Die Dämonen. Fjodor Dostojewski
Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitsch schwindeln alle beide. Alle Menschen schwindeln.«
»Nämlich die Tante und Stepan Trofimowitsch«, sagte Lisa erklärend zu uns, »fanden gestern eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Nikolai Wsewolodowitsch und dem Prinzen Harry in Shakespeares Heinrich dem Vierten, und daher fragt Mama, ob kein Engländer dagewesen sei.«
»Wenn kein Harry da war, dann war auch kein Engländer da. Nikolai Wsewolodowitsch hat seine Tollheiten allein begangen.«
»Ich versichere Ihnen, daß Mama absichtlich so redet,« fand Lisa für nötig zu Schatow zur Erklärung zu sagen. »Sie weiß sehr gut mit Shakespeare Bescheid. Ich habe ihr selbst den ersten Akt des Othello vorgelesen; aber sie ist jetzt sehr leidend. Mama, hören Sie? Es schlägt zwölf; es ist Zeit, daß Sie Ihre Medizin einnehmen.«
»Der Doktor ist gekommen,« meldete das Stubenmädchen, das in der Tür erschien.
Die alte Dame stand auf und rief ihr Hündchen:
»Semirka, Semirka, komm mit mir mit!«
Das kleine, alte, häßliche Hündchen Semirka gehorchte indessen nicht, sondern kroch unter das Sofa, auf dem Lisa saß.
»Du willst nicht? Dann will ich dich auch gar nicht haben. Leben Sie wohl, mein Lieber; ich kenne Ihren Vor- und Vatersnamen nicht,« wandte sie sich an mich.
»Anton Lawrentjewitsch ...«
»Nun, es ist ganz gleich, ob ich es höre oder nicht; so etwas geht bei mir zum einen Ohre herein und aus dem andern hinaus. Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Mawriki Nikolajewitsch; ich hatte nur Semirka gerufen. Ich kann ja, Gott sei Dank, noch allein gehen, und morgen will ich spazieren fahren.«
Ärgerlich verließ sie den Salon.
»Anton Lawrentjewitsch, unterhalten Sie sich solange mit Mawriki Nikolajewitsch; ich versichere Ihnen, daß Sie beide Gewinn davon haben werden, wenn Sie einander näher kennen lernen,« sagte Lisa und lächelte dem Offizier freundlich zu, dessen Gesicht unter ihrem Blick freudig aufleuchtete.
Es war weiter nichts zu machen; es blieb mir nichts übrig, als mich mit Mawriki Nikolajewitsch zu unterhalten.
II.
Zu meiner Verwunderung stellte es sich heraus, daß Lisaweta Nikolajewna mit Schatow tatsächlich nur über ein literarisches Unternehmen sprechen wollte. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte mir eingebildet, sie habe ihn zu irgendeinem andern Zwecke zu sich kommen lassen. Da wir, das heißt ich und Mawriki Nikolajewitsch, sahen, daß die beiden aus der Sache kein Geheimnis vor uns machten und ganz laut sprachen, so fingen wir an zuzuhören; dann wurden wir sogar zu Rate gezogen. Die ganze Sache bestand darin, daß Lisaweta Nikolajewna schon lange die Herausgabe eines ihrer Meinung nach nützlichen Buches plante, aber bei ihrer völligen Unerfahrenheit eines Mitarbeiters bedurfte. Der Ernst, mit welchem sie sich daran machte, Schatow ihren Plan auseinanderzusetzen, setzte mich geradezu in Erstaunen.
»Also auch eine von der modernen Richtung,« dachte ich; »sie scheint nicht umsonst in der Schweiz gewesen zu sein.«
Schatow hörte, den Blick auf den Boden geheftet, aufmerksam zu und bekundete nicht die geringste Verwunderung darüber, daß eine durch ganz andere Interessen in Anspruch genommene Dame der höheren Gesellschaftskreise sich mit solchen ihr anscheinend fernliegenden Dingen abgab.
Das literarische Unternehmen war von folgender Art. Es erscheinen in Rußland in den Hauptstädten und in der Provinz eine Menge von Zeitungen und anderen Journalen, und in ihnen wird täglich über eine Menge von Ereignissen berichtet. Das Jahr geht zu Ende, die Zeitungen werden überall entweder in Schränke gepackt oder beschmutzt und zerrissen oder zum Einwickeln und zu Nachtmützen verwendet. Viele der publizierten Tatsachen machen Eindruck und haften eine Weile im Gedächtnisse, werden aber dann im Laufe der Jahre vergessen. Viele Leute möchten sich dann gern über solche Dinge informieren; aber was ist es für eine Arbeit, in diesem Meere von Blättern etwas zu suchen, wenn man oft weder den Tag noch den Monat des betreffenden Ereignisses kennt? Wenn aber alle diese Tatsachen für ein ganzes Jahr in einem einzigen Buche nach einem bestimmten Plane und einer bestimmten Idee vereinigt würden, mit Inhaltsverzeichnissen und Hinweisungen, nach Monaten und Tagen geordnet, dann würde ein solches Sammelwerk eine vollständige Charakteristik des russischen Lebens für ein Jahr bieten können, auch wenn von allen Tatsachen, die sich wirklich begeben haben, nur ein verhältnismäßig sehr kleiner Teil veröffentlicht würde.
