Rebeccas Schüler. Tira Beige
und Tom sahen sich regelmäßig, da sie in der gleichen Firma arbeiteten. Sie umarmten sich freundschaftlich. Nachdem Rebecca ausgestiegen war, gab Tom ihr die Hand. Sie kannte ihn zwar gut, hätte ihn aber nicht als engen Freund bezeichnen wollen.
Bevor sie in das Haus traten, schaute sich Rebecca den Außenbereich des Häuschens an. Was ein typisches, spießbürgerliches Wohngebäude: Die Fassade war von außen verklinkert und mit einem kleinen Garten versehen, der von der Straße zur Hälfte einsehbar war. Vor der Tür hatte Lydia einen Strauß Tannenzweige aufgestellt, der liebevoll mit Strohsternen behangen war. Daneben stand eine grinsende Katze aus Holz. Das Klingelschild aus Metall besaß den eingravierten Familiennamen. Tom und Lydia waren seit zwei Jahren verheiratet. Im vergangenen Herbst kam ihre Tochter Lea zur Welt.
Tom begleitete seine Freunde zur Haustür, schloss auf und ließ sie nach drinnen eintreten. Wohlige Wärme umfing Rebecca, denn die Fußbodenheizung umschmeichelte ihre Füße. Lydia kam ihnen aus der Küche tretend entgegen. Auf dem Arm trug sie ihre Tochter, die mit ihren sechs Monaten noch nicht laufen konnte.
Rebecca schossen Gemälde in den Kopf, auf denen die Mutter Maria mit dem Jesuskind abgebildet war. Genauso idyllisch und verklärt erschienen ihr gerade Lydia und ihr Baby.
Die Hausherrin umarmte Rebecca so gut sie es mit dem Kind auf dem Arm konnte. Sie trug einen weiten, rosafarbenen Pullover und graue, schlabberige Jogginghosen. Ihre strohblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. An den Seiten standen einige Härchen ab, sodass die erst Mitte Dreißigjährige viel älter wirkte. Genauso stellte sich Rebecca das Mutterdasein vor: keine Zeit für das Aussehen zu haben, da man stets mit dem Kind beschäftigt war.
Die Kleine starrte die Eintretenden schüchtern an. Als Rebecca sie zart an der Wange berührte, vergrub sie das Gesicht in das Brustbein ihrer Mutter.
»Schön, dass ihr uns mal wieder besuchen kommt«, sagte Lydia höflich und bat ihre Freunde ins Wohnzimmer hinein. Irgendetwas stimmte nicht! Das Strahlen in ihren Augen fehlte. Lydias grüne Pupillen wirkten blass, fast bedrückt. Rebecca verkniff sich eine Nachfrage und schaute sich stattdessen im Flur um.
Tom stand noch immer an der halb geöffneten Haustür und klopfte sich den Schnee von seiner Hose ab. Dann kam er hinein. Ein Duft von Auflauf hing wie ein unsichtbares Band in der Luft.
Alles an der Einrichtung im Hausflur war spießbürgerlich kitschig: An den Wänden befanden sich Bilderrahmen mit Fotos der Familienmitglieder. Oma und Opa mit Lea, ein Hochzeitsfoto von Tom und Lydia, Lea als Neugeborene. Auf einem der Rahmen stand sogar »Family« drauf. Außerdem gab es rechts vom Eingangsbereich ein langes Schuhregal, das fein säuberlich aufgestellt unter anderem Pantoffel und Stiefel enthielt. Darüber hing eine bunte Zeichnung des Wohnorts. Auf dem Schrank standen kleine Kistchen aus Bast, in denen Lydia diversen Krimskrams verstaute.
Der Flur wurde zum Wohnzimmer und zur Küche hin breiter und gab auf der linken Seite den Blick auf das Badezimmer frei. Hier erinnerte vieles an eine Wohnung, die liebevoll eingerichtet wurde, um inneres Chaos durch äußere Ordnung auszugleichen.
