchmal kommt sie aus ihrem, manchmal aus Timos. Ein paar Mal lag sie auf dem Sofa und schlief. Einmal habe ich sie mir da genauer angesehen …
Ja, sie ist wirklich süß. Aber für mich sind Mädchen noch etwas, was mich irgendwie anzieht und dennoch schrecklich verunsichert. Meine Erfahrungen mit ihnen halten sich in Grenzen und waren bisher eher abschreckend.
Timo ist da anders. Er ist zwar mein Cousin, aber wir ähneln uns überhaupt nicht. Nicht mal im Aussehen. Er ist groß, dünn, hat blonde, glatte Haare und schwarze Augen, wie seine Mutter. Als einziger der Familie. Seine Geschwister haben die blauen Augen meines Onkels.
Ich bin einen halben Kopf kleiner als er, habe aber in der letzten Zeit zugelegt.
Vielleicht liegt es an meinem fleißigen Gebrauch unserer Trainingsgeräte, die Mama damals kaufte, um sich fit zu halten und die wir mit in diese Wohnung nahmen. Erst fanden sie noch Platz in dem freien Zimmer, mussten dann aber nach Katjas Einzug weichen. Seitdem hat Timo die Hantelbank in seinem Zimmer und das große Trainingsmodul steht an der Balkontür neben dem Fernseher.
Natürlich benutzte ich sie damals schon. Aber erst jetzt entfaltet sich offenbar mein Potenzial an Muskelmasse. Außerdem habe ich die dichten, blonden, welligen Haare meiner Mutter geerbt, die Timo, trotz gleichem Genpool, nicht abbekam … und braune Augen, die von meinem Erzeuger stammen müssen.
Klar, Timo sieht gut aus und Katja steht auf ihn. Allerdings sah ich sie auch schon aus Manuels Zimmer kommen, was mich wirklich irritierte.
Mich verschonte sie bisher. Ich denke, ich bin ihr zu jung. Sie ist neunzehn und sogar drei Monate älter als Timo. Manuel ist schon zwanzig, mindestens genauso groß wie Timo, aber doppelt so breit. Deshalb hätte ich nicht gedacht, dass Katja sich auch an ihn heranmachen würde. Aber wer weiß schon, was sie in seinem Zimmer wollte.
Ich schließe die Seite, die ich an meinem PC geöffnet hatte, weil ich eigentlich etwas für die Schule tun wollte und murmele: „Ich komme.“ Dabei schiebe ich mich mit dem dicken Lederschreibtischstuhl von dem massiven Schreibtisch weg, der so monströs ist, dass ich gar nicht weiß, wie die ihn damals hier hineinbekommen haben. Die Tür erscheint mir viel zu klein und der Fahrstuhl ist es definitiv auch. Vielleicht haben sie ihn hier zusammengebaut. Und wer? Wer hat Mama das Ganze eingerichtet? Das ist eine Frage, die ich mir noch nicht beantworten konnte. Wer hat Mama die zwei großen Schränke aufgestellt, die eine ganze Wand einnehmen, das Sofa hier hineingeschleppt und das große schwarze Bett in die Nische eingebaut? Selbst die zwei Matratzen sind so dick, dass man sie kaum tragen kann. Ich hatte sie einmal angehoben, als ich auf der Suche nach weiteren Verstecken war. Aber es gibt nur das nicht zu öffnende in dem Schrank, in dem sich auch alles andere Erschreckende befand, dass meine Mutter hier gebunkert hatte. Offensichtlich wollte sie nicht, dass