Erniedrigte und Beleidigte. Fjodor Dostojewski

Erniedrigte und Beleidigte - Fjodor Dostojewski


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wird er dich gar nicht heiraten, Natascha?«

      »Er hat es versprochen, er hat alles Mögliche versprochen. Er hat mich ja eben deswegen jetzt herbestellt, damit wir uns gleich morgen im stillen außerhalb der Stadt trauen lassen; aber er weiß ja gar nicht, was er tut. Er weiß vielleicht nicht einmal, wie man sich trauen läßt. Und was wird er für ein Ehemann sein! Wirklich, eine lächerliche Vorstellung! Wenn er sich aber mit mir verheiratet, so wird er unglücklich werden und anfangen, mir Vorwürfe zu machen. Ich will aber nicht, daß er mir jemals irgendwelche Vorwürfe macht. Ich will ihm alles geben, er aber soll mir nichts geben. Wenn er also durch die Heirat mit mir unglücklich wird, warum soll ich ihn dann unglücklich machen?«

      »Nein, das ist Wahnwitz, Natascha«, sagte ich. »Gehst du jetzt geradenwegs zu ihm?«

      »Nein, er hat versprochen, hierherzukommen und mich abzuholen; so haben wir es verabredet.«

      Sie spähte mit gespanntem Blick in die Ferne, aber es war noch niemand zu sehen.

      »Und er ist noch nicht da! Und du bist zuerst gekommen!« rief ich empört.

      Natascha taumelte wie von einem Schlag getroffen. Ihr Gesicht verzog sich schmerzlich.

      »Vielleicht kommt er überhaupt nicht«, sagte sie mit einem bitteren Lächeln. »Vorgestern schrieb er mir, wenn ich ihm nicht verspräche zu kommen, so müsse er notgedrungen seine Absicht, sich mit mir trauen zu lassen, aufschieben; dann werde ihn aber sein Vater zu jener jungen Dame mitnehmen. Und das schrieb er so einfach und harmlos, als ob das weiter nichts zu bedeuten hätte . . . Wie nun, wenn er wirklich zu ihr hingefahren ist, Wanja?«

      Ich antwortete nicht. Sie drückte fest meine Hand; ihre Augen funkelten.

      »Er ist bei ihr«, sagte sie kaum hörbar. »Er hoffte auf mein Ausbleiben, um zu ihr fahren und dann sagen zu können, er sei im Recht; er habe mich vorher auf die Folgen hingewiesen, und ich sei trotzdem fortgeblieben. Ich bin ihm langweilig geworden; darum kommt er nicht . . . O Gott! Ich Wahnsinnige! Er hat mir ja das letztemal selbst gesagt, daß ich ihm langweilig geworden sei . . . Wozu warte ich noch?«

      »Da ist er!« rief ich, da ich ihn plötzlich in der Ferne in der Uferstraße erblickte.

      Natascha fuhr zusammen, schrie auf, erspähte den sich nähernden Aljoscha, ließ auf einmal meine Hand los und eilte ihm entgegen. Auch er beschleunigte seine Schritte, und einen Augenblick darauf lag sie schon in seinen Armen. Außer uns befand sich fast niemand auf der Straße. Sie küßten sich und lachten; Natascha lachte und weinte, alles durcheinander, als ob sie einander nach einer wer weiß wie langen Trennung wiedersähen. Eine helle Röte überzog ihre blassen Wangen; sie war in einer Art von Verzückung . . . Aljoscha bemerkte mich und trat sogleich zu mir.

      Ich musterte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit, obgleich ich ihn vorher schon oft gesehen hatte; ich schaute ihm in die Augen, als ob sein Blick alle meine Zweifel lösen und mir die Frage beantworten könnte, wodurch und auf welche Weise dieses Kind sie hatte bezaubern und in ihr eine so sinnlose Liebe hatte erwecken können, daß sie darüber ihre erste Pflicht vergaß und ohne Bedenken alles zum Opfer brachte, was ihr bisher das Heiligste gewesen war. Der Fürst ergriff meine beiden Hände und drückte sie kräftig; sein milder, klarer Blick drang mir tief ins Herz.

      Ich fühlte, daß ich mich in meinem Urteil über ihn schon allein deswegen hatte irren können, weil er mein Feind war. Ja, ich liebte ihn nicht, und ich muß bekennen: ich habe ihn niemals liebgewinnen können, vielleicht als der einzige Mensch unter allen, die ihn kannten. Vieles an ihm mißfiel mir entschieden, sogar sein elegantes Äußeres, und vielleicht gerade deswegen, weil es gewissermaßen allzu elegant war. In der Folge habe ich eingesehen, daß ich in diesem Punkte parteiisch urteilte. Er war hochgewachsen, wohlgestaltet und schlank, hatte ein längliches, immer blasses Gesicht, blondes Haar und große, blaue, sanfte, nachdenkliche Augen, in denen manchmal plötzlich die gutherzigste, kindlichste Heiterkeit aufleuchtete. Seine vollen, kleinen, roten, sehr schön geschnittenen Lippen zeigten fast immer einen ernsten Zug; um so überraschender und bezaubernder wirkte ein plötzlich auf ihnen erscheinendes Lächeln, das so naiv und gutmütig war, daß der andere, in welcher Gemütsstimmung er sich auch befinden mochte, ein unmittelbares Bedürfnis empfand, zur Erwiderung ganz ebenso zu lächeln wie er. Er kleidete sich nicht auffallend, aber immer elegant; es war deutlich zu sehen, daß ihn diese Eleganz in allen Dingen nicht die geringste Mühe kostete, sondern ihm angeboren war.

