Erniedrigte und Beleidigte. Fjodor Dostojewski
werde dann nur nicht stolz, Iwan Petrowitsch!« fügte Anna Andrejewna lachend hinzu.
»Verleihe ihm nur recht schnell einen hohen Orden, Papachen; denn bloß Attaché ist doch ein bißchen wenig.«
Dabei kniff sie mich wieder in den Arm.
»Dieses Mädchen muß sich doch immer über mich lustig machen!« rief der Alte und blickte entzückt seine Natascha an, deren Bäckchen brannten und deren Äuglein wie zwei Sternchen lustig glänzten. »Ich bin, wie es scheint, wirklich etwas zu weit gegangen, Kinder; ich habe mich in die Wolken verstiegen; ich bin immer so gewesen . . . Aber weißt du, Wanja, sehe ich dich so an: was bist du für ein einfacher Mensch . . .«
»Ach, mein Gott! Wie soll er denn sein, Papachen?«
»Nein, nein, ich drücke mich falsch aus. Ich meine nur, Wanja, du hast so ein Gesicht . . . das heißt sozusagen ein ganz unpoetisches Gesicht. Weißt du, man sagt, die Dichter, das sind solche blassen Menschen, und sie haben solche Haare, und es liegt so etwas in ihren Augen. Weißt du, ich denke da an Goethe und andere; ich habe das im ›Abbadona‹ gelesen. Aber wie ist's? Habe ich da wieder etwas Dummes geschwatzt? Nun sieh einer die Schelmin; sie will sich ordentlich ausschütten vor Lachen über mich! Ich bin kein Gelehrter, meine Lieben: ich kann nur meinem Gefühl folgen. Na, lassen wir dein Gesicht; was man für ein Gesicht hat, das ist schließlich kein Unglück; mir ist deins hübsch genug, und es gefällt mir sehr. In dem Sinn habe ich es nicht gesagt. Sei nur ein ehrenhafter Mensch, Wanja, ein ehrenhafter Mensch, das ist die Hauptsache; lebe ehrenhaft; überhebe dich nicht! Du hast freie Bahn vor dir. Diene ehrenhaft deinem Beruf; das ist's, was ich sagen wollte; das ist's, was ich eigentlich sagen wollte!«
Es war eine wundervolle Zeit! Alle meine freien Stunden, alle Abende verlebte ich bei ihnen. Dem Alten brachte ich Nachrichten aus der literarischen Welt, über alle möglichen Schriftsteller; denn er hatte auf einmal aus nicht recht verständlichem Grund angefangen, sich für diese lebhaft zu interessieren; er hatte sogar angefangen, die kritischen Artikel B.s zu lesen, über den ich ihm vieles mitgeteilt hatte; er verstand sie fast gar nicht, lobte ihn aber begeistert und schalt grimmig auf seine Feinde, die in der »Nordischen Biene« schrieben. Die alte Frau hatte ein scharfes Auge auf mich und Natascha, konnte uns aber doch nicht immer beaufsichtigen! Wir hatten schon ein wichtiges kleines Gespräch miteinander gehabt, und ich hatte endlich gehört, wie Natascha mit gesenktem Köpfchen und nur halb geöffneten Lippen fast flüsternd zu mir »ja« sagte. Aber auch die Eltern erfuhren dies: sie errieten es, sie dachten es sich. Anna Andrejewna schüttelte lange den Kopf. Eine seltsame Bangigkeit überkam sie; sie setzte auf mich kein rechtes Vertrauen.
»Solange du Erfolg hast, ist ja alles schön und gut, Wanja«, sagte sie. »Aber wenn nun eines Tages der Erfolg ausbleibt oder sonst etwas passiert, was dann? Wenn du doch irgendwo im Staatsdienst eine Anstellung hättest!«
»Hör mal zu, was ich dir sagen werde!« ließ sich der Alte nach einigem Nachdenken vernehmen. »Ich habe es auch selbst gesehen, es bemerkt und, offen gestanden, mich sogar darüber gefreut, daß du und Natascha . . . na, was ist da weiter zu sagen! Siehst du, Wanja, ihr seid beide noch sehr jung, und meine Anna Andrejewna hat ganz recht. Warten wir noch ein Weilchen! Du besitzt allerdings Talent, sogar ein bemerkenswertes Talent . . . na, ein Genie bist du nicht, wie die Leute zuerst schrien; du hast eben einfach Talent (ich habe da gerade heute eine Kritik über dich in der »Nordischen Biene« gelesen; da haben sie dir sehr übel mitgespielt; aber was ist das auch für ein Schandblatt!). Ja! Also siehst du: wenn man Talent hat, so hat man darum noch nicht ein hübsches Kapital bei der Bank; ihr seid beide arm. Warten wir noch so anderthalb Jahre oder wenigstens ein Jahr: wenn du deinen Weg machst und festen Ganges auf deiner Bahn vorwärtsschreitest, so ist Natascha die Deine; gelingt es dir nicht, so wirst du dir das Nötige selbst sagen! Du bist ein ehrenhafter Mensch; denk über die Sache nach!«
Dabei blieb es. Aber nach einem Jahr stand die Sache folgendermaßen:
