Little Pearl. Madlen Schaffhauser

Little Pearl - Madlen Schaffhauser


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nicht. Wahrscheinlich sieht es schlimmer aus, als es sich anfühlt.«

      Emily streicht sich ein paar Strähnen ihres dunkelbraunen Haars, das praktisch die gleiche Länge wie Cees hat, hinter die Ohren. »Als ich dir das wegen Dylan erzählt habe ... ich wollte nicht, dass du zu ihm fährst und ihn verhaust.«

      Fassungslos starre ich sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Warum nicht? Er hat es verdient.«

      »Mittlerweile bin ich anderer Ansicht.« Sie lächelt schwach, legt dabei den Kopf schräg und schielt zu Cécile, die sich gerade mit Mom unterhält. Dann sieht sie wieder mich an. Ihre grünen Augen haben einen flehenden Ausdruck angenommen. Warum werde ich gleich erfahren. »Sie haben sich wieder versöhnt –«

      »Was?!« Ich wirble herum, damit ich meine Schwester zur Rede stellen kann.

      Gerade als ich anfangen will, sie zusammenzustauchen, wird der Startschuss abgegeben. Die Rollstuhlfahrer sind gestartet und preschen über die Tartanbahn. Um mich herum beginnen die Zuschauer die Wettkämpfer anzufeuern.

      Na warte Schwesterherz, nachher wirst du was zu hören bekommen.

      Hat schon sein Vorteil so groß zu sein. Ich kann über die Köpfe der anderen sehen und entdecke Dad. In diesem Moment rauscht er an uns vorbei. Auf dem Rücken prangt seine Glückszahl in schwarzen Zahlen auf weißem Hintergrund.

      »Hopp Vierundzwanzig!«

      »Mach schon Dad!«

      »Los, los, los John!«

      »Zeig es ihnen, Schatz! Ich liebe dich!«

      In ohrenbetäubender Lautstärke feuern wir ihn an, als ginge es hier um unser Leben. Oder eher um sein Leben? Diese Wettkämpfe retten ihn vor Depressionen. Sein größtes Ziel ist ein Platz auf dem Siegerpodest, und ich drücke ihm die Daumen, dass ihm sein Wunsch bald in Erfüllung geht. Vor einem Monat war er ja schon mal vierter – bis jetzt seine beste Leistung.

      Chase streckt sein Handy in die Höhe und filmt. Cee steckt sich ein paar Finger zwischen die Lippen und gibt einen lauten Pfiff von sich, während ich mir die Hände vor den Mund halte und einen Trichter bilde. »Schneller Vierundzwanzig! Du schaffst das!« Ich würde gerne rufen: »Mach sie fertig!«. Allerdings befürchte ich, würde das bei den anderen Zuschauern nicht gut ankommen. Daher schreie ich einfach immer wieder dasselbe. Bis die letzte Kurve kommt, bin ich heiser. Egal, meine Hopp-Rufe werden schneller, wie auch das Tempo der sechs Teilnehmer. Wenn Dad jetzt unter den ersten drei durchs Ziel kommt, ist er eine Runde weiter. Ich halte die Luft an und drücke die Daumen. Der erste ist soeben über die Linie. Dad kämpft Kopf an Kopf mit zwei anderen um den zweiten, dritten und vierten Platz.

      »Bitte Dad, bitte«, flüstere ich, bete beinahe.

      Em boxt mir ihren Ellbogen in die Seite, als ich nicht reagiere. Verwundert sehe ich auf sie hinab. Sie strahlt mich an, und erst da merke ich, dass Dad auf dem zweiten Platz gelandet ist.

      Die Zuschauer verteilen sich in alle Richtungen. Nach einigen Minuten kommt Dad mit feuchter Stirn zu uns. Mom reicht ihm sofort ein Handtuch, mit dem er sich den Schweiß abwischen kann, ehe sie ihn ganze fünf Minuten lang abknutscht.

      »Lass ihn wieder mal Luft holen, Mom«, meint Coben mit verzogenem Gesicht.

      Mom lächelt nur, drückt Dad nochmal einen langen Kuss auf den Mund und hält ihm dann eine Flasche Wasser hin. »Ich bin wahnsinnig stolz auf dich«, meint sie, fährt ihm mit der Hand über die Wange, bevor sie uns Platz macht.

      Ich klopfe ihm stolz auf die Schulter. »Unglaublich, Dad. Das war vielleicht ein Rennen.«

      Er strahlt, als er nickt. »Die letzten paar Metern waren ein hartes Stück. Ich dachte schon, ich würde mir trotz Handschuhe die Hände verbrennen, so heiß wurde es unter meinen Finger.«

      »Angeber«, meint Kyle lachend.

