Erniedrigte und Beleidigte. Fjodor Dostojewski

Erniedrigte und Beleidigte - Fjodor Dostojewski


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Mädchen nicht abgeneigt sei und dem Vernehmen nach sich sogar in sie verliebt habe. Ich fügte noch hinzu, daß Nataschas Brief, soweit man darüber etwas vermuten könne, in großer Aufregung geschrieben sei; sie schreibe, heute abend werde sich alles entscheiden; aber was eigentlich, das sage sie nicht; sonderbar sei auch, daß sie vom gestrigen Tage schreibe, aber mich auffordere, heute zu kommen, und eine bestimmte Stunde, neun Uhr, bezeichnet habe. Deshalb müsse ich unbedingt hingehen, und zwar so bald wie möglich.

      »Geh hin, geh hin, lieber Freund, geh unbedingt hin!« sagte die alte Frau eifrig. »Sobald mein Mann wieder hereinkommt, trink eine Tasse Tee mit uns! . . . Ach, der Samowar ist ja noch nicht gebracht! Matrjona! Wo bleibt denn der Samowar! Bist du eine nachlässige Person! . . . Na, wenn du also ein Täßchen Tee getrunken hast, dann erfinde einen anständig aussehenden Vorwand und geh weg! Morgen aber komm unter allen Umständen zu mir und erzähle mir alles! Und komm nur ja recht früh! O Gott, wenn nur da kein Unglück vorgefallen ist! Man weiß freilich nicht, was noch schlimmer sein könnte, als wie es jetzt schon ist! Nikolai Sergejewitsch hat offenbar schon alles erfahren; das sagt mir mein Herz. Ich für meine Person erfahre ja vieles durch Matrjona, und die durch Agascha; Agascha aber ist ein Patenkind von Marja Wassiljewna, die bei dem Fürsten im Haus wohnt . . . na, das weißt du ja alles selbst. Heute war mein Nikolai furchtbar zornig. Ich wollte von diesem und jenem zu reden anfangen, aber er fuhr mich ordentlich an. Nachher tat es ihm leid, und er sagte, wir hätten so wenig Geld; er wollte den Anschein erwecken, als habe er mich des Geldes wegen so angefahren. Na, du weißt ja, in welcher Lage wir uns befinden. Nach dem Mittagessen ging er auf sein Zimmer, als wenn er schlafen wollte. Ich blickte durch eine Ritze zu ihm hinein (es ist da so eine Ritze in der Tür, er weiß nichts davon); da lag mein lieber Mann vor dem Heiligenschrein auf den Knien und betete. Als ich das sah, wäre ich fast umgesunken. Ohne geschlafen und ohne Tee getrunken zu haben, nahm er seinen Hut und ging weg. Zwischen vier und fünf ging er. Ich wagte nicht, ihn zu fragen; er hätte mich doch nur angefahren. Er fährt einen jetzt überhaupt häufig an, am meisten Matrjona, aber auch mich; und wenn er mich anfährt, knicken mir immer gleich die Beine ein, und das Herz wird mir schwach. Es ist ja bei ihm nur äußerlich; ich weiß, daß es nur äußerlich ist; aber es ist doch schrecklich. Als er weggegangen war, habe ich eine ganze Stunde lang gebetet, Gott möge ihm gute Gedanken eingeben. – Wo ist denn ihr Brief? Zeig ihn doch her!«

      Ich zeigte ihn ihr. Ich wußte, daß Anna Andrejewna einen heißen Wunsch hatte: Aljoscha, den sie bald einen Bösewicht, bald einen gefühllosen, dummen Jungen nannte, möchte endlich Natascha heiraten, und sein Vater, Fürst Pjotr Alexandrowitsch, möchte es ihm erlauben. Sie hatte diesen Wunsch sogar vor meinen Ohren unversehens ausgesprochen, es aber später bereut und ihre Wort geleugnet. Aber um keinen Preis hätte sie gewagt, ihre Hoffnungen in Nikolai Sergejewitschs Gegenwart auszusprechen, obgleich sie wußte, daß der Alte diese ihre Hoffnungen mutmaßte und ihr sogar mehrmals in versteckter Weise deswegen Vorwürfe gemacht hatte. Ich glaube, er hätte Natascha unwiderruflich verflucht und sie für immer aus seinem Herzen gerissen, wenn er erfahren hätte, daß eine solche Ehe möglich sei.

      So dachten wir damals alle. Er ersehnte die Rückkehr seiner Tochter von ganzem Herzen; aber sie sollte allein kommen, als eine Reuige, die alle Erinnerungen an ihren Aljoscha aus ihrem Herzen gerissen hatte. Das war die unerläßliche Bedingung der Verzeihung; er sprach diese Bedingung zwar nicht aus, aber wenn man ihn ansah, so erkannte man das in zweifelloser Weise.

      »Er ist charakterlos, ein charakterloser Knabe, charakterlos und hartherzig; das habe ich immer gesagt«, begann Anna Andrejewna wieder. »Und sie haben auch nicht verstanden, ihn zu erziehen; da ist er denn ein solcher windiger Patron geworden; zum Dank für soviel Liebe läßt er sie sitzen, Herr du mein Gott! Was soll nur aus der Ärmsten werden? Und was er an der Neuen gefunden hat, das ist mir unbegreiflich!«

      »Ich habe gehört, Anna Andrejewna«, erwiderte ich, »daß das junge Mädchen ein entzückendes Geschöpf ist, und auch Natalja Nikolajewna hat von ihr dasselbe gesagt . . .«

