Aufstieg durch Bildung?. DIE ZEIT

Aufstieg durch Bildung? - DIE ZEIT


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ersten Mal begegnete mir Herr Proksch im Sommer 1991, auf der Hauptschule in Lauterbach, einem Dorf im bayerischen Teil von Schwaben. Er war ein stämmiger Mann mit breitem Gesicht, der gerne braune Pullover trug. Mein Lehrer, Klasse 6b.

      An einem Montag im Frühjahr 1992 empfing er dann meine Mama. Es war Elternsprechtag. Im Klassenzimmer saß Herr Proksch leicht erhöht hinter seinem Pult, auf dem Bücher und Ordner lagen. Meine Mama hatte auf einem der Kinderstühle Platz genommen. Es ging darum, auf welche weiterführende Schule ich gehen sollte: Real- oder Hauptschule. Die wenigen Gymnasiasten, die es in unserem Dorf gab, hatten uns nach der vierten Klasse verlassen.

      »Marco sollte auf der Hauptschule bleiben, Frau Maurer, die Realschule ist nichts für ihn.«

      Das war Herrn Prokschs erster Satz. Meine Mama hat es mir später erzählt. Das ganze Gespräch.

      »Meinen Sie wirklich, Herr Proksch?«

      »Er hat im Zeugnis drei Dreien in den Kernfächern, das sind zwei Zweien zu wenig. Er wird das nicht schaffen.«

      »Wir haben gerade eine schwierige Zeit daheim.«

      Meine Mama sprach von Umzügen, Schulwechseln und der Trennung von ihrem Lebensgefährten.

      »In den Jahren zuvor war er doch besser«, sagte sie. »Er hatte immer nur Zweien im Zeugnis, er könnte den Aufnahmetest für die Realschule machen.«

      »Das hat doch keinen Wert bei ihm, Frau Maurer.«

      Als Herr Proksch das sagte und den Kopf schüttelte, stand meine Mama auf, nahm ihren roten Mantel und verließ den Klassenraum, in dem das Wort »Arbeiterkind« in der Luft hängen blieb.

      »Vielen Dank, Herr Proksch!«

      Heute, mehr als 20 Jahre später, sagt meine Mama, während sie an einer Zigarette zieht, sie habe sich damals machtlos gefühlt. Sie, die Volksschülerin und Friseurin, wagte es nicht, ihm, dem Akademiker, zu widersprechen.

      Diese Erzählung deckt sich mit etlichen Studien zum deutschen Bildungssystem. Lehrerempfehlungen werden von Angehörigen einer bildungsfernen Schicht – dazu zählt meine Mama – meist hingenommen. Akademiker dagegen kämpfen um die Zukunft ihrer Kinder, sie schieben sie mit aller Macht in Richtung Abitur. Geld für Nachhilfe haben sie, und wenn nichts mehr hilft, drohen sie mitunter mit dem Anwalt.

      Bei meiner Mama dagegen genügten ein paar Worte des Lehrers, um den Zweifel an meiner Leistungsfähigkeit zu säen. Einen Zweifel, der mich jahrelang begleiten sollte.

      Ich war damals elf. Nachdem meine Mutter mir von Herrn Prokschs Zukunftsprognose erzählt hatte, fragte ich mich: Was soll jetzt aus mir werden? Ein Ziegelklopfer? Wie Ali?

      In einem Ort nicht weit von meinem Zuhause stand eine kleine Ziegelfabrik. Dort klopfte ein Mann mit einem Gummihammer auf frisch gebrannte Dachziegel, die ihm ein Fließband vorsetzte. Acht Stunden am Tag, etwa ein Ziegel pro Sekunde. Der Mann prüfte den Härtegrad. Er hatte dunkle Haut und einen Schnurrbart. Wir nannten ihn Ali.

      Bis zu jenem Elterngespräch hatte ich gut gelebt mit dem deutschen Bildungssystem: Ich hatte nämlich nicht viel von ihm bemerkt. Ich hatte ein bisschen Hausaufgaben gemacht, keine Sorgen gekannt, war Kind geblieben. Jetzt aber sah ich es auf einmal vor mir, dieses System. Groß und mächtig. Und ich war darin gefangen, ganz unten.

      Ich erzähle das, weil ich der Meinung bin, dass jeder Mensch die Chance haben sollte, etwas aus seinem Leben zu machen. Im deutschen Bildungssystem aber gibt es etwas, das dem im Weg steht: die Herkunft. Die Macht der Vergangenheit.

      Von 100 Akademikerkindern schaffen 71 den Sprung auf die Universität, von 100 Nichtakademikerkindern nur 24. Das ist die deutsche Wirklichkeit im 21. Jahrhundert. Diese Zahlen sind kein Resultat unterschiedlicher Intelligenz. Dutzende Studien belegen, dass die Kinder von Fließbandarbeitern, Verkäuferinnen und Handwerkern, von Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Migranten auch bei exakt gleicher Leistung schlechter benotet werden. Wo Akademikerkinder locker durchkommen, bleiben die anderen hängen. Sie stolpern in Prüfungssälen und Klassenräumen, Lehrerzimmern und Elternhäusern über unsichtbare Hindernisse.

