Final Game. Valuta Tomas
Mommy niemanden hätte, den sie liebhaben könnte. Dann wurden die Fragen deutlicher und Jean fragte nach einem Partner oder einer Partnerin für ihre Mutter. Und nach dieser Phase, faselte sie etwas davon, dass ihre Mutter einfach mal wieder flachgelegt werden müsste.
Bis zum heutigen Tag hat Sam nie jemanden an sich herangelassen. Weder mental noch körperlich. Sie ließ sich auf ein oder zwei nette Gespräche ein, aber sobald sie einen Annäherungsversuch witterte, zog sie sich zurück. Niemand sollte ihr zu nahekommen. Sam wollte keine Beziehung. Sie wollte niemanden … niemals und zu keiner Zeit in der sie atmete. Die Einzige die sie wollte war Neve … . Neve war der Mensch den sie wollte. Neve und sonst niemanden.
So wie sie ihre Frau auch heute noch will … heute an ihrem Todestag.
Jeans Hand auf ihrer Schulter zu spüren, gibt Sam auch heute wieder einmal die Stärke, um den Besuch am Grab zu überstehen.
Sams schimmernde Augen blicken auf den Grabstein. Wie jedes Jahr kann sie wegen den Tränen den Namen kaum entziffern. Sie weiß aber wessen Name dort steht. Einer der dort niemals stehen sollte. Ihr Name sollte dort stehen und nicht Neves. Nicht Neves.
Wie jedes Jahr hockt Sam vor dem Grab und ist froh darüber, dass dieses Grab mit Hingabe gepflegt wird. Man sieht es. Kein Unkraut wächst in der Nähe des Grabsteins. Kein Kalkfleck befindet sich auf dem teuren Marmor. Kein Dreck, kein Blatt, kein Ungeziefer. Das Grab sieht wie neu aus. Sam weiß wer das Grab pflegt. Jessica. Nur sie wird die nötige Kraft dafür haben, um Neve zu besuchen, ohne gleich den Verstand zu verlieren. Jessica, sonst niemand.
»Mama, como hemos observado alguien. ¿Quién es?« Jeans flüsternde Stimme reißt Sam aus ihren Gefühlen. Die Hand ihrer Tochter drückt sich vorsichtig in ihre Schulter. Langsam dreht sich Sam um. Benommen schaut sie hinter sich. Hitze steigt in ihr auf. Röte ziert ihr Gesicht. Das Herz beginnt wild zu schlagen.
Zaghaft nimmt Sam Jeans Hand und küsst sie flüchtig, während ihre Augen auf zwei farbigen Personen verweilen, die mehrere Meter entfernt von den beiden auf dem Friedhof stehen. Sie kann nicht glauben was sie sieht. Das ist unmöglich. Das ist absolut unmöglich … .
»Espérame aquí.« Sams Stimme ist kaum zu vernehmen. Sie ist Tränenuntersetzt.
Nur langsam wagt sich Sam auf den Weg zu den beiden Personen. Sie traut ihren Augen noch immer nicht.
Ein paar Meter vor den beiden Personen bleibt sie stehen. Mit Tränen in den Augen, blickt sie zwischen dem Mann und der jungen Frau hin und her, bis sie bei dieser bildhübschen Frau stehen bleibt.
»Precious«, haucht Sam wie hypnotisiert. Sie kann es nicht glauben. Ihre Augen tasten jeden Zentimeter von dem Gesicht dieser jungen Frau ab, die so schmerzlich große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hat. Die Gesichtszüge haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr in Neves verwandelt. Selbst Precious' Figur ähnelt ihrer Mutter. Das einzige was sie von ihrer Mutter unterscheidet ist die Haut- und Haarfarbe. Aber sonst könnte man glatt meinen, dass dort Neve steht. Neve in ihrer ganzen Präsenz. Selbst die, vor der Brust, verschränkten Arme geben ihr Bestes, um diesem Bild den richtigen Ausdruck zu geben.
Mit ausgestreckten Händen, um sie zu berühren, geht Sam zwei Schritte auf die junge Frau zu. Diese macht allerdings diese zwei Schritte zurück und weicht Sam somit aus. Den Blick den sie der Südländerin zuwirft, könnte von ihrer Mutter sein. Er ist mit so viel Wut und Hass gefüllt, dass sich Sam vor diesem Blick fast zu Tode erschrickt. Precious' ganzes Gesicht drückt pure Verachtung ihr gegenüber aus. Was ist passiert, dass Precious ihr plötzlich diese Gefühle entgegenbringt? Hat Sam sie etwa alleine gelassen? Hat sie nicht lange und intensiv genug nach ihr gesucht? Was hat Sam damals falsch gemacht, dass Precious nun lebendig, aber mit diesem blinden Hass ihr gegenübersteht? Was ist geschehen?
»Keine Sorge, Samantha. Du bist zur Abwechslung mal nicht verantwortlich. Ich bin aus freien Stücken vor dir geflüchtet und per Anhalter zurück nach San Francisco gekommen. Du glaubst gar nicht, wie viele freundliche LKW Fahrer ein kleines hilfloses Kind mitnehmen, das auf Knopfdruck ein paar Tränchen vergießen kann.« Geschockt starrt Sam ihre Tochter an. Precious ist was? Das kleine Kind ist … ?
