Rebeccas Schüler. Tira Beige
Obwohl es Rebecca nicht durfte, sagte sie aus dem Bauch heraus: »Geh nach Hause, egal welche Stunden du heute noch hast.«
»Danke«, antwortete er leise, bevor er mit Tränen im Gesicht das Klassenzimmer verließ. Vor dem Rausgehen lächelte er sie noch einmal sanft an.
Rebecca fragte sich, wie sie die chaotischen Gefühle in ihrem Inneren verarbeiten sollte – zumal nach dem Gespräch mit Lou heute. Mit Paul konnte sie nicht sprechen, da er jedem ernsthaften Dialog aus dem Weg ging – sogar, wenn es ihre Beziehung betraf. Lydia mit ihren Sorgen behelligen? Das wollte sie nicht. Schließlich hatte ihre Freundin genug mit ihrer Ehe zu tun. Rebecca musste ein besserer Weg einfallen, mit ihren Problemen, die sie beruflich und privat belasteten, umzugehen.
Zu Hause angekommen, sinnierend in ihrem Arbeitszimmer sitzend, holte sie ein vergilbtes Papier aus dem Rollcontainer ihres Schreibtischs heraus und schrieb:
Dienstag, den 8. März
Lieber Paul,
fragst du dich nicht, welchen Sinn unsere Beziehung noch hat? Bist du wirklich so naiv zu glauben, dass wir eine Zukunft haben? Ich habe dich geliebt. Aber das ist schon lange her. Die Liebe erkaltete, als du immer schweigsamer wurdest. Als du dich nur noch um das Haus gekümmert und mich vernachlässigt hast. Ich war und bin dir nicht mehr wichtig. Unsere Beziehung ist eine Farce. Ein Zusammenleben zweier Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben.
Wir streiten uns wenig und ich schlafe mit dir, obwohl es mir von Mal zu Mal weniger Lust bereitet. Ja, ich wünsche mir eine Familie, ein Haus, Liebe. Aber ob ich jemals das in dir sehe, was ich mir erträume, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es richtig ist, das fortzuführen, was wir begonnen haben.
Ich weiß nicht, ob ich noch mit dir zusammen sein möchte, wo ich dich doch im Geiste bereits betrüge: wieder und wieder, und zwar mit einem meiner Schüler. Er heißt Elouan, ist zwanzig Jahre alt und geht in die elfte Klasse. Ich spüre Lust, wenn ich an ihn denke. Ich fühle, dass sich da mehr entwickeln könnte. Die Beziehung ist verboten, ich darf mich ihm nicht nähern und doch ist da etwas zwischen uns, das ich nicht erklären kann.
Ich wünsche mir Sicherheit. Die kannst du mir geben. Was könnte mir ein so junger Mann schon bieten? Ich wünsche mir vor allem Liebe, Paul. Verstehst du? Aber Liebe ist ein Wort, das dir fremd in den Ohren klingt. Du bist dir wichtig, dann kommt lange nichts und irgendwann komme ich.
Ich wünschte, ich könnte offen und ehrlich meine Meinung äußern; wünschte, ich könnte dir ins Gesicht sagen, wie sehr ich mich von dir vernachlässigt fühle, wie unaufmerksam und kalt du bist. Bitte, Paul, wenn du mich nicht verlieren willst, dann zeige mir, dass ich dir etwas wert bin!
Deine Rebecca
PS: Tom hat eine Affäre mit seiner Sekretärin Denise. Woher ich das weiß? Weibliche Intuition.
Die Worte sprudelten in Windeseile aus Rebecca heraus. Aber so, wie sie den Brief zu Ende geschrieben hatte, bereute sie ihn schon.
Gleichzeitig erleichterte es sie, Paul ihre Gefühle gestanden zu haben, so verwirrend, unzusammenhängend, widersprüchlich sie waren. Und dennoch: Nie würde sie den Mut aufbringen, den Brief in dieser Form zu überreichen.
