Erniedrigte und Beleidigte. Fjodor Dostojewski

Erniedrigte und Beleidigte - Fjodor Dostojewski


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Mütter und Väter willen. Aber freilich, welche Mutter wird auch ein Kind bei solchem Wetter hinausschicken, wenn sie nicht selbst unglücklich ist! . . . Gewiß hat sie da in ihrem elenden Kämmerchen noch andere vaterlose Waisen sitzen, und dies ist die älteste; sie selbst, die Mutter, ist krank; und . . . hm! Es sind keine Fürstenkinder! Es gibt auf der Welt viele Kinder, Wanja, die keine Fürstenkinder sind! Hm!«

      Er schwieg eine Weile, wie wenn es ihm Schwierigkeiten machte, das, was er noch sagen wollte, auszusprechen.

      »Siehst du, Wanja«, begann er dann etwas verwirrt und stockend, »ich habe meiner Frau versprochen, das heißt, ich bin mit Anna Andrejewna übereingekommen, ein Waisenmädchen zur Erziehung anzunehmen, ein armes Kind, ein kleines Kind, ins Haus, ganz und gar; du verstehst? Sonst ist es uns alten Leuten doch gar zu langweilig, so allein, hm! . . . Aber, siehst du, Anna Andrejewna ist dagegen. Also rede du mit ihr darüber, weißt du, nicht so, als ob ich dich dazu veranlaßt hätte, sondern als ob du es von selbst tätest . . . überrede sie dazu . . . verstehst du? Ich wollte dich schon längst darum bitten . . . daß du sie überreden möchtest einzuwilligen; sie selbst darum so sehr zu bitten behagt mir nicht recht . . . was soll man über solche Lappalien viel reden! Was habe ich von so einem kleinen Mädchen? Ich bedarf ihrer nicht; es ist nur so zur Erheiterung . . . damit man eine Kinderstimme hört . . . übrigens möchte ich es eigentlich nur um meiner Frau willen tun; es wird ihr vergnüglicher sein, als immer nur so mit mir allein zu sitzen. Aber das ist alles nur dummes Zeug! Weißt du, Wanja, auf die Art wird es lange dauern, bis wir hinkommen; wir wollen eine Droschke nehmen; es ist zu weit zum Gehen, und Anna Andrejewna wartet gewiß schon ungeduldig auf uns . . .«

      Es war halb acht, als wir zu Anna Andrejewna kamen.

      Die beiden alten Leute liebten einander sehr. Die Liebe und eine langjährige Gewöhnung wirkten zusammen, um sie untrennbar zu verbinden. Aber Nikolai Sergejewitsch benahm sich (und nicht nur jetzt, sondern es war auch früher, in den glücklichsten Zeiten, ebenso gewesen) gegen seine Anna Andrejewna wenig mitteilsam, ja sogar manchmal rauh, namentlich in Gegenwart von Fremden. Bei manchen Naturen findet man, obwohl sie von dem Gefühl warmer Zärtlichkeit erfüllt sind, doch eine gewisse Sprödigkeit, eine Art von keuscher Scheu davor, sich völlig auszusprechen und dem geliebten Wesen selbst gegenüber ihre Zärtlichkeit kundzutun, und zwar nicht nur in Gegenwart von Fremden, sondern auch unter vier Augen; unter vier Augen sogar in noch höherem Grad; nur selten kommt bei ihnen die Zärtlichkeit zum Durchbruch, dann aber um so heißer und heftiger, je länger sie zurückgehalten war. Von dieser Art war auch der alte Ichmenew im Verkehr mit seiner Anna Andrejewna, und zwar schon seit ihrer Jugend. Er verehrte und liebte sie grenzenlos, trotzdem sie einfach nur eine gute Frau war und nichts weiter verstand, als ihn zu lieben, und er ärgerte sich gewaltig darüber, daß sie ihrerseits in ihrer Harmlosigkeit ihm gegenüber manchmal sogar eine übergroße, unvorsichtige Offenheit zeigte. Aber seit Natascha das Elternhaus verlassen hatte, schienen die beiden gegeneinander zärtlicher geworden zu sein; sie fühlten mit tiefem Schmerz, daß sie allein auf der Welt zurückgeblieben waren. Und obgleich Nikolai Sergejewitsch manchmal außerordentlich mürrisch war, so konnten sie doch beide nicht einmal zwei Stunden lang getrennt sein, ohne sich schmerzlich einer nach dem andern zu sehnen. Von Natascha redeten sie wie nach stillschweigender Übereinkunft keine Silbe, als ob sie überhaupt nicht auf der Welt sei. Anna Andrejewna wagte in Gegenwart ihres Mannes nicht einmal eine deutliche Anspielung auf sie, obgleich ihr das sehr schwerfiel. Sie hatte der Tochter in ihrem Herzen schon längst verziehen. Zwischen ihr und mir bestand eine Art von Abmachung, daß ich ihr bei jedem meiner Besuche Nachrichten von ihrem lieben, unvergessenen Kinde bringen sollte.

