Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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Toilette befand sich im finsteren, hinteren Flurbereich und obwohl er mit seinen vier Lenzen ein durch und durch mutiger Junge war und ihm die nächtlichen Geräusche und die Dunkelheit längst vertraut waren, wollte er seinen Mut des Nachts nicht unnötig unter Beweis stellen. Deshalb stand der Pinkelpott unter seinem Bett bereit. Den benutzte er jedoch nicht oft.

      Eigentlich schlief er gut durch … bis auf dieses eine Mal.

      Die Taschenlampe lag wie die Pistole eines mexikanischen Pistoleros unter dem Kopfkissen. Eilig zog er sie hervor und knipste sie an. Er legte sie aufs Bett, sodass das Zimmer schmal erhellt wurde. Fröstelnd kroch er in seinen flauschigen Bademantel, der ordentlich auf dem Stuhl lag, und schlüpfte in seine knallroten Fellpuschen, als sich der entsetzliche Traum von eben in sein Bewusstsein zurückkämpfte. Unsicher sprang sein Blick im Zimmer umher, doch schlurfte er zur Tür. Zittrig heftete sich der Strahl der Taschenlampe auf das hochglanzlackierte Holz und auf das Fenster oberhalb des Türgriffs, während sich der Lichtkegel verringerte, je näher er der Tür kam. Georgie griff nach dem Schlüssel, der rechts an einem Haken hing.

      Die „Sicherheitsregeln“ hatte er schnell begriffen: Nach dem Gute-Nacht-Kuss und dem Lichtausmachen schloss seine Mutter die Tür von außen ab.

      Georgie hatte den zweiten Schlüssel. Für den Notfall hatte er gelernt, wie der Schlüssel zu benutzen war.

      Nun war der Notfall eingetroffen.

      In dieser Nacht beschloss er, die Mutprobe zu bestehen … den gespenstischen Weg zur Toilette. Und wieder drängte sich der Traum in sein Bewusstsein. Er hatte ein tragisches Ende genommen: Jemand stieß ihm etwas Spitzes in die Brust. Tief in den großen Herzmuskel. Er spürte den Einstich ganz genau und das höllische Brennen in der Wunde. Ganz deutlich hörte er sich schreien. Erst dann hatte er die Augen aufgerissen. Grauenhafte Angst legte sich wie ein Spinnennetz über sein Gesicht, doch er weinte nicht, rief nicht nach seinen Eltern, schrie nicht einmal um Hilfe. Da war nur der Angstschrei, den er im Traum ausstieß und der ihn in die dunkle Realität zurückstieß – aber … hab’ ich wirklich geschrien? Nein, wahrscheinlich nicht, sonst wäre Mutti ja längst da!

      Seine Brust schmerzte.

      Instinktiv presste er die Hand auf die Stelle.

      So muss es sich anfühlen, wenn man von einer Kugel oder einem Pfeil getroffen wird, dachte er, dabei kamen ihm seine Lieblingsserien in den Sinn … RAUCHENDE COLTS und AM FUSS DER BLAUEN BERGE, in denen sich seine Helden schon die besten Kämpfe geliefert hatten. Unterdessen wuchs dunkle Angst in seiner Brust. Sie hielt ihn aber nicht von seinem Vorhaben ab … Auf keinen Fall wollte er in den Pinkelpott machen. Er war ja schließlich schon ein ganzer Kerl!

      Vorsichtig drehte er den Schlüssel im Schloss herum.

      Mit einem leichten, metallischen Knacken entriegelte er die Tür. Er öffnete sie.

      Tiefste Schwärze empfing ihn, ummantelte den Taschenlampenstrahl, den Georgie reflexartig auf den Boden fixierte, als ihn das Entsetzen frontal ins Gesicht schlug. Für einen Moment setzte sogar seine Atmung aus. Auf dem Boden entdeckte er schlammige Schuhabdrücke. Sie kamen von rechts.

      Erschrocken wich er ins Zimmer zurück. Der Lichtkegel folgte. Doch was der Lichtstrahl nun einfing, ließ Panik in ihm ausbrechen. Alle Haare standen ihm zu Berge und seine Blase wollte sich auf der Stelle entleeren. Auf dem schmalen Teppichläufer vor seinem Bett waren ebenfalls schlammigen Spuren. Nur mit allergrößter Mühe kämpfte er einen Angstschrei nieder.

      Mit einer Drehung wich er zwei weitere Schritte zurück und taumelte rücklings gegen die Wand. Natürlich sah niemand sein eisgraues Gesicht und die entsetzt eweiteten Augen, selbst die Gänsehaut nicht, die über seine Arme und seinen Rücken stürmte.