      »Glaube doch das nicht!« unterbrach mich die alte Frau. »Was wird sie denn für ein entzückendes Geschöpf sein? Für euch Tintenkleckser ist jede ein entzückendes Geschöpf, wenn sie nur ihre Röcke zu schlenkern versteht. Und wenn Natascha sie lobt, so tut sie das nur, weil sie ein so gutes, edles Herz hat. Sie versteht nicht, ihn festzuhalten; alles verzeiht sie ihm, und sie selbst leidet und leidet. Wie oft hat er sie schon betrogen! Was gibt es für hartherzige Bösewichter! Ich lebe in der größten Seelenangst, Iwan Petrowitsch. Der Stolz hat sie alle betört. Wenn nur mein Mann sich bezwingen und meinem lieben Kind verzeihen und sie wieder herholen möchte! Dann würde ich sie endlich wiedersehen und in meine Arme schließen! Ist sie abgemagert?«

      »Allerdings, Anna Andrejewna.«

      »Ach, mein armes, liebes Kind! Ich habe auch ein Unglück gehabt, Iwan Petrowitsch. Die ganze Nacht und den ganzen Tag habe ich heute geweint; den Grund werde ich dir nachher sagen. Unzählige Male habe ich meinem Mann beiläufig eine Andeutung gemacht, er möchte ihr doch verzeihen; geradezu wage ich es nicht; ich habe nur so ganz von weitem auf eine geschickte Manier die Rede darauf gebracht. Aber mein Herz will ganz verzagen: ich glaube, er wird in Zorn geraten und sie ganz und gar verfluchen! Eine Verfluchung habe ich bis jetzt noch nicht von ihm gehört, aber ich fürchte, daß es doch noch dazu kommt. Und was wird dann geschehen? Wenn der Vater sie verflucht hat, dann wird auch Gott sie strafen. Ist das ein Leben; jeden Tag zittre ich vor Angst. Aber auch du solltest dich schämen, Iwan Petrowitsch; du bist doch in unserem Haus aufgewachsen und hast von uns beiden alle elterliche Liebe erfahren: und da bekommst du es doch fertig, von einem entzückenden Geschöpf zu reden! Wie kannst du nur! Was wird sie denn für ein entzückendes Geschöpf sein? Da redet Marja Wassiljewna viel besser. (Ich habe einmal eine Sünde begangen und sie zum Kaffee eingeladen, als mein Mann den ganzen Vormittag in Geschäften ausgegangen war.) Sie hat mir das ganze Geheimnis enthüllt. Der Fürst, Aljoschas Vater, hat mit der Gräfin ein unerlaubtes Verhältnis unterhalten. Die Gräfin hat ihm schon seit langer Zeit, wie es heißt, Vorwürfe darüber gemacht, daß er sie nicht heirate; aber der Fürst ist immer ausgewichen. Diese Gräfin aber hat damals, als ihr Mann noch lebte, durch ihren schandbaren Lebenswandel Aufsehen erregt. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie ins Ausland: da verkehrte sie mit einer Menge italienischer und französischer Barone, und da verstand sie es auch, den Fürsten Pjotr Alexandrowitsch an sich zu ketten. Ihre Stieftochter aber, die Tochter ihres verstorbenen Mannes, eines Branntweinpächters, war inzwischen dem Kindesalter entwachsen. Die Gräfin, die Stiefmutter, brachte ihr eigenes Vermögen vollständig durch; aber Katerina Fjodorowna wuchs unterdessen heran, und die zwei Millionen Rubel, die ihr Vater, der Branntweinpächter, ihr bei der Bank hinterlassen hatte, wuchsen auch heran. Jetzt, sagt man, besitzt sie drei Millionen; und da hat sich nun der Fürst gesagt: ›Die sollte Aljoscha heiraten!‹ (Keine schlechte Spekulation! Er weiß auf seinen Vorteil zu setzen.) Der Graf, der vornehme Herr am Hofe, du erinnerst dich wohl, der Verwandte des Fürsten, war ebenfalls einverstanden; drei Millionen sind keine Kleinigkeit. ›Gut‹, sagte er, ›reden Sie mit dieser Gräfin!‹ Der Fürst teilte der Gräfin seinen Wunsch mit. Aber die widersetzte sich mit Händen und Füßen: sie ist ein Weib ohne Anstand, sagt man, ein rechter Zankteufel! Sie hat hier nicht in allen Familien Zutritt, sagt man; das ist hier anders als im Ausland. ›Nein‹, sagte sie, ›Fürst, du selbst mußt mich heiraten; meine Stieftochter kann nicht Aljoschas Frau werden.‹Wenn der Fürst die Gräfin heiratete, so konnte nach orthodoxem Kirchenrecht sein Sohn nicht mehr die Stieftochter der Gräfin heiraten, und umgekehrt; diese Ehe schloß die andere aus. Das Mädchen aber, die Stieftochter, ist ihrer Stiefmutter sehr ergeben, vergöttert sie beinahe und gehorcht ihr in allen Stücken. Man sagt, sie sei sanft und fügsam wie ein Engel! Der Fürst sah, um was es sich handelte, und sagte: ›Beunruhige dich nicht, Gräfin! Du hast dein Vermögen durchgebracht und Schulden gemacht, die du nicht bezahlen kannst. Aber wenn deine Stieftochter Aljoscha heiratet, so werden die beiden zueinander passen: sie ist naiv, und er ist ein Dummkopf; wir beide werden sie gleich von Anfang an unter unsere Vormundschaft nehmen; dadurch wirst auch du zu Geld kommen. Aber was nützt es dir‹, sagte er, ›mich zu heiraten?‹ So ein Schlaukopf! Der reine Freimaurer! So stand die Sache vor einem halben Jahr; die Gräfin konnte sich damals nicht entschließen; aber jetzt, sagt man, sind sie nach Warschau gefahren und haben sich da miteinander geeinigt. So habe ich das gehört. All das hat mir Marja


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