Auf ihren Spuren. Sabine von der Wellen
den Raum betrat, sah ich die Nische mit dem Bett, das durchwühlt war, als hätte darin noch vor Kurzem jemand geschlafen. Und über allem lag Mamas Parfüm, dass sie immer großzügig aufgetragen hatte, wenn sie zur Arbeit oder sonst wohin ging. Es schwebte beständig durch unsere alte Wohnung wie eine undurchdringbare Dunstwolke. Dass meine Klamotten diesen Geruch annehmen könnten, beunruhigte mich mit zunehmendem Alter. Deshalb trat ich dem süßlichen Gestank mit einer maskulinen Duftnote und Zigarettenqualm entgegen. Als Cecilia sich darüber aufregte, dass ich in meinem Zimmer rauche, konterte ich, dass sie erstens auch raucht und ich zweitens somit diesen süßen Duft entgegensteuere, der penetrant alles verseuchte.
Wir stritten uns um so viele Kleinigkeiten und um so viel Unnützes. Dabei gab es so viel, um was wir uns wirklich hätten streiten können. Zum Bespiel ihrem Lebenswandel, den sie so akribisch vor mir verbarg und dem Umstand, dass sie eine Penthousewohnung besaß. Mal ganz zu schweigen von den vielen Lügen, die sie mir immer aufgetischt hatte.
Und genau auf die traf ich in diesem Zimmer.
Auf dem Fußboden fand ich Wäsche und einige vollgezeichnete Blätter. Genau solche Zettel hingen auch an der Wand über dem Schreibtisch. Sie zeigen Orte oder Szenen mit Strichmännchen an.
Mama war kein Maler. Überhaupt nicht. Das sah man.
Ich hob völlig perplex ein Wäschestück auf, auf das ich sonst getreten wäre. Es war ein Pullover meiner Mutter, den ich kannte. Alle anderen Wäschestücke, die ich aufsammelte, kannte ich nicht. Es sah so aus, als hätte sich hier jemand eilig angezogen und dabei alles Mögliche ausprobiert. Von Unterwäsche über zusammengeknuddelten Netzstrümpfe, Strapse, ein schwarzer Rock aus Plastik oder Gummi, ein anderer aus Spitze, Schnürkorsetts in verschiedenen Farben und Ausführungen und eine Maske mit Verzierungen und Federn lagen auf dem Boden verstreut und erinnerte mich an Utensilien, die ich in diversen Pornos gesehen hatte.
Ich wusste in dem Moment, dass ich der anderen Cecilia noch ein weiteres Stück mehr auf die Schliche gekommen war. Der Cecilia, die auch ein Stück weit in unserer alten Wohnung gelebt hatte. Auch dort war ich ihr nach ihrem Tod schon begegnet.
Als mein Onkel Andreas, meine Cousins Timo und Martin und eine Umzugsfirma die Wohnung ausräumen wollten, hatte ich mir ein Herz genommen und hatte Mamas Zimmer in Angriff genommen. Bis dahin hatte ich nur viele Stunden in ihrem Bett gelegen und versucht zu erfassen, dass sie nicht mehr zurückkommt. Doch da musste ich mich entscheiden, was ich von ihr behalten wollte. Onkel Andreas hatte mir drei Kisten zugestanden und ich hatte mir die größten der Umzugskartons herausgesucht und mich in Cecilias Zimmer eingeschlossen. Alle Kleider, Röcke, Jeans, Pullover, Blusen, die mir einen bestimmten Erkennungswert an schöne Zeiten gaben, legte ich zusammen und verstaute sie in einer Kiste. Auch ihren heißgeliebten alten Mantel und ihre Stiefel und Puschen. Auch dort gab es Unterwäsche, die mich schwer Schlucken ließ und die bei mir die Frage aufkommen ließ, wann Mama so etwas getragen hat.
Ich packte auch einige Bücher ein, zwischen denen ich auf ein A5 Heft stieß, wie wir sie in der Schule haben. Das machte mich natürlich neugierig und ich sah hinein. Es gab eine Überschrift mit einer Geschichte, die über vier Seiten ging. Dann folgte eine weitere Überschrift mit erneuten drei Seiten und so weiter. Sie waren in Mamas feinsäuberlicher Schrift geschrieben.
Ich wusste bis dahin nicht, dass Mama überhaupt Geschichten schrieb. Es gab dazwischen gefaltete Dina 4 Blätter, die von einem PC stammten und ausgedruckt worden waren. Ich dachte, dass das alles ein kleines Sammelsurium netter Kurzgeschichten ist und nahm mir vor, sie irgendwann zu lesen.
Mittlerweile hoffe ich, sie stammen alle von jemand anderem. Denn die Geschichten darin können einem schlaflose Nächte bereiten. Darum dürfen sie niemanden in die Hände fallen.
Auch ihren Schmuckkasten, ihr Parfüm und ihre Schminksachen … alles behielt ich. Die CDs mit ihrer Musik und mit unseren Fotos und Videos, ihren kleinen Koffer mit Erinnerungen, die wohl aus ihrer Kindheit stammen und alles, was mich an sie erinnert, packte ich auch ein. Der restliche Hausstand wurde sowieso verpackt, sowie die Möbel. All das lagerte Onkel Andreas in einem Teil seiner Halle ein. Nur meine drei Kisten klebte ich mir ans Bein. Sie gingen, wohin ich ging und waren mit fast einer ganzen Rolle Paketkleber verklebt gewesen, damit niemand sie öffnen konnte.
