Die Revolution der Bäume. H. C. Licht

Die Revolution der Bäume - H. C. Licht


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ihr die One-night-stands zunehmend zu schaffen. Auf das kurze Glück feuchtwarmer Zweisamkeit, folgten Tage düsterer Schwermut, die sie in ihrer Heftigkeit an die depressiven Abstürze ihrer Mutter erinnerten.

      Sie lässt sich von dem unbequemen Holzklotz auf den, mit spärlichen Grasbüscheln bewachsenen, Waldboden gleiten, streckt sich und reckt sich genussvoll der Wärme des Lagerfeuers entgegen und wirft derweil einen beiläufig erscheinenden Rundumblick in das Reich der Schatten. Jo ist echt der seltsamste Typ, den sie jemals getroffen hat.

      Hockt da, am äußersten Rand des Flammenscheins, wie immer ganz für sich allein und scheint mal wieder mit den Geistern Zwiesprache zu halten. Auch wenn sie in dem fahlen Zwielicht keine Lippenbewegungen ausmachen kann, hört sie ihn raunen und flüstern, Pro und Contra abwägen, mit wem auch immer über den Sinn des Lebens diskutieren. Dr. Seltsam, er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt...

      Zum ersten Mal begegneten sie sich vor ungefähr einem halben Jahr bei einer Animal-Freedom-Aktion. Damals brachen sie in einen Zoo ein und befreiten ein gutes Dutzend Raubvögel aus ihren Käfigen. Eine coole Aktion, sie hatten viel Spaß dabei. Dass die Vögel ein paar Tage später freiwillig in ihre Gefängnisse zurückkehrten, trübte ihr Erfolgserlebnis allerdings spürbar ein. In der bürgerlichen Schundpresse berichteten sie dann, dass die Tiere in der freien Wildbahn nicht überlebensfähig und am Verhungern waren. Angeblich, weil sie in Gefangenschaft geboren und deshalb nicht in der Lage waren, sich selbst zu versorgen.

      Solche Statements stehen ihrer Meinung nach vor allem für die selbstgefällige Arroganz und doppelbödige Heuchelei, die Menschen gegenüber Tieren an den Tag legen. Diese Typen fürchten sich nur davor, sie könnten so etwas Lästiges wie Mitgefühl mit einer Spezies entwickeln, die tagtäglich in Form von gebratenen Hähnchen und anderen geschmacklichen Entgleisungen auf ihren Tellern liegt.

      Und außerdem, selbst, wenn dem so wäre und der aufgeblasene Pressefuzzi tatsächlich recht hätte? Sie als Vogel wäre jedenfalls mehr als froh, wenn ihr jemand die Freiheit schenkte. Lieber verhungern, als ein jämmerliches Dasein hinter Gitterstäben fristen, oder?

      Dass Jo hinter ihr her ist, ist kaum zu übersehen. Im Prinzip wäre sie ja auch gar nicht abgeneigt, mal ganz abgesehen von seinen gelegentlichen, tranceartigen Aussetzern, findet sie ihn ziemlich süß. Aber er verhält sich wie alle diese Typen aus der linken Szene, große Klappe und nichts dahinter. Die sind genauso schüchtern wie sie geil sind, widersprüchlicher als pubertierende Schuljungs vorm ersten Mal. Ihre Angst, in irgend ein politisch unkorrektes Fettnäpfchen zu treten, wäre direkt zum Schreien komisch, wenn sie nicht jegliche Art von natürlichem Kontakt zwischen Mann und Frau verhinderte.

      So viele verpasste Chancen. Dabei will sie doch auch hin und wieder angebaggert werden! Diese Anmachen sollten natürlich rein verbal und frei von aufgesetzten Macho-Allüren vonstatten gehen. Wie sagt man so schön? Wer ficken will, muss freundlich sein.

      Lisa gibt den hellrot glühenden, viel zu heiß gerauchten Joint weiter, schnappt sich ihre zerschrammte Wandergitarre und fängt zur Einstimmung an, ein paar leise Akkorde zu zupfen. „Smells like teen spirit“ von Nirvana zählt zu ihren absoluten Lieblingssongs. Sie glaubt genau zu wissen, in welcher Stimmung er entstanden ist. Jedes einzelne Wort, jede Silbe kann sie fühlen, den Wahrheitsgehalt in jedem Vers schmecken.

      Nachdem sie sich ein wenig warm gespielt hat, setzt sie sich aufrecht hin, weitet ihre Brust mit ein paar tiefen Atemzügen und haut, das universelle Wissen um die Heilkraft allumfassender Liebe in ihrer erstaunlich kräftigen Stimme, voller Inbrunst in die Saiten.

      Nach anfänglicher Befangenheit, die sich mit der Wirkung des mit einem astronomisch hohen THC-Wert gepimpten Grases schnell auflöst, fängt das illustre Häufchen Mensch an, mitzusingen. Manche verhalten murmelnd, andere aus vollem Halse, je nach stimmlichem Potential und vorhandenem Selbstwertgefühl.

      Jo lehnt sich zurück in die starken Arme seiner hölzernen Amme und versucht die Show zu genießen. Ein wenig Aktion kommt immer gut, sie lenkt ihn von seinem verdrehten Innenleben ab und treibt die Geister zurück in die Welt der Schatten.