Sie beschloss, das Dokument in das obere Schubfach ihres Rollcontainers, der sich unter dem Schreibtisch befand, einzuschließen. Rebecca kramte nach einem alten Briefumschlag und steckte das Papierstück dort hinein. Danach schob sie das Schubfach des Rollcontainers zu und schloss ihn ab. Gefühle, eingeschlossen in einen Rollcontainer.
Wohin mit dem Schlüssel? Auf dem Fensterbrett stand eine kleine Emailledose, auf der zwei ineinander verschlungene Herzen abgebildet waren. Paul hatte sie ihr zum ersten Jahrestag geschenkt. Es erschien Rebecca passend, den Schlüssel dort hineinzuwerfen. Sie wusste, dass er nie auf die Idee kommen würde, in diese kitschige Dose zu schauen.
Rebecca sehnte das Wiedersehen mit Lou am Donnerstag entgegen. Die ersten drei Stunden hatte sie mit dem Kunstunterricht in den unteren Klassenstufen verbracht.
Nun saß sie am Lehrertisch des Deutschraums und sah zu, wie ein Jugendlicher nach dem anderen in den Kursraum geschlurft kam. Nur Lou war nicht darunter. Rebeccas Blick ging Richtung Tür, in der Hoffnung, dass Elouan doch noch auftauchte – er erschien aber nicht mehr.
In einer ruhigen Minute im Unterricht suchte Rebecca das Gespräch mit Alicia: »Weißt du, was mit Lou ist?«, fragte sie, am Tisch der Schülerin stehend.
»Er war gestern auch nicht in der Schule. Wir haben nachmittags telefoniert, da ich ihm die Hausaufgaben vorbeibringe. Da meinte er bloß, dass er sich nicht wohl fühlt.«
Rebecca vermutete, dass seine Mitschülerin nicht ahnte, woran er wirklich litt. Sicherlich standen sein Fehlen und sein Verhalten am Dienstag in einem Zusammenhang. Traute er sich nicht mehr, seinen Mitschülern gegenüberzutreten? Schämte er sich noch immer? Rebecca hätte am liebsten selbst bei ihm angerufen, allerdings wollte sie sich ungern in Dinge einmischen, die sie nichts angingen.
Glücklicherweise traf sie Heidi in der nächsten Pause im Lehrerzimmer. Als Rebecca ihr von Lous Fehlen berichtete, schaute die Tutorin verwirrt drein. Sie wusste nicht, dass ihr Kursschüler seit gestern fehlte. »Okay, ich rufe mal bei ihm an.« Kurzerhand nahm sie ihr Smartphone aus der Tasche und wählte eine darin eingespeicherte Nummer.
Nach wenigen Sekunden hörte Rebecca Lous vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung. »Elouan? Hier ist Frau Enger. Frau Peters steht neben mir. Sie sagt, du fehlst schon seit gestern. Geht es dir gut?« Eine kurze Pause entstand. Lou antwortete etwas, das Rebecca aber nicht verstand. Heidi nickte während des Gesprächs einige Male, dann sagte sie: »Ist gut. Kurier’ dich aus und wir sehen uns dann nächsten Montag wieder, ja?«
Erneut verstrich eine kurze Pause. Dann legte die dicke, ältere Frau auf und wandte sich wieder Rebecca zu. »Elouan ist erkältet. Mach dir keine Sorgen, er ist Montag wieder da.« Seine Lüge zog bei Heidi, denn sie drehte sich unbeeindruckt weg.
Während Rebecca noch überlegte, ob sie ihr die Wahrheit sagen sollte, obwohl sie Lou versprochen hatte, es nicht zu tun, wurde die Tutorin von einem ins Zimmer tretenden Kollegen angesprochen und ihre Aufmerksamkeit auf ein neues Thema gelenkt.
An diesem Tag war etwas anders. Rebecca wollte in der Schule bleiben. Sie wollte erfahren, was mit Lou los war. Sie wollte endlich begreifen, was ihn beschäftigte. Sie wollte seine Krankheit durchdringen.