Eine Veränderung gab es: Ihr letzter Besuch lag fast ein halbes Jahr zurück. Damals war Lea gerade einen Monat alt gewesen. Die Wohnzimmereinrichtung jetzt glich einem Schlachtfeld. Auf dem Teppich befanden sich Autos, Plüschtiere und anderes Spielzeug. Dass sogar das Sofa Chaos verbreitete, wunderte Rebecca, denn sonst war Lydia immer auf Ordnung bedacht – und zwar in sämtlichen Angelegenheiten, was auch die spießbürgerliche Einrichtung im Hausflur verdeutlichen sollte.
»Tut mir furchtbar leid, dass es so wild aussieht«, sagte Lydia leicht gequält, als ob sie Rebeccas Gedanken hatte lesen können. »Wir kommen nicht mehr zum Aufräumen, seitdem die Kleine krabbelt und alles durch die Gegend wirft.« Sie sah die Schuldgefühle in Lydias Augen aufblitzen.
»Und wie läuft es bei euch?«, fragte Tom, um vom Thema abzulenken.
»Du weißt ja, in meiner Abteilung ist immer viel los. Erst letzte Woche musste ich wieder mit einer Kollegin ein Personalgespräch führen, nachdem sie mir gesagt hatte, dass sie vorhat, weniger Stunden arbeiten zu wollen.« Wie gesprächig Paul mit einem Male war!
In seiner Position als Abteilungsleiter einer Firma, die sich mit Finanzen beschäftigte, hatte er immer viel mit Menschen zu tun und musste ständig mit seinen Angestellten sprechen. Mit Rebecca hatte er aber offenbar nicht mehr viel zu bereden.
Tom, der genau wie Paul auch in seiner Abteilung der Leiter war, hakte sofort nach. Dann tauschten sie sich über beruflichen Kram aus, während Lydia und Rebecca daneben saßen und den Männern beim Plaudern zuhorchten. Tom sprach weniger gestresst von der Arbeit, als es Paul tat. Er meckerte nicht so viel, schien ausgeglichener zu sein, trotz des Stresses zu Hause. Gerade mit Kind.
Lydia hatte nicht viel zu der Konversation beizutragen. Vor ihrer Schwangerschaft und Elternzeit hatte sie im Krankenhaus als Assistenzärztin in der Urologie gearbeitet. Als feststand, dass sie schwanger war, hatte sie die Arbeit sofort an den Nagel gehängt, um das Kind in ihrem Bauch nicht zu gefährden.
Lydia war vor ihrer Schwangerschaft eine äußerst lebenslustige, gesellige junge Frau gewesen. Tom und sie waren oft auf Partys unterwegs gewesen oder hatten Bekannte besucht. Rebecca kannte sie als Frau, die gern lachte und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte. Jetzt wirkte sie in sich gekehrter, reifer, abgeklärter. Sie beugte sich über das Baby, das neben ihr zu quengeln begann und streichelte zärtlich über die Wange des Mädchens. Wie liebevoll sie die Kleine umsorgte.
Lydia führte genau das Leben, von dem Rebecca träumte und um das sie ihre Freundin beneidete: verheiratet, Kind, Haus, Liebe.
Nach dem Essen zogen sich Paul und Tom mit einem Bier auf die Couch zurück. Lydia musste Lea zu Bett bringen und fragte Rebecca, ob sie sie begleiten wollte. Sie spürte, dass Lydia etwas auf dem Herzen hatte und mit ihr allein sein wollte. Rebecca vermutete, dass ihre ungewöhnliche, introvertierte Art, die sie so gar nicht an ihr kannte, einen Grund haben musste.
Im Kinderzimmer des Babys befand sich rechts neben der Tür die Wickelkommode, auf deren Ablage bunte Bärchen abgebildet waren. Lydia legte als Erstes Lea dort drauf und begann damit, der Kleinen neue Windeln anzulegen.
Rebecca schaute sich im Kinderzimmer um. In der Mitte stand