Rebeccas Schüler. Tira Beige
11 heraus; gleichzeitig aber auch den für Klasse 8, falls die Sekretärin um die Ecke schaute.
Rebecca musste eine Weile suchen, bis sie Lous Akte gefunden hatte. Neben seinen Noten, die er vor mehr als drei Jahren gesammelt hatte, fielen ihr etliche psychologische Gutachten in die Hände. Sie überflog die Schreiben, die in kompliziertem Ärzte-Deutsch Auskunft über seinen Gesundheitszustand gaben. Immer wieder begegneten ihr Wörter wie »manisch«, »depressiv«, »schüchtern« oder auch »von sich selbst überzeugt«. Widersprüche über Widersprüche. Die Mediziner, die sich mit Elouan vor mehr als einem Jahr in einer Spezialklinik für Kinder- und Jugendpsychologie auseinandergesetzt hatten, schienen ihn gut unter die Lupe genommen zu haben.
Offenbar handelte es sich bei Lou tatsächlich um einen geistig gestörten Jugendlichen. Rebecca überflog ein Protokoll, das die Schulleitung nach einem Gespräch mit ihm angelegt hatte: »regelmäßig Tabletten einnehmen«, murmelte sie vor sich hin. Sie sollten seine Launen und Stimmungen im Gleichgewicht halten. Dies stellte die Voraussetzung dafür dar, dass er allein wohnen und die Schule geregelt besuchen konnte.
Rebecca musste schmunzeln, als sie das Datum des Protokolls wiedererkannte: Es war jener Tag, an dem ihr Lou zum ersten Mal im Sekretariat begegnet war. Ihr erschloss sich nun so einiges: Warum er so bedrückt wirkte, als er aus dem Büro des Direktors kam, wieso er geweint hat, als er in ihren Armen lag und weshalb er nicht wollte, dass jemand über die fehlende Tabletteneinnahme Bescheid wusste. Dass er ausgerechnet sie und nicht seine Tutorin in sein Geheimnis eingeweiht hatte, ehrte Rebecca zutiefst.
Sie hatte gesehen, was sie sehen wollte und wusste jetzt, woran sie bei ihrem neuen Schüler war. Sie stellte beide Aktenordner in den Schrank zurück, verschloss ihn sorgfältig und gab den Schlüssel im Sekretariat zurück.
Erschöpft schlurfte sie zu ihrem Auto. Es war ein langer Tag. Auf dem Parkplatz war außer ihrem Wagen noch das Auto ihres Chefs zu sehen. Ihr schneeweißer Audi besetzte eine der vielen Parklücken inmitten gähnender Leere aus Asphalt.
Am Auto angekommen, suchte sie nach dem Schlüssel. Ein Geräusch an der Beifahrertür. Erschrocken schaute sie auf und sah niemand Geringeren als Lou! Er musste die ganze Zeit über trotz der Kälte an der Beifahrertür gehockt haben. Anders konnte sie sich nicht erklären, dass er steif von dort aufstand.
Rebecca schloss auf, stellte ihre Schultasche auf den Rücksitz und stieg vorn ein. Ihr Schüler saß bibbernd auf dem Beifahrersitz. »Was machst du hier, Elouan?«
»Ich komme Montag wieder in die Schule«, sagte er knapp, ohne Emotion in der Stimme.
»Wenn du bis dahin nicht krank bist«, gab sie schmunzelnd zurück, um ihm ein Grinsen zu entlocken. Doch Lous Gesicht blieb versteinert. »Deine Tutorin sagt, du seist erkältet.«
»Das ist gelogen«, gab er freudlos zur Antwort. Er richtete seinen Blick stur auf den leeren Parkplatz. Er schämte sich noch immer für das, was geschehen war. »Sie wissen es besser. Ich bedauere, dass ich Ihnen Dienstag solchen Ärger verursacht habe und dass Sie meinetwegen Ihren Unterricht nicht ordentlich durchziehen konnten. Ich weiß, dass Sie immer alles perfekt machen wollen.« Wie gut er sie schon kannte.
»Ich schäme mich so, Frau Peters.« Er drehte sein Gesicht zu Rebecca herum, sodass seine blauen Augen ungebremst auf die ihrigen trafen.
»Lauerst du mir deswegen bei diesen Temperaturen an meinem Auto auf?«, fragte sie.
»Die Kälte interessiert mich nicht. Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Wie lange wartest du schon auf mich?«
Er überging ihre Frage: »Frau Peters, im Ernst: Ich möchte mich entschuldigen.«
»Das hast du getan, Lou. Geh nach Hause und lerne für die anstehenden Klausuren. Das bringt dir mehr, als mich hier aufzusuchen.«
Rebecca ließ den Motor an, obwohl sie Lou gern in den Arm genommen hätte. Das Gefühl von Dienstag war noch zu stark. »Danke. Für alles«, sagte er knapp. Rebecca nickte, war zu erschöpft. Elouan ergriff die Klinke, verabschiedete sich und ging.
Donnerstag, den 10. März
Lieber Lou,
dies ist mein erster Brief an dich. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Gedanken. Daher schreibe ich sie auf. Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. Kannst du dich an diesen Moment erinnern? Ich habe ihn so klar vor Augen. Ich spürte sofort die Aura, die dich umgab und noch immer umgibt, wenn du dich in meiner Nähe aufhältst.
Ich weiß, ich bin deine Lehrerin, du mein Schüler. Zusammen sein dürfen wir nicht und werden wir vermutlich niemals sein. Und trotzdem verströmst du eine Anziehungskraft, der ich mich nicht entziehen kann. Pausenlos muss ich, wie ein naiver verliebter Teenager, an dich denken. Wenn ich allein bin, zu Hause, gehen mir erotische Gedanken durch den Kopf. Ich kann einfach nicht aufschreiben, wonach ich so sehnsüchtig verlange.
Oh Elouan, die Lust raubt mir alle Sinne. Ich komme mir so dumm vor. Obwohl ich vergeben bin, gibst du mir das Gefühl, dass ich noch Verlangen haben darf. Darf ich das wirklich?
Rebecca
Der Brief war ebenso wenig vorzeigbar, wie der, den sie an Paul geschrieben hatte und wurde daher sofort weggeschlossen. Rebecca spürte das sich anbahnende Gefühlschaos, das sie auffressen würde.
Kapitel 5
Vor fast einer Woche hatte Rebecca das Gespräch mit Lou in ihrem Auto geführt. Seit er wieder im Deutschkurs weilte, hatte sich seine Position als Außenseiter weiter gefestigt. Niemand achtete auf ihn – mit Ausnahme von Alicia, die hin und wieder einen Blick riskierte und ihm ein Lächeln schenkte, das Elouan prompt erwiderte. Er mochte sie. Die Jungen mieden den Zwanzigjährigen nach seinem merkwürdigen Auftritt im Deutschunterricht, vermutlich aus Angst davor, sich mit ihm sehen zu lassen und zum Einzelgänger zu werden.
Insbesondere in Gruppenarbeitsphasen wurde Lou wenig integriert. Er hatte viel zu sagen, aber seine Meinung war oftmals so anders, dass er kein Gehör fand.
Heute sollten die Schüler in Dreier- beziehungsweise Viererteams eine eigene Abiturrede verfassen. Rebecca wanderte interessiert durch die Schülerreihen und bemerkte, dass Alicia in ihrer Gruppe das Kommando führte. »Wir sollten uns auch beim Hausmeister bedanken. Immerhin sorgt er dafür, dass die Schule hübsch aussieht und dass wir immer