Ja, es war fast genau ein Jahr darauf! Am Spätnachmittag eines hellen Septembertages kam ich, krank und voll tiefen Herzwehs, zu dem alten Ehepaar und sank beinah ohnmächtig auf einen Stuhl, so daß sie mich ganz erschrocken ansahen. Aber nicht deshalb war mir der Kopf so schwindlig und das Herz so beklommen, daß ich zehnmal an ihre Tür herangekommen und zehnmal wieder umgekehrt war, nicht deshalb, weil meine Karriere mir nicht geglückt war und ich immer noch weder Ruhm noch Geld besaß; nicht deshalb, weil ich noch nicht »Attaché« geworden war und viel daran fehlte, daß man mich zur Wiederherstellung meiner Gesundheit nach Italien geschickt hätte; sondern deshalb, weil man in einem einzigen Jahr zehn Jahre durchleben kann und meine Natascha wirklich in diesem einen Jahr zehn Jahre durchlebt hatte. Ein unendlicher Raum lag zwischen uns. Und so saß ich denn damals dem alten Ichmenew gegenüber, schwieg und zerknickte in meiner Zerstreuung mit der Hand die Krempe meines Hutes, die auch ohnehin schon arg zerbrochen war; ich saß da und wartete, ohne zu wissen warum, darauf, daß Natascha hereinkäme. Mein Anzug war kläglich und saß mir schlecht; im Gesicht war ich mager und gelb geworden, war aber dennoch einem Dichter nicht im entferntesten ähnlich, und in meinen Augen lag nichts Großartiges, worüber sich der gute Nikolai Sergejewitsch einstmals seine Sorgen gemacht hatte. Die alte Frau sah mich mit unverhohlenem und gar zu eiligem Mitleid an und dachte im stillen:
»Und der wäre beinah Nataschas Bräutigam geworden! Gott behüte und bewahre uns!«
»Wie ist's, Iwan Petrowitsch?« sagte sie. »Willst du nicht Tee trinken?« (Der siedende Samowar stand auf dem Tisch.) »Wie ist denn dein Befinden, lieber Freund? Du siehst ganz krank aus«, fügte sie in klagendem Ton hinzu; ich höre sie, als ob es heute wäre.
Und als ob es heute wäre, sehe ich sie: sie redete so mitleidig zu mir; aber in ihren Augen war noch eine andere Sorge sichtbar, ebendieselbe Sorge, die auch ihren Mann bedrückte, so daß er jetzt vor seiner kalt gewordenen Tasse Tee saß und in Gedanken versunken war. Ich wußte, daß ihnen jetzt der übel verlaufende Prozeß mit dem Fürsten Walkowski Sorge bereitete und daß ihnen noch andere Unannehmlichkeiten zugestoßen waren, die den alten Nikolai Sergejewitsch hart angegriffen und ordentlich krank gemacht hatten. Der junge Fürst, um dessentwillen diese ganze häßliche Prozeßgeschichte entstanden war, hatte vor fünf Monaten eine Gelegenheit gefunden, zu Ichmenews ins Haus zu kommen. Der Alte, der »seinen lieben Aljoscha« wie einen eigenen Sohn liebte und fast täglich an ihn gedacht hatte, nahm ihn mit Freuden auf. Anna Andrejewna mußte wieder an Wassiljewskoje denken und zerfloß in Tränen. Aljoscha kam nun immer häufiger zu ihnen, ohne Wissen seines Vaters; Nikolai Sergejewitsch, als ehrlicher, gerader, offenherziger Mann, wies entrüstet alle Vorsichtsmaßregeln zur Verheimlichung dieser Besuche zurück. In edlem Stolz kümmerte er sich nicht darum, was der Fürst sagen werde, wenn er erführe, daß sein Sohn wieder bei Ichmenews verkehre, und verachtete im stillen den törichten Verdacht, den der Fürst hegen könnte. Aber der Alte hatte nicht bedacht, ob auch seine Kraft dazu ausreichen werde, neue Beleidigungen zu ertragen. Bald kam der junge Fürst täglich zu ihnen. Das Zusammensein mit ihm machte sie heiter und fröhlich. Die ganzen Abende und bis lange nach Mitternacht saß er bei ihnen. Natürlich erfuhr der Vater schließlich dies alles in Form einer widerwärtigen Klatscherei. Er beleidigte Nikolai Sergejewitsch durch einen abscheulichen Brief über dasselbe Thema wie früher und untersagte dem Sohn auf das strengste den weiteren Verkehr mit Ichmenews. Dies hatte sich zwei Wochen vor dem Besuch, den ich ihnen machte, zugetragen. Der alte Mann war furchtbar traurig. Wie! seine Natascha, seine unschuldige, edle Tochter, sollte wieder in diese schmutzige Verleumdung, in diese Gemeinheit hineingezogen werden! Ihr Name wurde in beleidigender Weise von dem Menschen ausgesprochen, der ihn auch früher schon verunehrt hatte! Und hierfür keine Genugtuung erlangen zu können! In den ersten Tagen hatte er sich vor Verzweiflung ins Bett gelegt. All dies wußte ich. Die ganze häßliche Geschichte war mir in allen Einzelheiten bekannt geworden, obgleich ich, krank und niedergeschlagen, die letzte Zeit über, drei Wochen lang, mich bei ihnen nicht hatte blicken lassen und in meiner Wohnung bettlägerig gewesen war. Aber ich wußte auch (nein! ich ahnte es damals nur erst, oder vielmehr ich wußte es, wollte es aber nicht glauben), daß es außer dieser unangenehmen Sache noch etwas gab, was sie mehr als alles andere beunruhigen mußte, und ich beobachtete sie mit qualvoller Sorge. Ja, ich litt Qualen; ich fürchtete mich, die Wahrheit zu erraten; ich fürchtete mich, sie zu glauben, und suchte aus aller