Kettenwerk. Georgian J. Peters
die Arme aus.
Unüberhörbar war der Startschuss gefallen.
Georgie stürmte los. Kreischend flog er seiner Mutter entgegen. Mit Schwung hob sie ihn hoch und drehte sich mit ihm zum Fenster, gab ihm einen dicken Kuss auf die Stirn und sagte: „Guten Morgen, du süßer Fratz. Jetzt kannst du’s nicht mehr abwarten, ‚rauszukommen … Ja, ist das nicht herrlich da draußen?“
„Und soooo viel Schnee, guck’ doch!“ Georgies Stimme überschlug sich wieder.
So blieben sie eine Weile am Fenster stehen und spähten hinaus. Beide schienen diesen Moment zu genießen, bis er zu schwer wurde und sie ihn absetzte. Mit einem Klaps auf den Po kam der Satz: „Aber erst mal wird sich gestärkt. Und Georgie, ich mein’ gestärkt … Heute isst du deinen Teller auf, Schatz … und dann ziehst du dich ganz warm an.“ Sie lachte herzlich: „Na, dann komm’, du Held.“
Georgie kletterte hinauf auf seinen Stuhl, während sie mit dem Löffel das Müsli verrührte, dann gab sie ihm den Löffel und sagte in einem kräftigeren Tonfall: „Du ziehst deinen Anorak mit der Fellkapuze an und die blauen Stiefel.“ Sie setzte sich gegenüber an den Tisch, „eine lange Unterhose drunter…den dicken Pulli und die schwarzen Fausthandschuhe … ja, und deinen roten Wollschal.“
Wie ein Tiger zur täglichen Fütterung, fiel er über das Müsli her.
„So hastig brauchst du aber jetzt nicht zu schlingen“, lachte sie, „du hast Zeit genug.“
Sie war eine überaus attraktive Frau Mitte 30. Die gewellten, schwarzen Haare trug sie lang und offen. Ihr dunkler Teint brauchte kein Make-Up und die dunklen Augen funkelten aus einer geradezu fesselnden Tiefe, sodass man Hals über Kopf in ihnen zu versinken drohte.
Sie war mit den erforderlichen Attributen gesegnet, die eine Frau erst richtig zu einer gefährlichen Waffe machte.
Noch vor ein paar Jahren war sie am Theater und auf dem besten Wege, eine gute Schauspielerin zu werden, bis sie wieder schwanger wurde und Georgie auf dem Weg war.
Nach der Geburt kam das unsolide Theaterleben nicht mehr infrage. Schlagartig hatte sich die Verantwortung verdoppelt.
Bereut hatte sie die Entscheidung zu keiner Zeit.
Die Fellkapuze zog Georgie ganz tief ins Gesicht, da ihm eisiger Wind entgegenwehte und die Sicht beträchtlich einschränkte, zumal dicke Schneeflocken vor ihm hertrieben.
Sein Atem wollte vor seinen Lippen gefrieren, während die Sonne ihr Lachen hinter einer weißgetünchten Wolkendecke versteckte. Das signalisierte ihm eisesgleich, dass das Schneetreiben wohl noch lange anhalten würde. Mit einiger Mühe stellte er den Schlitten hochkant auf die oberste Stufe des Treppenportals, das insgesamt fünf Stufen zählte. Nur am Wochenende war das große Gittertor geschlossen, dann war das Werksgelände für Autofahrer gesperrt.
Wenn also niemand im Werk arbeitete, dann bestimmte er den Ablauf aller Geschehnisse auf seinem „Spielplatz“!
Das Werksgelände hatte die Größe von mehr als zehn Fußballfeldern und barg selbstverständlich ungeahnte Verstecke. Im hinteren Teil des Geländes standen dunkle Holzbaracken, die aber schon lange leer waren, jedoch vollgestopft mit den gruseligsten Unheimlichkeiten. Hochgewachsene und ausladende Bäume atmeten rundherum die Luft aus mahnenden Abschnitten der Zeitgeschichte.
Jahrzehnte vor dem Zweiten Weltkrieg … sogar noch lange vor dem Ersten Weltkrieg wurden sie wohl gepflanzt, während andere Bäume dem Plan für das Werksgelände wichen, damit riesige Werkshallen und unzählige Baracken wahllos in die Landschaft gebaut werden konnten, einzig und allein aus dem Grund, dass man bei einem möglichen Luftangriff das Werksgelände, die Arbeitslager und die Kasernen nicht ausmachen konnte. Sternenförmig krochen die Steinplattenwege einem zentralen Platz zu, wiederum gekreuzt durch querverlaufende Wege, ebenfalls kreisförmig angelegt und von riesigen, prachtvollen Bäumen umsäumt. Hochgewachsene Rotbuchen, verschiedenartige Nadelbäume, Eschen mit ihrem gefiederten Blattwerk, Birken und staksige Pappelbäume. Diese friedlich anmutende Flora sollte bewusst über schreckliche Geheimnisse hinwegtäuschen. An zentralen Punkten waren strategisch tiefe Löschwasserbassins angelegt, umzäunt von mannshohem Maschendraht und einer grasbewachsenen Böschung. Die Bassins waren in die Jahre gekommen. Sie wurden kaum oder gar nicht gepflegt, da sie nach Kriegsende einfach ausgedient hatten.
