Rondaria. Alisha Mc Shaw
auf den zweiten Blick erkannte er, was Palina meinte. Das verschwommene Licht um ihre zierliche Gestalt schimmerte Violett. Er stutzte. Violett? Das konnte nicht sein! Sie war ein Mischling und diese Farbgebung total verkehrt. Orange müsste sie sein. Das Ergebnis der roten Aura eines Wandlers, kombiniert mit dem hellen Gelb einer Menschenfrau!
Aleyna blieb vor ihnen stehen. Die Königin hibbelte noch immer unruhig. So aufgeregt hatte er sie noch nie erlebt. Schweigend sah er dabei zu, wie die junge Frau Palina musterte, während sie seinen Blick offensichtlich mied. Doch er hatte andere Probleme. Er versuchte mit aller Kraft, den ungewollten Beschützerinstinkt zu unterdrücken, der in ihm aufstieg.
»Sie ... kommen wegen meines Vaters?«, fragte sie. Ihre Stimme war rau, sie hatte hörbar geweint.
Palina nickte, während er weiterhin schwieg. Aleynas Blick glitt an beiden vorbei zum Friedhof. Dort hatte der Bestatter inzwischen den Sarg ihres Vaters an der Grabstätte aufgebahrt und sich diskret entfernt. »Ich ... Eigentlich habe ich darum gebeten, dass niemand zum Friedhof kommt. Ich wollte ihn allein beerdigen.«
Noyan sah deutlich, wie erneut der Kummer in ihr hochstieg. »Das respektieren wir«, sagte er leise, aber nachdrücklich und ergriff Palinas Arm. »Wir kommen später wieder!«
Bei seinen Worten hob Aleyna den Blick und sah ihn überrascht an. »Danke«, flüsterte sie.
Er wollte Palina wegziehen, doch ihr sturer Blick ließ ihn ahnen, dass sie nicht ohne Weiteres gehen würde.
»Bitte, Aleyna«, sagte sie, und die Angesprochene blieb wie erstarrt stehen, ohne sich umzudrehen. »Ihr Vater ist ... Er war ein alter Freund von mir. Geben Sie mir nur fünf Minuten!«
Eine deutliche Veränderung ging mit Aleyna vor. Ihre Aura wurde dunkler und die Trauer wich eisiger Wut. Sie fuhr herum. Ihre Augen sprühten Funken.
»Mein Vater war also ein alter Freund von Ihnen, ja?«, fragte sie gefährlich ruhig und Noyan wurde nervös. Palina schien den Stimmungsumschwung jedoch nicht zu bemerken und nickte. Aleyna machte einen Schritt auf die Königin zu und er versteifte sich. Bereit, sofort einzugreifen, trat er ihr in den Weg. Sie sah zu ihm hoch, und er stellte erstaunt fest, dass sie keinerlei Angst vor ihm zu verspüren schien. Er überragte sie um mindestens einen Kopf, dennoch gab sie ihm mit ihrem finsteren Blick das Gefühl zu schrumpfen.
»Falls das wirklich der Fall ist, dann frage ich mich eins«, fauchte sie in Richtung Palina. »Wo zum Teufel waren Sie dann in den letzten Monaten? Wo waren Sie, als es ihm von Tag zu Tag schlechter ging? Wo waren Sie, als er damit begonnen hat, tagelang zu verschwinden? Wo, als ich stundenlang durch die Kälte gelaufen bin, um ihn zu suchen, wenn er wieder einfach abgehauen ist?« Aleynas Stimme überschlug sich, als sie sich an ihm vorbei drängte und vor Palina aufbaute. »Und wo, verdammt noch mal, wo waren Sie, als ich ihn zerkratzt und geschunden im Wald fand, einsam und allein erfroren, weil er nicht mehr Herr seiner Sinne war?« Mit jedem Satz, den Aleyna ihr entgegen feuerte, wurde Palina blasser.
Als sie den Mund öffnete, hob Aleyna die Hand und gebot ihr, zu schweigen. »Wagen Sie es ja nicht, noch einmal von Freundschaft zu reden!« Mit einem letzten Blick, der ihre gesamte Abscheu ausdrückte, wandte Aleyna sich um. Sie schluchzte auf und lief in Richtung der Gräber davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Palina machte Anstalten ihr nachzulaufen, doch Noyan hielt sie am Arm fest. »Warte.«
Die Königin sah ihn entrüstet an.
»Wenn du sie jetzt nicht in Ruhe lässt, dann wirst du gar nichts mehr erfahren!«, sagte er leise.
Palina versuchte, seine Hand zu lösen. »Noyan, ich muss ihr hinterher! Du hast es doch mit eigenen Augen gesehen. Hier geht es nicht mehr nur noch um ihren Vater. Sie ist es! Die Aura, nach der wir schon so lange suchen.«
»Im Moment ist sie vor allem hilflos und verzweifelt. Sie hat gerade ihren Vater verloren, verstehst du? Und so wie es aussieht, hat sie nicht die geringste Ahnung von dem, was ihn getötet hat. Ich hege den Verdacht, dass sie nicht einmal weiß, wer oder was ihr Vater in Wirklichkeit war!«
»Aber wir können sie doch jetzt nicht einfach gehen lassen!«, widersprach sie.