      Wir fallen alle in sein Lachen ein. Ich lasse meinen Blick über meine Familie schweifen. Mich überkommt ein warmes Gefühl, während ich in die erfreuten Gesichter blicke. Und zum allerersten Mal in meinem Leben frage ich mich, ob ich auch irgendwann eine eigene haben werde.

      Sofort schüttle ich den Gedanken wieder ab. Ich liebe meine Familie, aber selbst eine? Nein. Dafür bin ich nicht stark genug - in vielerlei Hinsicht.

      Da Dad erst wieder in neunzig Minuten antreten muss, suchen wir uns einen Platz, wo wir uns hinsetzen und etwas essen können. Es werden Witze gerissen, Sachen hin- und hergeworfen und Mahnungen von Mom ausgesprochen, die jedoch niemand ernst nimmt. Ich mag solche Sonntage, wo alle zusammensitzen und glücklich sind. Ich mag es, wie Cécile strahlt, trotzdem werde ich noch ein Hühnchen mit ihr rupfen müssen.

      Dad macht sich fertig für seinen nächsten Wettkampf, wir anderen positionieren uns wieder an der Seite, um ihn mit unseren ohrenbetäubenden Schreien und Rufen anzuheizen.

      An der Startlinie haben sich wieder sechs in Stellung gebracht, warten darauf, dass endlich der Startschuss fällt. Gegen den einen musste Dad schon in seinem ersten Lauf antreten. Der war richtig schnell. Ich denke, Dad hat keine Chance gegen den. Das macht nichts. Hauptsache er ist wieder unter den ersten drei, damit er eine Chance aufs Final hat.

      »Hopp, mach schon!«, brüllt Kyle neben mir, dabei erleide ich beinahe einen Hörsturz.

      Hannah hopst wie ein Hase auf der Stelle und ruft immer wieder Dads Startnummer, als er auf die erste Kurve zurast.

      Em und Coben pfeifen, was das Zeug hält.

      Mom dreht nervös an ihrem Ehering, beißt sich ständig in die Lippen und beobachtet Dad mit Argusaugen. »Bitte halte dich etwas zurück. Bitte nimm Abstand«, flüstert sie fast ehrfürchtig. »Bitte -«

      Ich verstehe nicht, was sich vor meinen Augen abspielt. Ich verstehe nicht, warum zwei Rennfahrer mit ihren Rollstühlen durch die Luft fliegen. Ich verstehe nicht, wie Dad plötzlich unter seinem Rollstuhl liegt, statt auf ihm zu sitzen, um mit ihm über die Ziellinie zu rasen. Vielleicht will ich es auch einfach nicht wahrhaben. Ich will nicht glauben, dass Dad bewegungslos am Boden liegt.

      Kapitel 6

      Avery

      Ich könnte mir in den Arsch treten. Warum musste ich ausgerechnet gestern eine Panikattacke haben? Ausgerechnet da, wo ich mich um einen Job bewerben wollte. Echt scheiße.

      Aber ich bin, ehrlich gesagt, ziemlich überrascht von mir selbst, dass ich wieder vor dem Fit for Fun stehe und mich mental auf ein Bewerbungsgespräch vorbereite. Wenn es denn überhaupt eines gibt.

      Meine Hände schwitzen vor Nervosität. Dafür ist meine Kehle wie ausgetrocknet, als ich mich endlich überwinde, hineinzugehen. Heute ist es voller als vor einem Tag. Praktisch jeder Hometrainer und jedes Laufband sind besetzt. Vom Raum nebenan höre ich Männer fluchen und keuchen, und das Geräusch von Hanteln, die abgelegt werden. Hinter der Bar ist gerade niemand. Ich blicke zu den Matten in der rechten Ecke. Kein Personaltrainer oder Angestellten in Sicht. Etwas unschlüssig bleibe ich stehen, weiß nicht, ob ich mich auf die Suche nach jemandem, der hier arbeitet, machen oder ob ich mich wieder hinausschleichen soll.

      Gerade als ich mich dazu entscheide, in den Kraftraum zu gehen, öffnet sich die Tür links von mir. Eine Frau mit blondem, wippendem Pferdeschwanz tritt heraus. Sicher zehn andere Frauen folgen ihr. Alle haben ein Tuch um den Hals und sehen erschöpft aber zufrieden aus. Die erste hat ein Tanktop mit dem Logo des Fitnessstudios an.

      »Dann bis zum nächsten Mal, Mädels!«, ruft sie und steuert direkt die Bar an.

      Ich warte, bis sie die durstigen Frauen bedient hat, die mit ihr an die Theke gekommen sind. Dann dreht sie sich zu mir und bevor ich etwas sagen kann, lächelt sie mich freundlich an.

      »Kann ich dir behilflich sein?«

      »Ich ... äh ... ich ...«, fange ich überrumpelt an. Erleichterung überkommt mich, als die Frau um die dreißig das Ruder übernimmt.

      »Ah, du suchst bestimmt Evan. Oder willst du dich bei


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