Tatsächlich öffnete ich sie erst, als ich in diese Wohnung zog. Dass ich hierherziehen würde, stand für mich in dem Moment fest, als ich diese Wohnung das erste Mal betrat und Mamas zweites Leben vorgefunden hatte.
Ende Juli war es dann soweit. Da Timo ab September etwas zum Schlafen in der Stadt brauchte, willigte Onkel Andreas ein, dass wir meine Penthousewohnung beziehen durften. Ich allerdings nur mit der Auflage, dass ich mich vorbildlich benehme, immer brav zur Schule gehe und er keinen Ärger wegen uns bekommt. Somit riefen wir unsere WG ins Leben, der Manuel sich anschloss.
Die Möbel aus unserer alten Wohnung wurden wieder aus der Versenkung geholt und unser neues Domizil damit eingerichtet. So veränderten sich die Räume im Nu. Nur Mamas Zimmer blieb wie es war.
Mein Onkel war nicht so erstaunt wie ich, dass Cecilia die Wohnung genutzt hatte. Ich weiß nicht, ob er mehr über das weiß, was meine Mutter dort getrieben hat. Er war immer sehr kurz angebunden, wenn ich versuchte, mehr aus ihm herauszuquetschen. Er sprach auch erst wirklich von ihr, als wir uns in unserem Urlaub etwas mehr annäherten.
Um uns von dem Tod meiner Mutter zu erholen, buchte mein Onkel in den Sommerferien für uns alle eine Finka auf Mallorca. Vier Wochen verbrachten wir dort und das hat uns als Familie ein wenig mehr zusammengeschweißt. Ich hatte nie viel mit Onkel Andreas zu tun gehabt. Nur mit meinen Cousins und meiner Cousine und meiner Tante, die aber vor einigen Jahren mit einem von Onkel Andreas Bauarbeitern durchbrannte. Das war im selben Jahr, als auch Oma und Opa starben. Ich glaube, da hatte meine Mutter mir das mit dem - selbstverantwortlich für sein Schicksal sein – erzählt und dass man diese alten Resonanzen aus anderen Leben aufarbeiten muss.
Die Geschichten, die mein Onkel mir von sich und Cecilia erzählte, gaben mir ein Bild einer glücklichen Kindheit. Zumindest solange, wie mein Onkel noch zuhause lebte. Meine Mutter war zwölf, als er auszog und in die Lehre ging. Deshalb hatte er auch nicht viel aus ihrer späteren Jugendzeit zu berichten … oder er wollte es nicht.
Nach dem Urlaub war das Verhältnis zwischen mir und meinem Onkel allerdings fast schon freundschaftlich und uns hatte die gemeinsame Zeit ein Stück weit Mamas Tod verkraften lassen. Darum ließ er uns das mit der WG in Angriff nehmen.
Ich hätte sowieso die Schule wechseln müssen und so suchte ich mir ein Gymnasium ganz in der Nähe der Wohnung und wurde dort in die elfte Klasse aufgenommen, weil mir zu viel Stoff wegen Mamas Tod fehlte und mein Zeugnis somit nicht das beste war. Am 3 August hatte ich dort meinen Einstand, muss aber sagen, dass mich alle für etwas eigenbrötlerisch halten. Aber ich habe auch zu viel mit dem zu kämpfen, was ich bisher herausfand.
Wenn man von dem Menschen, den man glaubte am besten zu kennen, plötzlich lauter verrückte Dinge erfährt, dann ist das schwer zu verkraften.
Das Prepaid Handy mit dem Sicherheitsprogramm war ja schon seltsam … und dass wir in einer Mietwohnung lebten, obwohl Mama eine Eigentumswohnung hatte. Dazu kommt der Tresor in der Altkleiderkiste, den ich bisher nicht knacken konnte. Mamas Unterwäschegeschmack war auch seltsam und dass sie auf Geschäftsreisen ging, obwohl sie doch angeblich nur das Internetcafe besaß. Gut, das mit den Geschäftsreisen hatten erst in den letzten drei Jahren begonnen. Ich war ja froh, dass ich dann sturmfreie Bude hatte und habe das nie hinterfragt. Wir waren viel zu beschäftigt damit, dann Partys zu feiern. Mein Freund Jonas war wirklich der Held in Partys organisieren. Ich hatte nicht mal ausgesprochen, dass Mama weg sein würde und er hing schon am Telefon und lud Leute ein.
Aber dann hatten wir einen heftigen Streit, weil er mit Marie in Mamas Zimmer geschlichen war und sie in ihrem Bett gevögelt hatte. Ausgerechnet das einzige Mädchen, dass ich gut fand und ausgerechnet das einzige Zimmer, dass niemand betreten durfte.
Ich war sowas von sauer, zumal Jonas wusste, dass ich das Mädchen mochte. Er meinte zwar, Marie war diejenige, die ihn in das Zimmer gezogen hatte und vernaschte. Aber das war mir egal. Jonas war für mich gestorben. Und Marie sowieso.