»Du warst gerade ziemlich unsensibel, um es vorsichtig auszudrücken.« Noch ehe sie dem erneut etwas entgegensetzen konnte, sagte er: »Lass mich versuchen, das zu regeln.« Sein Angebot überraschte ihn selbst und auch Palina musterte ihn erstaunt.
»Unsensibel? Das sagt mir ja der Richtige!«, schnaufte sie und seufzte dann resignierend. »Nun denn, Mister Sensibel, versuch dein Glück. Ich werde im angrenzenden Wald auf dich warten.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ließ ihn allein.
Erinnerungen
Konnte es wirklich sein, dass das Schicksal seines Volkes in den Händen einer Unwissenden lag?
Aleyna
Sie war vor dem Sarg ihres Vaters stehen geblieben und kauerte sich auf dem kalten Boden davor zusammen. Tränen liefen ihr über das Gesicht und doch kochte sie vor Wut über die Unverfrorenheit dieser Fremden. Wie konnte sie es wagen zu behaupten, eine Freundin gewesen zu sein? Erschrocken über die Intensität ihrer Gefühle hockte sie noch eine Weile vor dem Sarg und ließ ihre Antwort darauf Revue passieren. Jedes Wort hatte gestimmt.
Die letzten Monate im Leben ihres Vaters waren nicht leicht gewesen, für keinen von beiden. Das Schlimmste für Aleyna war, dass niemand ihr sagen konnte, woran ihr Vater gelitten hatte. Hilflos sah sie dabei zu, wie er zugrunde gegangen war. Die Wut über ihre Verzweiflung und die Unfähigkeit, ihm helfen zu können, hatten in ihrem Ausbruch der Fremden gegenüber ein Ventil gefunden. Fast tat Aleyna ihr Auftreten leid.
Aber nur fast.
Ihr Herz schmerzte beim Gedanken an ihren Vater und nicht zum ersten Mal seit seinem Tod wünschte sie sich, ihm mehr Fragen gestellt zu haben. Wie oft hatte sie ihn ertappt, wenn er auf der kleinen Veranda vor dem Haus gesessen und verloren in den Himmel gestarrt hatte? Eines Tages, so hatte er immer gesagt, würde er ihr viel zu erklären haben. Und jetzt konnte er das nicht mehr. Ihr drängte sich der Gedanke auf, dass das Auftauchen der beiden Fremden zu den Dingen gehörte, die ihr Vater eines Tages hatte berichten wollen. Aber das würde sie nie erfahren.
Gedankenversunken betrachtete sie das Grab. Damals, als ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater die Ruhestätte selbst gestaltet. Sie lag am Rand des kleinen Friedhofs, angrenzend an den Wald. Jetzt fand er seine letzte Ruhe neben ihr, dicht an den eng wachsenden Bäumen, die er so geliebt hatte. Aleyna schluckte. In der ersten Zeit nach dem Tod ihrer Mutter war sie ständig mit ihm in der freien Natur gewesen. Sie hatten in einem Dorf unmittelbar am Waldrand gewohnt, ganz in der Nähe ihrer Großmutter.
Doch dann war irgendetwas passiert, dass alles verändert hatte. Von einem auf den anderen Tag waren sie nicht mehr in den nahen Forst gegangen. Sie hatten die Hütte und das Dorf verlassen und waren in eine kleine Siedlung gezogen, weg vom Wald und ihrer Großmutter. Das einzig bleibende Zugeständnis an die vergangenen Tage war das Grab gewesen.
Sie sah auf. Aus dem Wald erklang auf einmal ein durchdringendes Brüllen - fast wie eine Warnung.
Erschrocken stolperte Aleyna rückwärts und landete unsanft auf ihrem Hinterteil. Ihre Augen suchten die eng stehenden Bäume ab, doch dort war nichts, das auf den Ursprung dieses Lauts hinwies. Wurde sie jetzt verrückt?
»Alles klar bei dir?«
Sie kam eilig auf die Beine, in der festen Erwartung, die beiden Fremden zu sehen. Doch vor ihr stand nur der Begleiter der Frau und betrachtete sie mit eigentümlicher Miene.
»Sie ist weg. Nicht ganz freiwillig, aber immerhin ist sie gegangen. Sie wird an einem anderen Tag wiederkommen«, sagte er.
»Von mir aus kann sie gern wegbleiben«, murmelte Aleyna und stellte überrascht fest, dass der Mundwinkel des Fremden amüsiert zuckte.
»Darf ich dir etwas zur Krankheit deines Vaters erzählen?«, fragte er plötzlich