      Das Dope scheint gut zu sein, jedenfalls beflügelt sein ungebremster Konsum zusehends den Mut des bunt gemischten Chors, sich stimmlich gehen zu lassen. Der Rausch, gepaart mit den Sangesfreuden, verändert die Stimmung auf der nächtlichen Lichtung kolossal.

      Während eine popkulturelle Hymne auf die nächste folgt, hocken Jos sonst so knallharte Mitstreiter, völlig losgelöst im Hier und Jetzt, im Kreis um das Lagerfeuer herum. Nachdem sie zuerst nur zaghaft mit den Köpfen genickt haben, pendeln ihre Oberkörper schließlich immer rhythmischer und wilder im Takt der Musik. Gelegentlich lässt sich sogar jemand dazu hinreißen, mit den Händen ekstatisch die Luft umzurühren, Flowerpower.

      Im flackernden Schein der Flammen wirken sie butterweich und unschuldig, aus der Zeit gefallene Kinder, deren Physiognomien Jo an die Hippies erinnern, die er einmal in einem Dokumentarfilm über das legendäre Woodstock-Festival im Jahr 1969 gesehen hat.

      Der Reihe nach mustert er die wesentlichen Leistungsträger der Zelle. Neben Lisa und Hermann zählt noch ein weiterer junger Mann zu den unverzichtbaren Eckpfeilern seiner politischen Wahlfamilie. Sein bürgerlicher Name lautet Martin Gruber, aber unter dem kennt ihn in der Szene keiner. Während militanter Aktionen und anderer Ordnungswidrigkeiten sind Klarnamen und ähnliche erkennungsdienstlich verwertbare Merkmale definitiv tabu, außerdem klingen Spitznamen viel besser, irgendwie familiärer. Sie symbolisieren ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl und bergen ein Versprechen in sich. Die Erfüllung der Sehnsucht nach verwegenen Abenteuern und Grenzgängen, die die Routine des Alltags auf den Kopf stellen. Schließlich käme ja auch niemand auf die Idee, unter dem Allerweltsnamen Martin Gruber auf einem Piratenschiff anzuheuern. Das wäre ja kontraproduktiv, schon beinahe geschäftsschädigend. Genau dieses bourgeoise Image will man doch hinter sich lassen, wenn man sich dem Widerstand anschließt.

      Alle nennen ihn Tarzan. Jo kann sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen. Kein Wunder, dass ihm die Szene so einen bekloppten Spitznamen verpasst hat. Als bekennender Nudist, er läuft sogar im tiefsten Winter barfuß, muss er mit allem rechnen. Seinem Spitznamen macht er alle Ehre, indem er sich, einen durchdringenden Urschrei ausstoßend, Hals über Kopf ins Schlachtengetümmel stürzt.

      Aber genau genommen passt der Name Tarzan überhaupt nicht zu ihm. Er klingt nach einem fröhlichem Naturburschen, ein Image, das den wesentlichen Kern seiner Persönlichkeit noch nicht mal ungefähr trifft. Denn Martin ist eine tickende Zeitbombe, der Scharfmacher vor dem Herrn. Wenn der bei einer Demo mit an Bord ist, kann man davon ausgehen, dass irgendwann die Wasserwerfer in Stellung gehen und die GSG 9 aufmarschiert.

       Genau der Typ Mensch, den man nicht zum Feind haben will. In der Szene kennt zwar niemand seine Vorgeschichte, aber die muss es in sich haben. Als er eines Tages wie der Phönix aus der Asche in ihrer Mitte auftauchte, hielten ihn einige besonders argwöhnische Gesinnungsgenossen zunächst für einen Agent Provokateur. Für einen Zivi, der den Auftrag hat, die Eskalation von Protesten voranzutreiben und so der Staatsmacht die Legitimation zu liefern, ordentlich drauf schlagen und Demonstranten festnehmen zu dürfen.

      Aber ein Bulle ist er definitiv nicht, dafür ist er viel zu chaotisch und das Fundament seines Hasses bei weitem zu solide. Damit er aus der Haut fährt, reicht als Auslöser oft schon ein klitzekleiner Funken, eine banale Meinungsverschiedenheit und ihn befällt quasi aus dem Nichts der Willen zum Grillen. In diesem Punkt erinnert er Jo an diesen Killertypen Charles Bronson, der vor seiner Zeit für die Rolle des starken Mannes prädestiniert war und auch heute manchmal noch außerhalb der Prime-Time in einem dieser verstaubten Hollywood-Schinken zu bewundern ist.

      Jo hat die Szene noch lebhaft vor Augen. Er, so richtig schön stoned, kam im frühen Rot des Morgengrauens nach Hause, eine ebenso voll zugedröhnte, leidlich attraktive Braut im Schlepptau. Zum Runterkommen haben sie erst noch einen opulenten Joint inhaliert und dann beim diffusen Flimmerlicht der Glotze eine gemütliche Nummer geschoben. Ein Mann sieht rot, ja genau, so hieß der Streifen. Das wäre übrigens auch ein passender Titel für Tarzans Memoiren. In dem bluttriefenden Reißer nimmt Rächer Bronson das Gesetz höchstselbst in die Hand und macht dabei keine Gefangenen. Selbstjustiz und Lynchmobs, ja, darauf


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