Hans Fallada: Damals bei uns daheim – Band 187e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski. Ханс Фаллада
den vielen schönen Resten kaum noch ein Mittagessen für die Familie zusammenzustellen sei, so sagte er nur leise lächelnd: „Lass es gut sein, Louise! Denke einfach, es hätte den Gästen noch besser geschmeckt, und sie hätten mit allem Rest gemacht!“
„Es war aber noch ein ganzes Filet da!“ sagte meine Mutter empört.
„Auch ich bedaure sein Verschwinden“, stimmte Vater milde bei. „Weil nämlich von allem Fleisch – nur den Kalbsbraten ausgenommen – mir Filet am besten schmeckt und bekommt. Ich bitte dich, mach uns also zum nächsten Sonntag ein Filet auf deine Art, die mir zehnmal lieber ist als die raffinierten Köchinnenkünste!“
Worauf meine Mutter durch dies wohl angebrachte Lob schon halb besänftigt war.
Im Übrigen war das Kammergericht, und wer überhaupt zu jener Zeit solche Festessen gab, in genau der gleichen Lage mit seinen Lohndienern wie die Eltern. Verstohlen, aber darum nicht weniger teilnahmsvoll, beobachtete die ganze Tischrunde das Gehaben der beiden befrackten Gesellen, und manche Hausfrau fragte sich insgeheim: ‚Ob die wohl auch was für uns wären? Ich muss mir doch die Adresse von dem kleinen Dicken geben lassen – er scheint seine Sache zu verstehen‘.
Leider war gerade dieser kleine Dicke ein besonders eklatanter Misserfolg meiner Eltern: beim Abholen einer Platte aus der Küche fiel er über einen Abfalleimer, landete mit Mund und Nase auf der glühenden Kochplatte und erschreckte die ganze Festgesellschaft durch ein brüllendes Geheul: die olle Dicke (die Köchin Pikuweit) habe ihm den Eimer absichtlich in den Weg gesetzt, weil er ihr zu langsames Anrichten getadelt habe. Er verlange Schadenersatz, Körperverletzung sei das, und was derartige betrunkene Anschuldigungen mehr waren.
Er muss einen schrecklichen Anblick geboten haben. Nicht nur ein paar Zähne hatte er verloren, sondern seine Rotweinnase zierte auch eine ständig anschwellende Brandblase. Zu seinem Unheil aber sah er sich einer geschlossenen Front der gewiegtesten Juristen – sowohl Zivil- wie Strafrecht – gegenüber, und während die Damen ihm mitleidig den Gesichtserker mit geriebenen Kartoffeln kühlten, bewiesen die Herren ihm klipp und klar, dass er nicht nur keine Ansprüche zu stellen habe, sondern dass er froh sein könne, ohne Anzeige davonzukommen. Denn Trunkenheit durch entwendeten Wein liege zweifelsfrei vor. Zum Schluss saß der Unselige bandagiert wie ein Student, dem auf der Mensur die Nasenspitze abgehauen ist, weinend in der Küche ... Er traute sich in diesem Zustand nicht nach Hause zu seiner Eheliebsten und flehte seine Feindin Pikuweit an, ihm doch ein paar Tage bei sich Quartier zu geben, bis er ein bisschen ausgeheilt sei. Dazwischen trank er zur Tröstung Vaters Wein...
Dieses Diner war sicher auch für unsere Gäste eines der anregendsten in diesem Winter, nur meine Eltern schämten sich sehr, dass grade ihnen das passiert war. Sie trösteten sich endlich damit, dass auch anderen Häusern solche Erlebnisse nicht fremd blieben. Beim Senatspräsidenten Flottwell war doch sogar einmal ein Lohndiener während des Diners spurlos verschwunden und erst morgens um halb vier Uhr gestiefelt und gespornt von der Präsidentin in ihrem eigenen Bett friedlich schlummernd aufgefunden worden!
Von all solchen erregenden Ereignissen blieben wir Kinder natürlich ausgeschlossen. Wir erfuhren sie erst so nach und nach aus den Gesprächen der Eltern oder, waren sie besonders schlimm, auch unter dem Siegel unverbrüchlicher Verschwiegenheit aus der Küche. Aber wir nahmen doch an allem in unseren Kinderzimmern lebhaftesten Anteil. Als ich noch klein war, musste ich, Diner hin und Festessen her, genau wie sonst um acht Uhr im Bett liegen. Es dauerte dann oft eine lange Weile, bis mich der Schlaf überkam. Von halb neun Uhr ab ging fast ununterbrochen die Türklingel, ich hörte das Gemurmel der ankommenden Gäste. Die Schirme klapperten in den Ständern, Seide rauschte, ab und zu erhob ein Gast seine Stimme lauter, oder ich hörte auch ein fröhliches Begrüßungswort meines Vaters...
Allmählich glitt ich dann ins Schlafland hinüber, aber bei jedem solchen Diner kam meine Mutter noch einmal zu meinem Bruder und mir ins Zimmer, legte uns von dem Festkonfekt und vor allem von den beliebten Knallbonbons einiges auf den Nachttisch und beugte sich zum Gute-Nacht-Kuss über mich. Dann erschien mir meine liebe Mutter im unsicheren Licht und halben Schlaf völlig verändert. Sonst war sie unermüdlich im großen Haushalt tätig, wir vier Kinder machten unendlich viel Arbeit und Unruhe, dazu brauchte mein zarter, oft kränklicher Vater ständige Pflege und Arbeitsfrieden. Sie kam eigentlich nie zur Ruhe, die Mutter, nur selten schlüpfte sie einmal aus ihrem Arbeitskleid.