      Bleierne Sekunden schmolzen, bis er sich fing. Sein Blick jagte hastig durchs Zimmer.

      Er war allein!

      Entsetzt stellte er fest, dass die Spuren zwar an sein Bett führten, nicht aber zurück. Er entdeckte keine Abdrücke in die andere Richtung!

      Er ist noch hier … hier im Zimmer! Unter dem Bett?

      Wieder verspürte er den Druck auf seiner Blase.

      Das lenkte ihn ab.

      Er fasste sich an die Brust. Der brennende Schmerz strahlte aus dem großen Herzmuskel heraus und beförderte Teilsequenzen des Traums nach oben: Er war in einem Treppenhaus, rannte vor irgendetwas davon. Das Treppenhaus glich dem Eingangsportal dieses Gebäudes. Grüne Marmorwände und dunkle Stufen. Das Geländer und die Treppenabsätze waren aus Messing und von der hohen Decke hingen drei schnörkelige Messingleuchter herab.

      Er flog die Stufen hinauf, öffnete Türen und im nächsten Moment fand er sich in rotem, schleimigem Morast wieder. Schwer hallten dumpfe Stiefeltritte in seinen Ohren. Sie wurden lauter und lauter. Er schrie, stolperte, versank knietief im schleimigen Morast und raffte sich immer wieder auf.

      Seine Herzmuskeln pumpten gewaltige Blutwellen in die Hauptschlagadern. Er atmete flach. Nur merkwürdig, dass es in dem Traum schneite, obwohl es nicht kalt war.

      Ganz in der Nähe bellten Hunde.

      Im Treppenhaus verlor sich das Bellen in hässlichen Echos.

      Wieder stolperte er. Er schlingerte und versuchte vergebens, sich auf den Beinen zu halten.

      Die Schritte schlurften dicht an seine Ohren.

      Noch im Fallen drehte er sich. Er starrte direkt in die grauenhafteste Fratze und in die wohl eisigsten Augen, die er bis dahin jemals erfasst hatte. Der Fratze fehlte die rechte Gesichtshälfte. Die linke war bis auf die Knochen verbrannt. Blutdurchtränkte Hautfetzen hingen herab und das linke Auge drohte herauszufallen. Haare konnte Georgie nicht erkennen, da die Fratze eine breite Kopfbedeckung mit Schirm trug, auf der ein kleiner, blitzender Kopf glänzte … und er erkannte eine dunkle, grauschwarze Uniform und lange, blitzende Stiefel.

      Die Fratze sagte etwas, bevor sie zustach.

      Georgie drückte sich an die grüne Marmorwand, die Beine tief in dem schleimigen, roten Morast versunken.

      Er schwitzte.

      Er war nass bis auf die Haut.

      Er schrie. Er fuchtelte mit den Armen, schlug um sich. Es half nichts.

      „Du räudiger Hund! Endlich hab’ ich dich! Du bist … tot!“

      Dann stach die Fratze zu.

      „Aaaaaahhh!“

      Aus tiefster Kehle brach der Schrei aus ihm heraus und er riss die Augen weit auf. Schweißgebadet schreckte er hoch.

      In der Pausenhalle empfing ihn Totenstille.

      Instinktiv erfasste seine Taschenlampe die Tischtennisplatte und weiter rechts die schmalen Sitzbänke. Er machte einen unsicheren Schritt nach vorn und gleich darauf noch einen zur Seite.

      Unermüdlich pumpten beide Herzmuskel dicht unter seiner trockenen Kehle und hinter seinen Augen breiteten sich unzählige, rote Wellen aus. Den Schlüssel hielt er fest in der kleinen Hand, während er langsam die Tür heranzog und sie hinter sich schloss, aber nicht verriegelte. Reglos blieb er stehen und ließ den Lichtstrahl durch die Finsternis gleiten, bis er sich erneut von schlammigen Fußspuren anziehen ließ. Tatsächlich führten sie nur in eine Richtung und tatsächlich kamen sie von rechts – genau von da, wo ich hin muss!

      Schockartig sackte sein Kreislauf in die Beine, sein Kopf schien blutleer und doch setzte er sich in Bewegung, erreichte den nächsten Flurabschnitt, während die dumpfen Schlurfgeräusche der Fellpuschen seine Trommelfelle strapazierten. Im Augenwinkel registrierte er die Spinde.

      Dann stoppte ein Knacken das Schlurfgeräusch.

      Beschreibungen

      Die Clique der FÜNF

      Kapitel 4

      Nördlich vor den Toren Hamburgs befinden sich der Vorort Garstedt und die ruhige Siedlung,


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