Sammelband "Tatort Hunsrück" Teil 1. Hannes Wildecker
Tür leise hinter sich zu und sah sich um, suchte eine Möglichkeit, von hier aus zu verschwinden, ohne die Vorderseite des Anwesens zu passieren.
Plötzlich hörte er Schritte. Sie kamen von der Seite des Hauses, an der sich die Haustür befand. Der Mann! war sein erster Gedanke, seine Muskeln spannten sich. Dann bog eine Gestalt um die Ecke. Eine Frau. Er wollte gerade erleichtert aufatmen, als er die Pistole in ihrer Hand sah. Als sie ihn erblickte, hob sie wortlos die Waffe und legte auf ihn an.
Balthoff reagierte augenblicklich. Mit wenigen kräftigen Schritten erreichte er die Hecke und warf sich nach vorne in die Anreihung der Lebensbäume. Die Zweige zerrten an seiner Kleidung und zerkratzen sein Gesicht. Mit der letzten Anstrengung erreichte er die andere Seite und spürte gleichzeitig ein Zupfen an seinem rechten Oberarm. Es konnte keiner der Zweige sein, denn er hatte die Hecke bereits durchbrochen. Mit dem Zupfen hörte er auch den Knall und dann machte sich auch schon der Schmerz in seinem Arm breit.
Die Frau, dachte er. Die Pistole. Sie hatte auf ihn geschossen und seinen Oberarm getroffen. Seine Schnelligkeit hatte ihm offensichtlich das Leben gerettet. Er fühlte, wie das Blut seinen Arm hinunterrann und die Muskeln des Armes ihren Dienst versagten. Er drückte mit der Hand auf die Wunde, ignorierte Schmerz und Blutung und schaute sich kurz um. Dann entschied er sich für eine bestimmte Richtung. Er brauchte ärztliche Hilfe, dort, wo man ihn nicht vermutete.
Kapitel 31
Weder Overbeck noch Leni hatten Kriminaloberrat Peter Krauss kommen hören. Zu sehr waren sie in die Diskussion um Gerechtigkeit, Dienst nach Vorschrift und mangelnde Polizeipräsenz vertieft.
„Na, meine Herrschaften? Fleißig bei der Arbeit? Wie kommen Sie voran? Wie ist der Stand der Ermittlungen?“
Kraus schloss die Tür hinter sich und baute sich vor Lenis Schreibtisch auf. Overbeck, der während der Diskussion am Fenster stand, kam herbei und zog seinen Schreibtischstuhl mit dem Fuß zu sich.
„Wir haben ein vermeintliches Motiv“, sagte er trocken.
„Ein vermeintliches Motiv? Dieser Ausdruck ist mir in meiner gesamten Polizeizeit nicht begegnet. Was meinen Sie mit einem vermeintlichen Motiv?“
„Er meint, dass wir, wenn wir einen Tatverdächtigen hätten, ihm ein Motiv zuordnen könnten. Da wir aber keinen Tatverdächtigen haben, ist das Motiv möglicherweise hinfällig. Es sei denn, es gibt einen Tatverdächtigen, irgendwo. Dann existierte auch das Motiv … irgendwie. Oder so?“
Was nun folgte, war Schweigen. Krauss stand mit offenem Mund da und man sah ihm an, dass er versuchte, sich durch den Wirrwarr von Lenis Aussage durchzukämpfen. Schließlich sagte er: „Wenn man ein Motiv hat, hat man auch einen Tatverdächtigen oder zumindest jemanden, der einen Grund hätte, eine Tat zu begehen, also ein Motiv. Ich meine, dann hätte er ja ein Motiv, der Tatverdächtige.“
„Oder so.“ Overbeck verkniff sich ein Lachen. „Es ist kompliziert, aber man kann es durchaus verständlich erklären.“
„Dann tun Sie es doch, wenn ich darum bitten darf“, sagte Krauss unwirsch.
„Vor 18 Jahren geschah am Rande der Stadt Hermeskeil in einem abgelegenen Haus ein Mord. Ein amerikanischer Soldat wurde in seinem Haus von vier Männern überfallen …“
„Ja, ja, ich weiß“, stöhnte Krauss. „Er wurde mit einem Baseballschläger erschlagen. Seine Frau wurde vergewaltigt und seine Tochter floh aus dem Haus. Das haben Sie mir alles bereits erzählt.“
„Es ist ja nur zur Auffrischung wegen des Motivs und eines fehlenden Tatverdächtigen und zum besseren Verständnis. Also“, fuhr Overbeck fort, „die vier Täter wurden gefasst und haben ihre Strafen abgesessen. Vor wenigen Wochen wurden sie in das bürgerliche Leben entlassen.“
„Dann wurden zwei der Männer ermordet“, fuhr Leni mit der Erläuterung fort. „Genau an der Stelle, an der auch der Mord vor achtzehn Jahren geschah.“
„Der Tathergang war der gleiche wie damals“, sagte Overbeck, während Krauss schweigend zuhörte. Das meiste wusste er bereits, doch er hatte das Gefühl, dass die beiden noch einigen Neuigkeiten zu bieten hatten.