Mittlerweile von wuchernden Büschen umringt, verdeckte zudem wildes Geäst das trübe Wasser fast vollständig. Die Wassertiefe betrug exakt drei Meter. Das hatte Georgie im letzten Sommer mit seinem Vater herausgefunden. Sie befestigten einen kleinen Stein an einem langen Strick und tauchten ihn an verschiedenen Stellen ins Wasser, ließen ihn auf den Grund gleiten und markierten das andere Ende, wo es aus dem Wasser reichte. So loteten sie die Wassertiefe in allen Teichen aus. Auch erfuhr er Wissenswertes über die drei verbliebenen Bunker, die unterirdisch miteinander verbunden waren. Man nannte sie Bunker 1, Bunker 2 und Bunker 3, aber sie sahen vielmehr aus wie wurstähnliche Erdwälle, wie längsseits halbierte Bockwürste, die viel zu lange auf dem Grill gebrutzelt hatten. Auch sie waren in den letzten Jahrzehnten über und über von Gestrüpp und Unkraut befallen. Außerdem hatten sich ganze Heerscharen emsiger Maulwürfe in ihnen ausgetobt – mittlerweile waren sie nur noch drei unansehnliche Schandflecke, die man aber nicht so einfach aus der Landschaft entfernen konnte. An der einen Längsseite führte eine schmale Steintreppe hinab. Die Bunker waren Vorräume.
Den eigentlichen Bauch erreichte man über unterirdische Gänge.
Nach dem Krieg wurden zwei der Bunker gewerblich genutzt und die unterirdischen Gänge einfach zugemauert. In den zentralen Bunker zog eine Schokoladenfabrik ein, wo Georgie ab und an einen großen Klumpen Zartbitterschokolade abstaubte.
Gerade wollte er sich die dicken Fausthandschuhe überziehen, als er Kessie kommen sah. Robotergleich stapfte sein Freund heran und wahrhaftig hinterließ er die ersten Spuren im Schnee. Die rote Pudelmütze trug er tief über die Stirn gezogen und er hatte seine leuchtend roten Wollhandschuhe an. Beschwerlich zog er seinen Schlitten, doch als er Georgie erblickte, winkte er eifrig. Vorsichtig stieg Georgie die vereisten, aber schneebedeckten Stufen hinunter. Ohne eine Gegenwehr glitt sein Schlitten hinterher. Kein Wunder. Die Kufen waren frisch gewachst. „Das ist ein toller Schnee, was?“, rief er und schluckte, weil ihm eisiger Wind den Atem nahm.
„Ja toll!“, entgegnete Kessie glucksend. „Wollen wir zum Rodelberg?“
„Na klar“, Georgie stapfte zwei Schritte vor, um ein weiteres Mal zu testen, ob der Steinplattenweg unter der weißen Schicht vereist war. Dabei tauchte er bis über die Stiefel in trockenen Pulverschnee.
An den Bäumen gegenüber häuften sich meterhohe Verwehungen.
Als er die weißen Hügel entdeckte, zeigten seine Fausthandschuhe instinktiv dorthin. Erneut stolperte seine Stimme über den eisigen Wind und bevor er seinen Satz sagen konnte, musste er wieder mehrmals schlucken: „Guck’ mal, das ist toll, was?“, brachte er dann doch heraus, „und alles in einer Nacht!“
„Ja! Gestern war noch nichts da.“
„Das stimmt“, bedächtig stapfte Georgie zu einem der Bäume und testete dort den Schnee. Er fühlte sich fein und trocken an. Wie gekochter Reis. Dann blinzelte er die Straße entlang, vorbei an den Baumreihen. Nicht imstande, weit zu sehen, kämpfte sich sein Blick durch die gänsefedergroßen Schneeflocken, die über die Verwehungen wirbelten und nur noch mehr Schnee anhäuften. Wie eine riesige, weißgraue Käseglocke stülpte sich der Himmel über das Werksgelände … Wenn es noch weiter so schneien wird, überlegte Georgie, dann wird der Schnee ganz bestimmt lange liegen bleiben. Helle Freude packte ihn und sofort versuchte er, einen Schneeball zu formen, doch das gelang ihm nicht.
„Guck’ doch …“, quiekte er, „nicht mal ’nen Schneeball kann ich machen. So trocken ist der Schnee!“
„Ja, klar“, brachte Kessie heraus, wobei nebliger Dampf seinen Kopf umschloss, „das hab’ ich auch schon probiert!“
Die beiden stiefelten los und ohne gesonderte Aufforderung folgten ihre Schlitten. Der Weg führte entlang an einer flachen