Der Mann neben Precious lehnt sich zu ihr und flüstert ihr etwas ins Ohr. Sams Augen fallen währenddessen auf dessen muskulösen Hals. An der Seite prangt eine Tätowierung. Zwei Waffen die sich überkreuzen. Sam schaut den Mann genauer an und kann nicht glauben was sie sieht.
»Damon?«, haucht sie entgeistert. Der Mann, der dort neben ihrer Tochter steht und das Abbild seines Vaters ist und der alleine durch seine kräftige Statur schon fast A.J.s Zwillingsbruder sein könnte, ist Damon? Der kleine Junge mit der Mathelernschwäche?
Damon blickt zu Sam zurück. Auch sein Blick drückt pure Verachtung aus. Was ist nur in die beiden Kinder gefahren, dass sie Sam diesen Missmut entgegenbringen?
Precious blickt an Sam vorbei nach hinten. Ein Geräusch holt die ältere Frau aus ihrer Fassungslosigkeit. Jean steht nur wenige Schritte hinter ihr. Verunsichert schaut sie zwischen allen Erwachsenen hin und her.
»Mama, todo está bien con usted?« Jean spürt, dass an dieser Konstellation etwas nicht stimmt.
Sam wendet sich ihr zu.
»Si. He dicho que debe esperar para mí«, ermahnt sie ihre Tochter und streckt den Arm aus. Sie schickt sie weg. Sie will ihre Tochter schützen. Aber vor was? Vor ihrer eigenen Schwester? Vor ihrem eigenen Bruder?
Misstrauisch dreht sich Jean langsam um und entfernt sich einige Schritte. Ihre Augen verweilen währenddessen auf ihrer Mutter. Sie macht sich Sorgen.
»Jean ist groß geworden. Und hübsch.« Precious' Stimme holt sich Sams Aufmerksamkeit, krabbelt aber gleichzeitig unangenehm deren Wirbelsäule entlang. Sam wendet sich ihr wieder zu.
Precious‘ Augen verweilen auf ihrer Schwester.
»Weiß sie, dass es mich gibt?« Bevor Sam auch nur die Lippen auseinandernehmen kann um zu antworten, kommt Precious ihr zuvor. Sie nimmt die verschränkten Arme von der Brust und stemmt die Hände in die Hüften. Schreckhaft strauchelt Sam einen Schritt zurück. Precious hat sogar Neves Brustform bekommen. Alles an dieser Frau ist Neve. Alles. Selbst diese Polizeimarke die an einer Kette über ihrer Brust hängt und bis jetzt versteckt war.
Sam weiß nicht wie sie mit dieser Erkenntnis umgehen soll. Sie spürt ihr Herz hämmern und den Kreislauf rasen. Alles steht Kopf. Ihre Augen starren auf die Polizeimarke und verraten ihr, dass Precious es schon bis zum Detective geschafft hat. So wie ihre Mutter … .
»Lass mich raten, Samantha«, reißt Precious Sam an sich.
»Natürlich weiß sie es nicht. Sie weiß nicht, dass ich ihre Schwester bin. Sie weiß nicht«, eine nickende Bewegung zu Damon folgt »dass Damon ihr Bruder ist, richtig? Das hast du wieder toll gemacht, Samantha.« Precious' Stimme bekommt einen merkwürdigen Unterton. Sie macht einen Schritt auf Sam zu. Ihre Augen liegen brennend auf der älteren Frau. Weshalb nennt sie ihre Mutter immer Samantha? Weshalb nicht Sam? Weshalb nicht Mum?
»Nein, alles was dich interessiert und was für dich von Belang ist, ist dein eigenes erbärmliches Leben.« Was? Wie redet Precious mit ihrer Mutter?
»Nach dem Tod meiner Mutter und deiner Flucht - deiner feigen Flucht, sind die Five Dogs zerbrochen. Sie haben sich zerschlagen und existieren nicht mehr. Du hast keine Ahnung wie sehr alle unter diesem Verlust gelitten haben. Wie sie sich alle verloren haben und nichts mehr von ihnen übriggeblieben ist. Laura und Jessica haben sich scheiden lassen. Unser Vater lebt mittlerweile auf der Straße und lässt sich nicht helfen. Jill ist ausgewandert. Jessica ist die Einzige die dieser ganzen Situation die Stirn bietet und für meine Mutter da ist. Sie opfert sich noch heute auf und kümmert sich um uns. Aber auch sie konnte Damon und mich nicht davon abhalten, das weiterzuführen, was ihr begonnen habt. Damon und ich werden San Francisco für uns einnehmen und kontrollieren. Wir werden größer und mächtiger sein, als ihr es je wart. Niemand wird uns aufhalten können. Und das alles haben wir nur dir zu verdanken. Dir und deiner feigen Flucht. Mum hatte mit ihren letzten Worten dir gegenüber Recht. Du bist ein verdammter Egoist. Denn für dich geht das Leben unbescholten weiter,