      Ich glaube einige dieser Hindernisse inzwischen zu kennen. Ich habe sie selbst überstiegen auf meinem langen Weg durch das deutsche Bildungssystem. Schließlich habe ich so ziemlich alle Arten von Schulen besucht, die es in Deutschland gibt: Ich war Grundschüler, Hauptschüler, Realschüler, Berufsschüler, Abiturient. Ich war auf vier verschiedenen Hochschulen und einer Journalistenschule. Mehr Schüler geht kaum. Da kann die ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan mit ihren je zwei Schulen und Hochschulen gegen mich und die anderen, die an diesem Abend im Café Telos sitzen, einpacken.

      Das Telos ist eine Münchner Studentenkneipe. Hier warte ich an einem Donnerstagabend alleine an einem Tisch und schaue mich fragend um, bis mich ein junger Mann anspricht: »Bist du ein Arbeiterkind? Unser Stammtisch ist dahinten.«

      In fast jeder größeren deutschen Stadt gibt es sie heute: Ortsgruppen der Initiative »Arbeiterkind«, die 2008 von Katja Urbatsch gegründet wurde, einer Doktorandin in Gießen. Sie war die erste Akademikerin ihrer Familie und hat das Buch Ausgebremst – Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt geschrieben.

      Wenig später sitze ich mit Klaus am Tisch, 34 Jahre alt, Sohn eines Zimmermanns und bald Doktor der Verwaltungswissenschaften, angestellt in der Strategieabteilung eines Dax-Konzerns. Neben ihm: Volker, 50, Sohn eines Maurers und Politologe, heute in der Personalabteilung einer europäischen Behörde. Auch Stefan gehört zur Runde: 29, Sohn eines Kraftfahrers und einer Putzfrau, gelernter Krankenpfleger, ehemaliger Hartz-IV-Empfänger, jetzt Germanistik-Student.

      Ein Stammtisch von 15 Männern und Frauen, alle Bildungsgewinner, denen der Aufstieg ihrer Herkunft wegen fast verwehrt worden wäre. Ein Treffen von »Beinahe-Opfern« des Schulsystems.

      »Am Anfang fehlte der Background, später während des Studiums kam die Unsicherheit hinzu, ob man überhaupt dazugehört«, sagt Volker, der Personaler. »Weder meine Familie noch ›das System‹ konnten mir aufzeigen, wie ich an mein Abi komme«, sagt Stefan, der ehemalige Hartz-IV-Empfänger. Ich sage, ich bin hier wegen Herrn Proksch und weil es nicht sein kann, dass Bildungsaufstieg vom Milieu der Eltern abhängt. Uns alle eint eine Erfahrung, die wir auf unserem Weg nach oben gemacht haben: »Das Geld war knapp« – der Satz fällt in Variationen immer wieder.

      Im Café Telos kommen die »Arbeiterkinder« zusammen, um zu überlegen, wie sie helfen können, Kindern von Nichtakademikern den Weg zu Abitur und Hochschulabschluss zu erleichtern. Sie sind so etwas wie Bildungs-Streetworker, halten Vorträge an Schulen, vermitteln Praktikumsplätze in Unternehmen, geben Ratschläge, wie sich ein Studium finanzieren lässt.

      Auch Adam Egerer ist einer von ihnen. 32 Jahre ist er alt, Sohn eines tschechischen Einwandererpaares. Über das Abendgymnasium schaffte er es zum Abitur, inzwischen steht er kurz vor dem ersten juristischen Staatsexamen.

      Ein paar Tage nach dem Treffen im Café Telos bin ich mit ihm im Münchner Hochhausviertel Neuperlach verabredet, das vor 15 Jahren bundesweit bekannt wurde als Heimat von Mehmet, einem Jungen, der mit 13 Jahren 60 Straftaten angesammelt hatte und dann in die Türkei abgeschoben wurde. Adam ist hier aufgewachsen.

      Jetzt steht er vor McDonald’s, wie vor zehn, fünfzehn Jahren, als er sich hier mit seinen Freunden traf. Damals konnte man an diesem tristen Ort auch Ahmet und Yussuf begegnen: Hauptschülern, die mit Spraydosen die Zahl 83 auf Hauswände sprühten, die ersten beiden Ziffern der Postleitzahl von Neuperlach. Später fingen sie an, Kokain zu verticken, das man hier »Jay« nennt. Heute verbringen Ahmet und Yussuf ihre Zeit noch immer vor McDonald’s.

      Jeder junge Mensch will etwas aus seinem Leben machen. Jedes Kind hat Träume, Wünsche, Vorbilder. Wem aber mit zehn, zwölf Jahren gesagt wird, es komme für ihn nur die Hauptschule infrage, weil er für alles andere zu dumm sei, der hat nur eine Möglichkeit, seine Selbstachtung nicht zu verlieren: Er muss sich einreden, Bildung sei Unsinn, und sich andere Aufstiegsmodelle suchen. »Ich fand es damals cool, vor McDonald’s rumzuhängen«, sagt Adam Egerer. »Ich dachte, ich brauche die Schule nicht. Gymnasiasten waren für uns Spackos.«

      Mir


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