Little Pearl. Madlen Schaffhauser
Mom schaut sich in der Menge um, wendet sich dann wieder an uns. »Dad musste sich für die Teilnahme anmelden. Chase begleitet ihn und Coben holt uns etwas zu trinken. Wie läuft es bei der Arbeit?«, fragt sie Kyle. Erst horcht sie ihn nach dem Job aus, danach wird sie wissen wollen, was in der Freizeit abgeht. Und wenn sie mit Kyle fertig ist, wird sie sich mich vorknöpfen.
»Wir haben soeben den Dachstuhl bei der Villa an der Azalea Lane aufgerichtet. Das wird ein Riesending, sag ich euch.« Die Azalea Lane ist das Reichenviertel von Little Pearl.
»Pass einfach auf, wenn du da oben stehst und die Balken festschraubst, ja?« Mom hat sich bei keiner Jobwahl ihrer Kinder eingemischt. Doch wenn sie mit Kyle über seine Arbeit redet, verzieht sich ihr Gesicht immer zu einer angstvollen Maske.
»Klar.« Was will er auch anderes antworten.
»Hey ihr.« Coben steht mit einem Mal vor uns. Er hält in der Linken einen Papphalter mit Kaffeebechern.
»Der kommt gerade richtig.« Kyle greift nach einem Kaffee.
»Wie wäre es mit einem ›Danke, großer Bruder‹?« Coben reicht Mom, Hannah und mir ebenfalls einen Pappbecher. »Wow, was hast denn du da für ein Auge einkassiert?«
»Bin gegen eine Hantel gelaufen«, sage ich schon fast automatisch. Außer Cee und Kyle weiß niemand, wie ich mir die Beule geholt habe. Dabei soll es auch bleiben. »Ja, ja, mach dich nur lustig über mich«, sage ich, als er sich vor Lachen fast in die Hose macht.
»Hast du vielleicht noch etwas zu Futtern dabei?« Kyle erntet dafür einen Hieb in den Magen. Keine Ahnung, wie das Coben bewerkstelligte, ohne Kaffee aus den restlichen zwei Pappbechern, die er noch in den Händen hält, zu verschütten.
»Sag danke, sonst packe ich dich bei den Haaren und klemme deinen Kopf unter meinen Arm.«
»Iih«, Kyle macht ein angewidertes Gesicht. »Deinen Achselschweiß brauch ich ganz bestimmt nicht in meiner Nase.«
»Damit meinst du wohl Zinke.«
»Haha. Übrigens, erst müsstest du meine Haare erwischen können. Dein Wuschelkopf hingegen wäre ein leichtes Ziel.«
Coben fährt sich durch sein schwarzes Haar und reckt sein markantes Kinn vor. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn zum letzten Mal ohne Dreitagebart gesehen habe. »Du bist nur neidisch auf meine feinen Locken.«
»Ja, sicher. Und auf deine braungrünen Augen natürlich auch.«
»Sowieso. Wäre ich auch, wenn ich nur so braune hätte wie du.«
»Milchschokoladenbraun«, korrigiert Kyle ihn. »Evan würde jedenfalls gerne tauschen.«
Ich schüttle den Kopf, verdrehe dabei die Augen. »Lasst mich bloß raus aus eurem Mädchengezanke.«
»Mädchen zanken nicht so«, mischt sich jetzt auch noch Hannah ein.
»Wie denn?«, fragen meine Brüder und ich gleichzeitig.
»Anders halt.«
Mom stößt einen lauten Seufzer aus. »Könnt ihr die Kabbelei für einmal lassen?«
»Ist doch bloß Spaß, Mom«, meint Coben beruhigend.
»Ja, ja«, meint sie und sieht abermals über die Menge. Wahrscheinlich, um zu sehen, ob sie irgendwo Dad und Chase entdeckt.
Weit hinten sehe ich die beiden einen Weg zu uns bahnen. Als sie es geschafft haben, ist mein Kaffee, der nach Abspülwasser schmeckt, fast leer.
»Schon lange nicht mehr gesehen«, begrüßt mich Chase. Wir umarmen uns und klopfen uns gegenseitig auf den Rücken.
»Ihr lässt euch ja kaum mehr blicken.«
»Ich hatte gerade eine Menge Prüfungen. Außerdem könntest du mal wieder nach New York kommen und uns besuchen.«
»Vielleicht.« Ich strecke meine Hand aus, um seine aufgestellten hellbraunen Haare mit blonden Strähnen durcheinander zu bringen. Das ist irgendwie ein Tick von mir, die Frisur anderer zu verstrubbeln. Doch Chase reagiert zu schnell. Er macht einen Schritt zur Seite und meine Hand fasst ins Leere. Chase mag zwar der schmächtigste von uns Johnsons Brüdern sein, dafür der größte und eindeutig der flinkste.
