Aufstieg durch Bildung?. DIE ZEIT

Aufstieg durch Bildung? - DIE ZEIT


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ich sie jetzt mal, die auf der Hauptschule blieben. Ich selbst machte gegen den Willen meiner Mama und die Empfehlung von Herrn Proksch die Aufnahmeprüfung für die Realschule und bestand.

      Für Daniel und Michael dagegen wurden auf der Hauptschule aus Realschülern und Gymnasiasten bald »die Asis«. Noch so ein Begriff aus der Jugendsprache der Neunziger, mit dem man sich über andere erhob. Kurioserweise benutzten die Gymnasiasten denselben Ausdruck für die Hauptschüler.

      Später trugen Daniel und Michael dann Aufnäher der damals bei Rechtsradikalen beliebten Band Böhse Onkelz auf ihren Jeansjacken und flochten sich weiße Schuhbänder in ihre Stiefel. Sie waren nicht ernsthaft ausländerfeindlich, eher wollten sie die Verachtung all derer da oben zeigen. Heute sind sie Fabrikarbeiter, lesen in der Mittagspause Bild und gehen sonntags Karpfen angeln.

      Gut möglich, dass Ahmet und Yussuf, Daniel und Michael selbst dann nicht bis zum Abitur gekommen wären, wenn man sie gefördert hätte. Ich behaupte nicht, dass jeder die gleichen Fähigkeiten hat. Das Problem in Deutschland ist nur, dass es zu viele Menschen gibt, die gar keine Chance kriegen, ihr Können zu zeigen. Wollen sie es doch nach oben schaffen, müssen sie sich mühsam hochkämpfen. So wie Adam Egerer.

      Als wir von McDonald’s hinübergehen zu seinem ehemaligen Zuhause, einem heruntergekommenen Hochhaus neben einer Polizeistation, die wegen der Gewalt- und Drogendelikte in Neuperlach errichtet wurde, erzählt er, wie es damals mit ihm weiterging.

      Adam fing nach der Hauptschule bei einem IT-Unternehmen an, er verkaufte Drucker. Abends nach der Arbeit lief er auf den Wohnblock zu, mit Hunderten übereinandergestapelten Wohnungen. »Bienenwaben« nannte er sie. Jeden Morgen verließ er seine Wabe wieder, um Drucker zu verkaufen. Es hätte ewig so weitergehen können.

      Es waren viele Kleinigkeiten, die sein Leben schrittweise änderten. Das Gefühl, dass die Menschen in anderen Stadtteilen glücklicher dreinschauten. Die Lieder des afroamerikanischen Rappers Tupac Shakur, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte und die Bedeutung einer guten Bildung betonte. Die Erkenntnis, dass man wohl kaum auf einen Grabstein schreiben würde: »Hier ruht Adam Egerer, und die Drucker, die er verkaufte, waren hervorragend.«

      Adam brach aus. Anstatt weiter jeden Abend RTL2 zu gucken, ging er nach der Arbeit aufs Abendgymnasium. Es folgten Abitur und Studium. Bald wird er hoffentlich das Staatsexamen bestehen und als Anwalt arbeiten. Das ist sein Ziel.

      Im Gegensatz zu Adam hatte ich es trotz Herrn Prokschs Prognose immerhin auf die Realschule geschafft. Ich war jetzt Teil der ländlichen Mittelschicht, aber auch mein restliches Leben schien so vorhersehbar wie anspruchslos: die Schule abschließen, eine Ausbildung machen, im Idealfall als Bankkaufmann, ein Auto kaufen, jedes Wochenende die Felgen polieren und am Abend zu viel Bier trinken.

      Es mag an einer angeborenen Trotzigkeit liegen, dass ich anfing, von etwas anderem zu träumen. Noch mehr Spaß, als Fußball zu spielen, machte es mir damals, mein eigenes Spiel zu kommentieren. Waren einst Diego Maradona und Jürgen Klinsmann meine Vorbilder gewesen, eiferte ich jetzt, nun ja, Heribert Faßbender nach. Ich wollte Sportjournalist werden.

      Dann, gegen Ende der Realschule, jenes Elterngespräch bei Herrn Proksch lag lange zurück, sollte eine Begegnung mit einem weiteren Mann mein Leben verändern. Ein netter Herr im grauen Anzug, dessen Namen ich vergessen habe. Ich traf ihn nur ein oder zwei Mal in der neunten Klasse. Er kam vom Arbeitsamt, wie die heutige Bundesagentur für Arbeit damals hieß. Er sollte uns bei der Berufswahl unterstützen.

      Also erzählte ich ihm von meinem Wunsch, Journalist zu werden. Fast traurig sah er mich an und sagte: »Herr Maurer, fangen Sie nicht an zu träumen.«

      Er fragte mich, was meine Eltern von Beruf seien. Dann sagte er: »Herr Maurer, wie wäre es denn mit etwas Vernünftigem? Haben Sie niemanden in der Familie, der etwas für Sie hat?«

      Doch, hatte ich. Mein Schwager arbeitet noch heute in einer großen Molkerei. Entmutigt von Herrn Proksch und dem grauen Herrn vom Arbeitsamt, fand ich mich damit ab, dass das mit dem Journalismus nichts werden würde.