      Allerdings besaß er auch einige üble Eigenschaften, einige schlechte Gewohnheiten des guten Tons: Leichtsinn, Selbstgefälligkeit, höfliche Dreistigkeit. Aber er hatte ein klares, schlichtes Gemüt und war selbst der erste, diese Gewohnheiten an sich zu erkennen, sie zu bereuen und sich darüber lustig zu machen. Mir scheint, dieses Kind hätte niemals, nicht einmal im Scherze, lügen können, und selbst wenn er es getan hätte, so doch ohne zu ahnen, daß das etwas Schlechtes sei. Sogar sein Egoismus hatte etwas Reizvolles, vielleicht besonders deswegen, weil er ganz offen und nicht versteckt war. Verstecktes war überhaupt nicht an ihm. Er war schwach, zutraulich und schüchtern; an Willenskraft mangelte es ihm durchaus. Ihn zu kränken, zu betrügen wäre sündhaft und unwürdig gewesen, geradeso wie es sündhaft ist, ein Kind zu betrügen und zu kränken. Er war von einer Naivität, die zu seinem Lebensalter wenig stimmte, und verstand fast nichts vom wirklichen Leben; übrigens meine ich, daß er auch im Alter von vierzig Jahren noch nichts davon verstanden hätte. Solche Menschen sind sozusagen zu lebenslänglicher Unmündigkeit verurteilt. Ich glaube, es mußte ihn jeder Mensch liebgewinnen; er schmeichelte sich bei einem ein wie ein Kind. Natascha hatte die Wahrheit gesagt: er wäre imstande gewesen, auch eine schlechte Handlung zu begehen, wenn der starke Einfluß eines andern ihn dazu veranlaßt hätte; aber sobald er die Folgen einer solchen Handlung erkannt hätte, wäre er, meine ich, vor Reue gestorben. Natascha fühlte instinktiv, daß sie seine Herrin und Gebieterin sein werde, ja sogar er ihr Opfer. Sie kostete im voraus die Wonne, sinnlos zu lieben und den Geliebten gerade zur Strafe dafür, daß man ihn liebt, grausam zu quälen, und eilte vielleicht eben deswegen, sich ihm zuerst zum Opfer zu bringen. Aber auch in seinen Augen glänzte Liebe, und er schaute sie voll Entzücken an. Sie warf mir einen triumphierenden Blick zu. Sie hatte in diesem Augenblick alles vergessen: die Eltern und den Abschied und die Verdächtigungen . . . Sie war glücklich.

      »Wanja«, rief sie, »ich habe ihm unrecht getan und bin seiner nicht wert! Ich dachte, du würdest nicht mehr kommen, Aljoscha. Vergiß meine schlechten Gedanken, Wanja! Ich werde es wiedergutmachen!« fügte sie, ihn mit grenzenloser Liebe anblickend, hinzu.

      Er lächelte, küßte ihr die Hand und sagte, ohne ihre Hand loszulassen, zu mir gewendet:

      »Denken Sie auch von mir nicht schlecht! Schon längst hatte ich gewünscht, Sie wie einen Bruder zu umarmen; sie hat mir soviel von Ihnen erzählt! Wir sind ja bisher kaum miteinander bekannt geworden und einander noch nicht nähergetreten. Wir werden Freunde sein, und . . . verzeihen Sie uns!« fügte er halblaut, ein wenig errötend, hinzu, aber mit einem so prächtigen Lächeln, daß ich nicht anders konnte, als seine Begrüßung von ganzem Herzen zu erwidern.

      »Ja, ja, Aljoscha«, sagte Natascha, »er ist der Unsrige; er ist unser Bruder; er hat uns schon verziehen, und ohne ihn können wir nicht glücklich sein. Das habe ich dir schon gesagt . . . Ach, wir sind schlimme Kinder, Aljoscha! Aber wir werden zu dreien leben . . . Wanja«, fuhr sie fort, und ihre Lippen bebten, »kehre du jetzt gleich zu ihnen nach Hause zurück; du hast ein so goldenes Herz: wenn sie sehen, daß du mir verziehen hast, werden auch sie vielleicht, wenn sie mir auch nicht verzeihen, doch wenigstens etwas milder gegen mich gestimmt werden. Erzähle ihnen alles, alles, in deiner eigenen, herzlichen Ausdrucksweise; du wirst schon die richtigen Worte finden . . . Verteidige mich, rette mich; teile ihnen alle Gründe mit; lege ihnen alles so dar, wie du es selbst verstanden hast. Weißt du, Wanja, ich hätte mich zu diesem Schritt vielleicht nicht entschlossen, wenn es sich nicht zufällig so getroffen hätte, daß du heute mit mir gingst! Du bist meine Rettung: ich habe gleich auf dich meine Hoffnung gesetzt, daß du verstehen würdest, ihnen die Sache so mitzuteilen, daß ihnen wenigstens der erste Schreck etwas gemildert wird. O mein Gott, mein Gott! . . . Bestelle ihnen von mir, ich wüßte, daß ich jetzt


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