Rondaria. Alisha Mc Shaw
sie als Anführerin, aber der eigentliche Anführer des Volkes war nun einmal das Alphatier. Und genau diese Tatsache war ein weiterer Grund, aus dem sie bezweifelte, dass ihr Ehemann tot war. »Wenn er wirklich tot ist, warum wurde dann noch kein neues Alphatier geboren?«
»Ich weiß es nicht.« Noyan setzte sich auf die Hinterpfoten und warf ihr einen bedauernden Blick zu. »Aber es liegt die Vermutung nahe, dass in der Prophezeiung auch dafür eine Erklärung enthalten ist. Wir haben sie nur noch nicht entschlüsselt. Es gibt so viele Fragen, auf die wir noch keine Antwort haben.«
Wie all ihre Vorhersagen war der Traum sehr verworren gewesen. Er sprach von Intrigen, Eifersucht und einer bösartigen Krankheit. Aber er wies auch auf Rettung hin. Ein Wesen mit violetter Aura sollte das Unglück zum Guten wenden. Palina wusste weder von einer solch schlimmen Krankheit, noch kannte sie ein Wesen, das eine solche Aura besaß, also wurde dem Traum nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Und dann war der Ausbruch der Seuche bemerkt und ein Teil der Vision zu erschreckender Wirklichkeit geworden.
»Du meinst, wir finden die Lösung für sein Verschwinden ebenso in meinem Traum wie den Hinweis auf die Krankheit?«, hakte sie nach und Noyan nickte.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis überhaupt bemerkt worden war, dass es ein Problem gab. Natürlich gab es Krankheiten in Rondaria, aber keine war so gewesen wie diese. Es hatte mit einigen wenigen Kranken begonnen. Die Seuche nahm einen langsamen und langwierigen Verlauf, und sie endete immer tödlich. Einen Grund für ihren Ausbruch konnten sie nicht finden, so sehr sie es auch versuchten.
»Es hat doch alles überhaupt erst mit seinem Verschwinden angefangen, oder?«, sinnierte sie nachdenklich.
»Wie kommst du darauf?«
Erst, als sie den erstaunten Ausruf von Noyan neben sich vernahm, wurde ihr bewusst, dass sie laut ausgesprochen hatte, worüber sie sie sich schon länger Gedanken machte.
Die Betroffenen wussten lange nicht einmal, dass sie krank waren. Das erste sichtbare Zeichen für deren Ausbruch war die Aura des Leidtragenden. Sie begann sich zu verändern, aus einem satten Rot wurde mit der Zeit trübes Grau. Nach und nach verloren die Gestaltwandler die Kontrolle über das ihnen innewohnende Tier und wurden unberechenbar - ein langer und grausamer Prozess für die Erkrankten.
»Es gäbe doch Aufzeichnungen in der großen Bibliothek darüber, wenn so etwas schon einmal vorgekommen wäre. Alles, was wir wissen, wissen wir aus der direkten Erfahrung heraus. Die Seuche bricht unterschiedlich schnell aus. Bei einigen nach wenigen Monaten, bei anderen wiederum dauert es Jahre.«
Seit dem Bekanntwerden der Krankheit gab es viel mehr Selbstmorde in Rondaria. Die Wandler hatten miterlebt, wie sich die Seuche entwickelte und kaum einer ertrug es, den Einfluss auf etwas zu verlieren, was ihnen von Kindesbeinen an gegeben war. Die meisten setzten ihrem Leben spätestens dann ein Ende, wenn der Kontrollverlust einsetzte.
Palinas Gedanken kehrten zu dem Mischlingsmädchen zurück. Sie hatte immer daran geglaubt, dass sie das Wesen mit der violetten Aura eines Tages finden würden.
Aber ... Aleyna?
Sie sollte die Rettung sein? Ein Mischling, der nicht einmal in Rondaria lebte, sondern von einem Wandler groß gezogen worden war, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte? Sollte sie tatsächlich all ihre Hoffnung in jemanden setzen, der so offensichtlich nichts Besonderes war?
Sie blickte zu Noyan. Er hatte sich auf dem Boden zusammengerollt und beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, zu sehen, was sich aus dem seltsamen Verhalten Noyans und dem Mädchen entwickeln würde.
»Nun denn!«, seufzte sie. »Ich werde es auf einen Versuch ankommen lassen.« Der junge Wolf rappelte sich hastig auf. »Ich kehre in den Hort zurück und werde dem Zirkel berichten, was wir entdeckt haben. Du hast eine Woche Zeit, das Mädchen nach Rondaria zu holen. Was wirst Du tun?« Sie sah ihn fragend an.