      Also wurde ich Molkereifachmann.

      Zwar fand ich am ersten Tag meiner Ausbildung meine erste große Liebe, aber glücklich wurde ich weder mit ihr noch mit meinem Beruf. Als ich mich nach der Lehre entschloss, das Abitur nachzuholen, stieß ich auf Unverständnis. Im Sportverein, unter Elektrikern, Friseuren und Gärtnern, war ich ab sofort »der Student.« Das hieß so viel wie: der Exot, der Spinner, der nichts arbeitet, vielleicht nie arbeiten wird.

      Schlimmer aber war, dass meine Mama mich jahrelang fragte, warum ich mein gut bezahltes Facharbeiter-Leben, meinen sicheren Arbeitsplatz, mein geregeltes Einkommen gegen eine unsichere Zukunft eintauschte. Heute sehe ich in ihren Fragen Schicksalsergebenheit. In Familien wie meiner ist nicht die Verwirklichung eines Berufstraums das höchste Gut, sondern eine sichere Existenz, ein Haus, ein Auto, ein Konto bei der Sparkasse.

      Ein paar Tage nach meinem Treffen mit Adam Egerer in Neuperlach sitze ich im Wohnzimmer des ersten Menschen, der mir auf dem Weg in Richtung Bildungsaufstieg wirklich geholfen hat. Es ist Frau Galli, meine Lehrerin im Deutsch-Leistungskurs auf dem Bayernkolleg in Augsburg. Dort habe ich mein Abitur nachgeholt. Am Abend der Abschlussfeier sagte sie zu mir, nachdem ich ihr von meinem alten Berufswunsch erzählt hatte: »Herr Maurer, Sie würden einen ausgezeichneten Journalisten abgeben.« Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein Traum vielleicht Wirklichkeit werden könnte.

      Frau Galli hat zwei Kuchen gebacken und serviert Tee aus einer britischen Porzellankanne. Zu meiner Linken steht ein Klavier, auf dem Boden liegen schwere Teppiche, im Regal: hohe Literatur und Schallplatten mit klassischer Musik. Frau Galli sitzt in einem tiefen Sessel, und ich sage: »Jede moderne Schule sollte ihren Schülern ein frei zugängliches Tageszeitungs-Abo anbieten. Das kostet der Schule kein Vermögen. Finden Sie nicht auch?« Frau Galli korrigiert mich: »Die Schule. Es kostet die Schule kein Vermögen. Akkusativ!«

      Frau Galli ist mittlerweile pensioniert. Zu meiner Schulzeit, vor zehn Jahren, war sie gefürchtet. Einer meiner ehemaligen Mitschüler nennt sie heute noch einen »alten Drachen«. Mir aber hat sie Freude am Lernen vermittelt.

      Frau Galli hat uns – zumeist Kinder von Handwerkern oder Einwanderern – mit Büchern wie Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob traktiert, einem Roman, der selbst für manche Literaturkritiker schwer zu durchdringen ist. Sie hat uns überfordert, aber auf eine Art, dass wir Lust bekamen, klüger zu werden. »Hätte ich mich nach dem Lehrplan gerichtet, hätte ich dafür keine Zeit gehabt«, sagt Frau Galli heute. Damals schärfte sie uns ein: »Wenn es Ihnen gefallen hat, bloß niemandem weitersagen! Sonst bekomme ich Ärger.«

      Besonders engagierten Französischklassen gab sie ab und an zusätzliche Stunden, bis der Direktor sie rügte: Das sei ungerecht gegenüber anderen Klassen. Also verheimlichte sie auch die Zusatzstunden. Heute sagt sie: »Da ist doch im System was falsch: Wer mehr lernen will, wird bestraft.«

      Der zweite Wegbereiter zu meinem heutigen Beruf war die Süddeutsche Zeitung, die in der Cafeteria der Schule auslag – ein Fenster in eine unbekannte Welt. Nun begriff ich, wie Politik funktioniert, was Kultur bedeutet. Deshalb meine Idee mit dem Zeitungs-Abo.

      Mit 22 Jahren habe ich zum ersten Mal in einem richtigen Theater gesessen. Die Welt war danach eine andere, klarer und komplexer, heller und dunkler zugleich. Bildung macht glücklich, das habe ich damals erfahren.

      Auch bei Adam ist dieses Fenster während seiner Zeit im Abendgymnasium aufgegangen. Die Lehrer, die Bücher, die Zeitungen haben Nachteile unseres Elternhauses ausgeglichen. Bildungsforscher sehen das als Kernaufgabe einer modernen Schule: eine Lernumgebung zu schaffen, die Begabungen weckt und fördert. Schulen können soziale Unterschiede nivellieren. Aber tun sie das auch?

      An einem Dienstagmorgen um 7.45 Uhr stehe ich mit zwei weiteren »Arbeiterkindern« – Vanessa, Tochter eines Einzelhandelkaufmanns, und Wolfgang, Sohn eines Anstreichers – vor einer Mädchenrealschule in München. Der Elternsprecher hat sich an die Initiative aus dem Café Telos gewandt und uns um einen Vortrag gebeten. Er hat festgestellt: Viele Kinder an der Realschule übernehmen die Berufswünsche der Eltern. Denken sie doch weiter, bekommen sie keine


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