Aber an solchen Festabenden trug sie ein tief ausgeschnittenes Seidenkleid, ihre weißen Schultern blinkten wie Schnee daraus. Sie roch so gut nach irgendeinem unbekannten Blumenduft, und ich bewunderte sie aus tiefstem Herzen mit ihrem blitzenden, funkelnden Familienschmuck: der Halskette, der perlenbesetzten Goldbrosche, den leise klingelnden Armreifen! Ach Gott, das arme bisschen Familienschmuck! Es ist dann im Weltkrieg den Weg „Gold gab ich für Eisen“ gegangen, seit fünfundzwanzig Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen, und doch könnte ich ihn noch aufzeichnen, Stück für Stück – wenn ich bloß zeichnen könnte! Eigentlich hatte ich viel verloren, als ich nun, größer geworden, mit den älteren Schwestern bis elf Uhr abends zusammensitzen und mich mit Kostproben vom Tisch der Großen füllen durfte. Aber ich wusste noch nicht, was ich verloren hatte: ein Kindheitsparadies, in dem meine Mutter eine richtige Fee war, schöner als alle Feen der Märchenbücher.
Solange man noch wirklich jung ist, denkt man weder an Vergangenheit noch Zukunft, man lebt nur der Stunde, und so fand ich es herrlich, wenn immer wieder die Tür bei uns aufging und ein Lohndiener oder auch die Kochfrau oder besonders unser Faktotum, die alte mürrische Minna, uns Teller hereinreichten, auf denen eilig die verschiedensten Speisen zusammengeworfen waren: Blätterteigpasteten schauten zwischen Stangenspargeln hervor; der Klecks Johannisbeergelee war statt auf die Rehkeule zwischen die Petersilienkartoffeln geraten; und einmal entdeckten wir sogar in einer Omelette soufflé statt der Champignonfüllung einen veritablen Salzstreuer aus Glas – ein Sturmsignal dafür, welch fieberhafte Aufregung in der Küche herrschte!
Das schwere, ungewohnt kräftig gewürzte Essen versetzte uns Kinder bald in eine gehobene Stimmung. Wir lachten und lärmten so sehr, dass manchmal mahnend gegen unsere Tür geklopft werden musste. Dann war es nicht mehr weit, dass eine Raubexpedition in das Badezimmer erwogen wurde: so viel Essen macht Durst! Zwar war uns Alkohol von den Eltern streng verboten, aber in unserer Feststimmung waren wir geneigt, ein wenig lax über ein solches Veto zu denken. Und schon waren wir auf dem langen Gang, mit Horchposten sowohl gegen das Speisezimmer wie gegen die Küche. Alle Welt war unserem Labetrunk feindlich gesinnt! Wie oft mussten wir uns überstürzt wieder zurückziehen, wenn ein Lohndiener, geschirrbeladen, den endlosen, echt Berliner Gang entlang scheeste, oder wenn grade in der stets offenen Küchentür Minna erschien mit dem Ruf: „Wollt ihr Rabauters woll machen, dass ihr in euer Zimmer kömmt! Gleich gibt es Eis, und wenn ihr nicht artig seid, essen wir es alleine!“
Aber dann das Glück, wenn wir mit einer Flasche Rheinwein oder gar Burgunder wieder in unserem Zimmer anlangten! Große Unterschiede machten wir zwar in den Sorten nicht, Wein war uns Wein, ein Getränk, das einen unbegreiflich lustig und unternehmend machte! Wir tranken ihn in kleinen Schlucken aus den Zahnputzgläsern der Schwestern und fühlten uns wie Seeräuber, die eine feine Prise gemacht haben.
In einer solchen echten Räuberstimmung unternahmen einmal mein Bruder Ede und ich eine kühne Expedition in die Speisekammer, deren Eingang direkt neben der Küchentür lag, so dass wir jeden Augenblick überrascht werden konnten.
Als wir aber erst drin waren, vergaßen wir jede Gefahr: von weißem Zuckerguss glänzend standen vor uns die beiden großen Baumkuchen, die am Vormittag ein Konditorjunge gebracht und die seitdem mein und Edes Herz erregt hatten. Ich kannte als der Ältere sehr wohl meine Pflicht: ich streckte meine Hand aus, brach eine Zacke ab und schon war sie in meinem Mund!
„Mir auch eine Nase! Ich will auch solche Nase!“ verlangte Ede, und schon um einen Mitschuldigen zu haben, sagte ich: „Brich dir selber eine ab!“
Aber bald dachten wir nicht mehr an Schuld und Unschuld. Diese Nasen schmeckten zu verführerisch, wir brachen immer mehr ab. Hielten wir uns zuerst an einen Baumkuchen, und zwar an seinen unteren Rand, so trieb uns bald die Lust immer weiter. Damit wir einander nicht ins Gehege kämen, teilten wir die Kuchen unter uns auf: Ede brach links, ich rechts die Nasen. Ein