„Die beiden Männer wurden zu unterschiedlichen Zeiten auf grausame Art und Weise mit einem Baseballschläger hingerichtet“, fuhr Overbeck fort.
„Ich verstehe“, unterbrach Krauss nun doch seinen Redeschwall. „Damit begründen Sie das Motiv. Irgendjemand rächt sich für den Mord von damals, in dem er nach und nach die Täter hinrichtet. Wer also könnte der oder die Täter sein?“
„Genau da liegt das Problem.“ Overbeck ließ sich auf seinem Stuhl fallen, auf den er sich während seiner Ausführungen abgestützt hatte. „Die Familie bestand aus nur drei Personen. Jerry Thompson, der Soldat, Conny Heidfeld, seine Lebensgefährtin und Maggie Heidfeld, die gemeinsame Tochter.
Die Eltern sind beide tot. Die Tochter ist mit ihren späteren Adoptiveltern nach Amerika ausgewandert. Das war`s. Wer außer ihnen sollte ein Interesse an solch einem Rachefeldzug haben?“ Overbeck schaute fragend zu Krauss auf, der mit einer Po-Backe auf seinem Schreibtisch saß.
„Was ist mit der Tochter, dieser Maggie?“, wollte Krauss wissen.
„Sie lebt mit ihren Adoptiveltern in Amerika. Glauben Sie, dass sie Urlaub in Deutschland macht, um die Mörder ihres Vaters umzubringen?“
Overbeck sah Krauss fragend an. Der antwortete nicht, sondern hielt grübelnd seinem Blick stand. Schließlich schien er einen Gedanken gefasst zu haben.
„Wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen. Versuchen Sie, über Interpol den Aufenthalt der Adoptiveltern zu ermitteln. Bringen Sie in Erfahrung, ob ihre … Adoptivtochter noch bei ihnen lebt oder wo sie sich aufhält. Sie wissen schon. Versuchen Sie alles über diese Familie herauszufinden. Vielleicht wird Ihrem Motiv schon bald ein Tatverdächtiger zugeordnet werden.“
„Es gibt da noch ein weiteres Problem“, wandte sich Leni an Krauss, der im Begriff war, das Büro zu verlassen.
„Ein weiteres Problem? Glauben Sie nicht, dass wir Probleme genug haben. Was ist Ihr Problem?“
„Unser Problem? Es geht um den jungen Mann, den wir als Tatverdächtigen festgenommen hatten.“
„Den Sie wieder auf freien Fuß gesetzt haben. Glauben Sie, dass Sie einen Fehler begangen haben?“ Der Gesichtsausdruck Krauss` erhielt etwas von einem lauernden Anflug.
„Nein, das haben wir nicht. Aber dieser Mann ist der Sohn einer der beiden Ermordeten. Wir denken, dass er sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Mörder macht.“
„Na und? Ist doch gut so. Behalten Sie ihn im Auge. Vielleicht führt er Sie zu dem Gesuchten.“
Die Tür fiel hinter Krauss zu.
„Wie weltfremd kann man denn noch sein?“, schimpfte Leni. „Glaubt er wirklich, wir hätten die Zeit, uns Tag und Nacht an den Fersen von Köhler zu heften? Als wenn wir nicht schon genug belastet wären.“
„Ich werde mit ihm reden“, brummte Overbeck, wobei er das Gummiband löste, das seinen Zopf zusammenhielt. Leni schaute ihm dabei interessiert zu und ein Lächeln legte sich über ihr Gesicht.
„Ich werde ihm vorschlagen, dass er jemanden auf Köhler ansetzt, zumindest solange, bis man seine Absichten erkennt“, fuhr Overbeck fort. „Dann soll er entscheiden wie es weitergeht.“
Derweil hatte er seine Haare wieder gerafft, das Gummiband erneut übergestreift und den Zopf in den Nacken geworfen. Sein blondes Haar wurde von der Sonne durch das Fenster angestrahlt und irgendwie erinnerte er Leni an einen jungen virtuosen Geiger der Gegenwart: David Garret.
Es ging schneller, als sie es für möglich gehalten hätten.
Vier Stunden nachdem Leni die Anfrage über Interpol gestartet hatte, lag ihnen die Antwort bereits vor. Sie ging per Telefax im zentralen Info-Raum ein und ein junger Kollege vom Wachdienst brachte