Noyan zögerte mit der Antwort. Es war offensichtlich, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was er tun sollte. Sie wusste, dass Noyan es gewöhnt war, mit Hilfe seiner Gabe zum Ziel zu kommen. An Aleyna aber war er gescheitert und das verwirrte ihn. Wie dem auch sei - er würde lernen müssen mit Niederlagen umzugehen. Und in diesem Fall musste eine Woche genügen, um einen anderen Weg zu finden als die Mediation. Die Zeit drängte. »Nun?«
Noyan wand sich unwohl. »Ich weiß es nicht!«, winselte er dann. »Aber ... mir wird etwas einfallen, in Ordnung?« Palina nickte, vorerst zufrieden.
»Sieben Tage, Noyan, vergiss das nicht!« Mit einem letzten, ermahnenden Blick musterte sie den Wolf, dann machte sie kehrt und verschwand im Wald.
Noyan
Er sah Palina hinterher und schluckte. Dabei war er sich durchaus darüber im Klaren, was es hieß, dass sie ihm eine Frist gesetzt hatte. Sollte er scheitern, würde sie garantiert zu drastischeren Mitteln greifen. Vermutlich würde die Königin die Garde, oder noch schlimmer, Chiron persönlich damit beauftragen, Aleyna nach Rondaria zu bringen. Es blieb ihm also wenig Zeit, sie zu überzeugen. Er ging noch einmal die Informationen durch, die er hatte und versuchte, diese mit dem, was Aleyna ihm erzählt hatte, zu kombinieren.
Er wusste, dass sie als Kind tatsächlich in Rondaria gelebt hatte, gemeinsam mit ihrem Vater. Doch dann hatte sich irgendetwas ereignet, was ihn dazu veranlasst hatte, den Kontakt zu seiner Heimatwelt abzubrechen. Leider wusste bislang keiner, was vorgefallen war. Es war vorher einfach nicht wichtig gewesen und jetzt war der Einzige, der alles aufklären konnte, tot.
Aleyna schien kaum Erinnerungen an ihre Zeit in Rondaria zu haben, oder sie verdrängte sie. Vielleicht war das sein Weg zum Erfolg. Es musste ihm gelingen, ihr die Kindheit wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sie schien empfänglich zu sein für Dinge, die ihren Vater betrafen. Es blieb ihm sowieso nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Die Worte der Königin hallten in seinem Kopf nach.
»Sieben Tage, Noyan. Vergiss das nicht!«
Annäherung?
»Also bist du das Schoßhündchen von Palina?«
Aleyna
Das Läuten der Türglocke riss sie unbarmherzig aus ihrem traumlosen Schlaf. Widerwillig öffnete sie die Augen und kehrte blinzelnd in die Wirklichkeit zurück. Draußen wurde es bereits dunkel. Schwerfällig erhob sie sich aus dem Bett und fischte nach ihren Pantoffeln. Die Müdigkeit hing bleiern in ihren Gliedern. Das war sicherlich eine Nachwirkung der Tablette, die sie vor dem Schlafen auf Anraten des Arztes hin genommen hatte.
Nachdem sie heute Vormittag in der kleinen Kapelle auf dem Friedhof wieder zu sich gekommen war, hatte der Bestatter sie nach Hause gefahren. Sie versuchte, ihm zu erklären, was passiert war. Als sie in ihrem Bericht bei dem Wolf angekommen war, hatte der Mann sie zweifelnd angesehen, etwas von einem »Schlag auf den Kopf« gemurmelt und darauf bestanden, einen Arzt zu rufen. Seufzend hatte sie nachgegeben, mit Doc Morrison telefoniert und um einen Hausbesuch gebeten. Er hatte ihren Vater behandelt, sie kannte ihn seit vielen Jahren und vertraute ihm.
Morrison hatte sich schweigend ihre Geschichte angehört, sie aber wenigstens nicht angesehen, als wären bei ihr einige Sicherungen durchgebrannt. Er hatte lediglich genickt und ihr, als er sich vergewissert hatte, dass mit ihr sonst alles in Ordnung war, ein Tablettenblister gereicht. »Ein leichtes Beruhigungsmittel«, erklärte er auf ihren misstrauischen Blick hin. »Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, und die kommenden Tage werden sicher auch noch an Ihren Nerven zerren. Da wird es Ihnen nicht schaden, wenn Sie etwas Schlaf bekommen.«
Aleyna mochte es nicht, Medikamente zu sich zu nehmen. In einer Zeit, in der alle Welt glaubte, mit Pillen jedes Wehwehchen heilen zu können, war sie durch die Krankheit ihres Vaters eines Besseren belehrt worden. Aber heute hatte sie nach einer Weile des schlaflosen Hin- und Herwälzens eingesehen, dass sie eine Ausnahme machen sollte. Die Trauer hatte sie Dinge sehen lassen, die einfach nicht real sein konnten. Vielleicht war sie viel früher in Ohnmacht gefallen, als