      Die alte Frau wurde krank, wenn sie lange keine Nachrichten erhielt, und wenn ich zu ihnen kam, interessierte sie sich für die geringsten Einzelheiten, fragte mich voll höchster Teilnahme aus, atmete auf, wenn mein Bericht günstig lautete, starb aber einmal beinahe vor Angst, als Natascha erkrankt war; ja, sie war nahe daran, selbst zu ihr hinzugehen. Aber das war ein ganz besonderer Fall gewesen. Anfänglich mochte sie nicht einmal mir gegenüber den Wunsch nach einem Wiedersehen mit der Tochter aussprechen, und am Ende unserer Gespräche, wenn sie alles aus mir herausgefragt hatte, hielt sie es fast immer für notwendig, sich mir gegenüber zu verhärten und sich mit aller Bestimmtheit dahin auszusprechen, sie interessiere sich zwar für das Schicksal ihrer Tochter, aber Natascha habe sich doch so vergangen, daß Verzeihung ein Ding der Unmöglichkeit sei. Aber das war alles nur Verstellung. Es kam vor, daß Anna Andrejewna in meiner Gegenwart sich nach ihrer Tochter fast totsehnte, weinte, ihr die zärtlichsten Namen gab, sich bitter über Nikolai Sergejewitsch beklagte und in seiner Gegenwart, wiewohl nur mit der größten Vorsicht, Andeutungen folgender Art machte: die Menschen seien gar zu stolz und hartherzig; wir verständen nicht, eine Beleidigung zu verzeihen, und denen, die selbst nicht verziehen, werde auch Gott nicht verzeihen. Aber deutlicher sprach sie sich ihm gegenüber nicht aus. In solchen Fällen machte der Alte sofort ein strenges, finsteres Gesicht und schwieg mürrisch, oder aber er begann auf einmal, meist in recht ungeschickter Weise, sehr laut von etwas anderem zu reden, oder endlich er ging auf sein Zimmer, ließ uns allein und gab so seiner Frau die Möglichkeit, mir ihren Kummer rückhaltlos in Tränen und Klagen auszuschütten. Ganz ebenso pflegte er bei meinen Besuchen, sowie er mich begrüßt hatte, alsbald auf sein Zimmer zu gehen, damit ich Zeit hätte, seiner Frau die letzten Neuigkeiten über Natascha mitzuteilen. So machte er es auch jetzt.

      »Ich bin ganz durchnäßt«, sagte er zu ihr, gleich nachdem er ins Zimmer getreten war; »ich werde erst einmal auf mein Zimmer gehen, und du, Wanja, bleib hier! Er hat etwas Merkwürdiges mit seiner Wohnung erlebt. Erzähle es ihr; ich komme gleich wieder.«

      Und er ging eilig hinaus, wobei er es sogar vermied, uns anzusehen, wie wenn er sich darüber schämte, daß er selbst uns allein zusammen ließ. In solchen Fällen, und besonders wenn er zu uns zurückkehrte, war er immer sehr finster und mürrisch, sowohl mir als auch seiner Frau gegenüber, ja sogar händelsüchtig; es machte den Eindruck, als ärgere er sich über seine eigene Weichheit und Nachgiebigkeit.

      »Ja, so ist er nun«, sagte die alte Frau, die in der letzten Zeit im Verkehr mit mir alle Zurückhaltung und Verstellung aufgegeben hatte; »so benimmt er sich immer gegen mich, und dabei weiß er, daß wir seine List alle durchschauen. Wozu sucht er mir etwas vorzumachen? Bin ich ihm denn eine Fremde? Und so benimmt er sich auch, was die Tochter angeht. Er könnte ihr ja verzeihen; vielleicht wünscht er es sogar; Gott mag's wissen. Er weint nachts; das habe ich selbst gehört! Aber nach außen hin spielt er den Unerbittlichen. Der Stolz betört ihn. Lieber Iwan Petrowitsch, erzähle mir schnell: wo ist er gewesen?«

      »Nikolai Sergejewitsch? Ich weiß es nicht; ich wollte Sie danach fragen.«

      »Ich habe mich halbtot geängstigt, als er wegging. Er ist ja krank, und nun bei solchem Wetter, und wo die Nacht vor der Tür steht! ›Na‹, dachte ich, ›gewiß hat er etwas Wichtiges vor; und was gibt es für uns Wichtigeres als die bewußte Angelegenheit?‹ So dachte ich bei mir, wagte aber nicht, ihn zu fragen. Ich wage ihn ja jetzt überhaupt nach nichts zu fragen. Herrgott, was habe ich mich geängstigt um ihn und um sie! ›Nun‹, dachte ich, ›er wird zu ihr gegangen sein; ob er sich wohl entschlossen hat, ihr zu verzeihen?‹ Er hat ja alles in Erfahrung gebracht; auch die neuesten Nachrichten von ihr kennt er alle; ich glaube bestimmt, daß er sie weiß; aber woher er diese Kenntnis hat, das kann ich nicht erraten. Gestern hat er sich schrecklich gegrämt und heute auch. Aber warum schweigst du denn? Erzähle mir, lieber Freund, was da noch weiter vorgefallen ist! Ich habe auf dich gewartet wie auf einen Engel Gottes; fortwährend habe ich durchs Fenster gesehen. Nun also, verläßt der Bösewicht Natascha?«

      Ich erzählte ihr sogleich alles, was ich selbst wußte. Ich war gegen sie immer vollständig offenherzig. Ich teilte ihr mit, daß es zwischen Natascha und Aljoscha in der Tat zum Bruch zu kommen scheine, und daß dies ernster sei als ihre früheren Mißhelligkeiten; daß Natascha mir gestern ein Briefchen geschickt habe, in dem sie mich bitte, heute abend um neun Uhr zu ihr zu kommen und daß ich daher auch gar nicht vorgehabt hätte, heute bei ihnen vorzusprechen; Nikolai Sergejewitsch selbst habe mich hergebracht. Ich setzte ihr eingehend auseinander, daß die Lage jetzt kritisch geworden sei; daß Aljoschas Vater, der vor vierzehn Tagen von einer


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