»Statt einer Menge von Blättern hätten wir dann ein paar dicke Bücher; das wäre alles,« bemerkte Schatow.
Aber Lisaweta Nikolajewna verteidigte ihren Gedanken mit Wärme, obwohl es ihr bei ihrer Unerfahrenheit Mühe machte sich auszudrücken. Es sollte nur ein einziges Buch werden, nicht einmal sehr dick, versicherte sie. Aber selbst wenn es dick würde, so würde es doch klar und übersichtlich sein; denn die Hauptsache sei die ganze Anlage und die Art, in der die Tatsachen dargestellt würden. Allerdings dürfe man nicht alles sammeln und abdrucken. Kaiserliche Erlasse, Verfügungen der Regierung, Anordnungen der Lokalbehörden, Gesetze, all das seien zwar sehr wichtige Tatsachen; aber in der beabsichtigten Ausgabe könnten derartige Tatsachen ganz fortgelassen werden. Man könne gar vieles fortlassen und sich auf eine Auswahl von Ereignissen beschränken, die für das sittliche individuelle Leben des Volkes, für die Individualität des russischen Volkes in einem bestimmten Zeitabschnitte mehr oder weniger charakteristisch wären. Natürlich könne allerlei aufgenommen werden: Kuriosa, Feuersbrünste, Spenden, gute und schlechte Handlungen aller Art, Aussprüche und Reden aller Art, vielleicht auch Nachrichten von Überschwemmungen, vielleicht auch einige Regierungsverfügungen; aber es müsse aus dem Gesamtmaterial nur das ausgewählt werden, was die betreffende Periode kennzeichne. Bei der Aufnahme müsse ein bestimmter Gesichtspunkt, eine bestimmte Absicht, eine bestimmte Idee maßgebend sein, eine Idee, die das Ganze, die ganze Sammlung durchleuchte. Und endlich müsse das Buch auch eine interessante, leichte Lektüre abgeben, ganz abgesehen von seiner Unentbehrlichkeit als Nachschlagewerk! Es würde das sozusagen ein Bild des geistigen, sittlichen, inneren russischen Lebens innerhalb eines ganzen Jahres sein. »Alle müssen es kaufen; das Buch muß ein weitverbreitetes Handbuch werden,« sagte Lisa nachdrücklich. »Ich sehe sehr wohl ein, daß dabei alles auf die Anlage ankommt, und deshalb wende ich mich an Sie,« schloß sie. Sie war sehr in Eifer geraten, und trotzdem sie sich nur unklar und unvollständig ausgesprochen hatte, begann Schatow doch sie zu verstehen.
»Also es wird etwas mit einer bestimmten Tendenz herauskommen, eine nach einer bestimmten Tendenz getroffene Auswahl von Tatsachen,« murmelte er, noch immer ohne den Kopf in die Höhe zu heben.
»Durchaus nicht; die Auswahl darf nicht tendenziös sein; eine Tendenz ist ausgeschlossen. Die einzige Tendenz muß die Unparteilichkeit sein.«
»Eine Tendenz wäre kein Schade,« versetzte Schatow, der nun in Bewegung kam; »und sie läßt sich auch nicht vermeiden, sobald man ans Auswählen geht. In der Auswahl der Tatsachen wird auch ein Hinweis darauf liegen, wie sie aufzufassen sind. Ihre Idee ist nicht übel.«
»Also ist ein solches Buch möglich?« fragte Lisa erfreut.
»Das muß man noch näher überlegen und erwägen. Es ist ein gewaltiges Unternehmen. Mit einemmal kann man es nicht durchdenken. Man muß erst Erfahrungen machen. Und auch wenn wir das Buch herausbringen, werden wir kaum schon den besten Modus erkannt haben. Vielleicht nach vielen Versuchen; aber der Gedanke wird sich durch die Eierschale hindurchpicken. Der Gedanke ist nützlich.«
Er hob endlich die Augen in die Höhe, und sie leuchteten sogar vor Vergnügen, so interessierte er sich für die Sache.
»Haben Sie sich das selbst ausgedacht?« fragte er Lisa freundlich und gewissermaßen, als ob er sich schämte.
»Das Ausdenken war nicht schwer; was schwer ist, das ist die Anlage,« erwiderte Lisa lächelnd. »Ich verstehe wenig von solchen Dingen und bin nicht sehr klug und verfolge nur das, was mir selbst klar ist ...«
»Sie verfolgen es?«
»Das