»Fass die nicht an.« Er legt seine Hände schützend um seine Haare.
Ich lache. »Du kannst sie wieder wegnehmen, ich mach schon nichts.«
Chase blickt mich mit seinen blauen Augen misstrauisch an. Er hat die gleichen Augen wie Cee und Dad. Wir anderen haben etwas von braungrün bis schwarz. Meine sind weitaus die dunkelsten.
»Wie läuft es mit dem Studium?«
»Es ist schwieriger, als ich mir gedacht habe. Es ist nicht einfach, zu verstehen, wie der Körper funktioniert oder zu merken welche Symptome auf welche Krankheiten deuten. Welche Medikamente man wann geben darf. Manchmal habe ich einen Kopf mindestens so groß wie eine riesige Wassermelone.«
»Du packst das.«
»Hoffentlich, geht ja nur noch elf Monate.«
»Vielleicht wird es leichter, wenn du die Monate nicht zählst.«
»Sagt gerade der, der die Stunden gezählt hat, bis das Fitnessstudio endlich eröffnet wurde.«
»Das ist was ganz anderes.«
Chase grinst bloß. Was so viel bedeutet wie: Logisch.
Als Dad mit dem Rollstuhl vor mir steht, gehe ich in die Hocke. »Hey Dad, schon aufgeregt?« Ich umarme ihn kurz und klopfe ihm auf die Schulter.
»Geht so.« Trotz gleichgültigem Schulterzucken kann ich ihm seine Nervosität von der Miene ablesen. Tiefe Spuren, die das Leben gezeichnet haben, zieren sein Gesicht. Seine schwarzen Haare werden von Tag zu Tag grauer.
»Du wirst das Ding schon schaukeln.«
»Oh, schaukeln lieber nicht«, meint er schmunzelnd.
»Dann halt flitzen.«
»Das klingt schon besser.«
»Wann geht’s los?« Ich stehe wieder auf, weil mir die Gelenke anfangen zu schmerzen.
Dad schaut auf seine Uhr, die er um sein Handgelenk trägt. Eine Multifunktionsuhr, ein Weihnachtsgeschenk von uns Kindern letztes Jahr. »In fünfundfünfzig Minuten bin ich dran.«
Als Dads Start immer näher rückt, rollt er zur Startposition und wir anderen stellen uns irgendwo an die Seite, wo wir ihn anfeuern können. Dabei suche ich ständig die Menge nach Cécile ab. Ich frage mich wo sie bleibt, und ob mit ihr alles in Ordnung ist. Es macht mich fast wahnsinnig, dass sie nicht auf meine WhatsApp-Nachrichten reagiert, oder dass mein Anruf vor wenigen Minuten auf ihrer Mailbox landete. In meiner letzten Nachricht habe ich ihr geschworen, ihr den Kopf umzudrehen, wenn ich sie sehe.
Als ich schon glaube, die Nerven zu verlieren, tippt mir jemand auf die Schulter. Cee steht hinter mir und lächelt mich an. Sie wirkt glücklich, richtig glücklich, wie seit Tagen nicht mehr. Ihr Strahlen in den Augen hält mich davon ab, meinen Schwur in die Tat umzusetzen. Trotzdem soll sie erfahren, wie angepisst ich bin.
»Warum hast du dich nicht gemeldet oder meinen Anruf entgegengenommen? Verdammt nochmal«, zische ich.
»Tut mir leid, ich war am Fahren. Eigentlich wollten wir viel eher hier sein, sind aber in einen Stau geraten.«
»Wir?« Erst jetzt bemerke ich Emily, die soeben den anderen Hallo gesagt hat.
»Hey Evan.« Em scheint nicht überrascht zu sein, als sie mein blaues Auge entdeckt. Aber ihr Gesichtsausdruck erinnert mich an eine schreckliche Zeit zurück. An eine Zeit, in der Em selbst mit einem geschwollenen Auge herumlief. Sie ist nicht hingefallen oder hat sich an irgendwas gestoßen. Und sie hatte sich auch bestimmt nicht geprügelt. Lange Zeit konnte ich nur Vermutungen anstellen. Erst nach langer Zeit erzählte sie mir, wie ihr Ex auf sie losgegangen war.
»Tut’s